Schattenblick → INFOPOOL → EUROPOOL → REDAKTION


PARTEIEN/347: Brexit-Streit vergiftet anglo-irische Beziehungen (SB)


Brexit-Streit vergiftet anglo-irische Beziehungen

Befreit sich Theresa May aus der Umklammerung der Brexiteers?


Am 4. Dezember trifft die britische Premierministerin Theresa May in Brüssel mit dem EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker zusammen. An dem Arbeitsessen nehmen auch der britische Brexit-Minister David Davis und der französische Diplomat Michel Barnier teil, der die EU-27 bei den Verhandlungen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union vertritt. Vom Ausgang der Beratungen zwischen May und Juncker hängt ab, ob Barnier beim EU-Gipfel am 14. Dezember den Regierungschefs der EU-27 die Aufnahme der zweiten Phase der Verhandlungen mit London empfiehlt oder nicht. Derzeit stehen die Chancen 50:50.

Was die drei Problemfelder betrifft, die Brüssel bereinigt haben will, bevor die eigentlichen Verhandlungen über die künftigen Handelsbeziehungen beginnen können, scheint eine für beide Seiten zufriedenstellende Einigung in der Frage der künftigen Rechte von EU-Bürgern in Großbritannien sowie von britischen Bürgern in der EU in Reichweite zu sein. Und auch über die Begleichung der finanziellen Verpflichtungen Londons gegenüber dem EU-Haushalt ist man sich nähergekommen. Am 20. November hat sich das May-Kabinett endlich durchgerungen, Brüssel statt wie bislang 30 Milliarden nun doch 60 Milliarden Euro anzubieten. Doch die Euroskeptiker unter den britischen Konservativen, angeführt von Außenminister Boris Johnson, Umweltminister Michael Gove, Handelsminister Liam Fox und Brexit-Minister Davis, machen die Zahlung dieser Summe davon abhängig, daß die EU-27 dem Wunsch Londons nach größtmöglicher Befreiung von allen