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PARTEIEN/367: Brexit - Bündniskonsequenzen ... (SB)


Brexit - Bündniskonsequenzen ...


Erneut ist am 17. und 18. Oktober in Brüssel ein Brexit-Gipfel zu Ende gegangen, ohne eine Antwort auf die Frage zu liefern, wie der Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der EU, der für den 29. März 2019 geplant ist, aussehen soll. Nach der jüngsten Präsentation durch die britische Premierministerin Theresa May ließ am ersten Gipfelabend die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaite ihrem Frust, der sicherlich auch von ihren 26 Amtskollegen geteilt wird, wegen der Regierung in London freien Lauf, als sie vor Journalisten mit knappen Worten die Ursache für die Krise bei den Briten verortete: "Heute wissen wir nicht, was sie wollen. Sie wissen selbst nicht, was sie wollen. Das ist das Problem."

Hauptverantwortliche für die verfahrene Situation ist May. Als sie nach der Volksabstimmung vor zwei Jahren David Cameron als Regierungschef und Vorsitzenden der konservativen Partei ablöste, warf sich die frühere Innenministerin, die bis zum 23. Juni 2016 eigentlich für den Verbleib in der EU öffentlich eingetreten war, den Befürwortern eines "harten Brexits" an den Hals und erklärte bei zwei Grundsatzreden - eine in Lancaster House, die andere beim Parteitag der Tories -, daß sie beabsichtige, das Vereinigte Königreich nicht nur aus der EU, sondern zugleich aus dem Binnenmarkt und der Zollunion zu führen. Davon war im Vorfeld der Abstimmung niemals die Rede gewesen. Selbst im Wahlprogramm der Konservativen 2015 war vom britischen Einsatz zur Stärkung des Binnenmarkts die Rede.

Aus jener Wahl hatte May von Cameron eine knappe, aber absolute Mehrheit für die Konservativen von 330 der 650 Sitze im Unterhaus sozusagen geerbt. In der Hoffnung, eine größere Mehrheit für ihren radikalen Brexit-Kurs zu bekommen, rief May im März 2017 überraschend Neuwahlen aus. Zu jenem Zeitpunkt sahen für die Tories die Umfragen gut aus. Demoskopen sagten ihnen einen haushohen Sieg um die 400 Sitze voraus. Doch der Wahlkampf verlief katastrophal. May stolperte von einem Fettnäpfen ins andere. Ihre Unfähigkeit, auf einfache Menschen auf der Straße zuzugehen und "normal" zu wirken, schreckte ab. In Reaktion auf ihre hohlen Reden und einstudierten Antworten auf Journalistenfragen erfand der Guardian-Haussatiriker John Grace die Figur der "Maybot" - ein Spitzname, der der glücklosen Abgeordneten aus Maidenhead bis heute anhaftet. Als am 9. Juni das Wahlergebnis bekannt wurde, stand die riesige Blamage für May fest. Statt Camerons Mehrheit auszubauen, hatte sie sie verspielt. Die Konservativen verloren 13 Sitze, kamen auf 317 und mußten ein Zweckbündnis mit der protestantisch-reaktionären Democratic Unionist Party (DUP) aus Nordirland eingehen, um die Regierungsgewalt weiterhin ausüben zu können.

Die konservative Fraktion im Unterhaus, sogar Mays Kabinett, ist in der Brexit-Frage zutiefst gespalten. Die eine Gruppe, bestehend aus Remainers und Anhängern eines "sanften Brexits", befürworten den Status der Mitgliedschaft in der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) ähnlich Norwegen mit zollfreiem Zugang zum EU-Binnenmarkt. Die andere Gruppe indes, die "Brexiteers", will das Vereinigte Königreich vom europäischen Regelwerk "befreien" und mit Brüssel einen Freihandelsvertrag ähnlich demjenigen Kanadas aushandeln. Sie glauben, daß die EU-27 dermaßen stark an einer Fortsetzung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Großbritannien interessiert sind, daß sie britischen Waren und Dienstleistungen bevorzugten Zugang zum Binnenmarkt gewähren werden, ohne gleichzeitig die Einhaltung aller Regeln zu verlangen. Doch hier handelt es sich um einen Irrglauben, der sich aus dem notorischen Überlegenheitsgefühl des englischen Geldadels speist und sonst gar nichts.

Die Politiker der EU-27 haben recht schnell erkannt, daß die Brexiteers aus Großbritannien ein Billiglohnland mit Niedrigsteuern für Schwerreiche und niedrigen Standards in den Bereichen Arbeitsmarkt, Lebensmittel, Tier- und Umweltschutz machen wollen, um die Festlandeuropäer unterbieten zu können, und spielen deshalb nicht mit. Deswegen verlangen sie von der May-Regierung seit zwei Jahren vergeblich die Beantwortung der Frage, wie die britischen Behörden den bilateralen Handeln ordnungsgemäß zu regeln gedenken - nicht nur zwischen Dover und Calais, sondern vor allem an der inneririschen Grenze. Sowohl von seiten Londons als auch Brüssels wird mit dem Szenario des "No Deal", des Austritts ohne vertragliche Einigung, gedroht, was schwerwiegende wirtschaftliche Folgen für alle Noch-EU-Staaten, am meisten jedoch für Irland und das Vereinigte Königreich hätte.

May hat dem Wunsch der EU-27 auf eine Konkretisierung der britischen Austrittspläne bis heute nicht entsprechen können, weil sie unbedingt die Spaltung der eigenen Partei verhindern will. Fassungslos müssen Kontinentaleuropäer, die Menschen in Irland und Schottland - nördlich von Hadrians Mauer haben 2016 bekanntlich die Menschen mit Zweidrittelmehrheit gegen Brexit votiert - mitanschauen, wie die gesamte Zukunft der EU durch ein internes Ränkespiel der englischen Tories aufs Spiel gesetzt wird. Verstärkt wird dieser Tage die Position der Brexiteers durch die EU-feindliche DUP. Die Vertreter des nordirischen Protestantismus lehnen Sondermaßnahmen zur Verhinderung der Errichtung einer festen Grenze auf der grünen Insel als konstitutionelle Schwächung des Vereinigten Königreichs kategorisch ab und drohen May offen mit dem Entzug der Unterstützung ihrer zehn Abgeordneten im Unterhaus.

Angesichts dieser verfahrenen Situation und nach einem Treffen zwischen EU-Chefunterhändler Michel Barnier und Mays Brexit-Minister Dominic Raab am 14. Oktober hat Brüssel jenen Gipfel im November abgeblasen, bei dem der Vertrag über die künftigen Beziehungen von den Regierungschefs aller 28 Staat abgesegnet werden sollte, bevor er an die Nationalparlamente zwecks Ratifizierung weitergereicht werden sollte. Nichtsdestotrotz waren beim Treffen gestern und vorgestern alle Teilnehmer um gegenseitiges Verständnis bemüht. Angela Merkel, Emmanuel Macron und Leo Varadkar sind sich über die schwierige Position Mays im klaren, wollen diese nicht verschärfen, sehen aber nicht, wie sie groß helfen können.

Ihrerseits hat sich May immerhin am 18. Oktober darauf festgelegt, daß der bereits im vergangenen Dezember vereinbarte "Backstop" für Nordirland - Verbleib in Binnenmarkt und Zollunion - Bestand haben soll, bis eine technische Lösung für die Grenzproblematik gefunden worden ist. Darüber hinaus hat sie sich für eine Verlängerung der Übergangsfrist, in der das Vereinigte Königreich in der EU bleibt, ausgesprochen. Statt am 31. Dezember 2020 zu enden, soll die Frist weitere 12 Monate dauern, um mehr Zeit für die Regelung der hochkomplizierten Handelsfragen zu gewähren. Wegen der beiden Zugeständnisse machen die Brexiteers May nun die Hölle heiß. Ihr wird seitens Ex-Außenminister Boris Johnson und Ex-Brexit-Minister David Davis "Verrat am Volk" vorgeworfen. Bei den Tories werden die Messer für einen parteiinternen Putsch bereits gewetzt.

Im britischen Parlament weiß tatsächlich niemand so richtig, wie es weitergehen soll. Eine Mehrheit bei der regierenden Tories lehnt Mays Kompromißvorschlag einer "bevorzugten Partnerschaft" Großbritanniens mit der EU ab, und sogar die beiden größten Oppositionsfraktionen, Labour und die Scottish National Party (SNP), wollen nicht dafür stimmen. Selbst über den Abstimmungsmodus herrscht Streit. Während oppositionelle Abgeordnete verlangen, dem EU Withdrawal Bill Zusätze hinzufügen zu dürfen, will die Regierung eine drastische Entscheidung erzwingen - entweder für Mays Gesetzesentwurf, so mangelhaft er erscheinen mag, oder der "No Deal" tritt Ende kommenden Märzes mit allen katastrophalen Folgen ein. Wie London aus dieser Zwickmühle herauskommt, ist bestimmt längst Gegenstand irgendwelcher Hinterzimmerverhandlungen im britischen Parlament, deren Ergebnisse man in den kommenden Tagen erfahren wird.

19. Oktober 2018


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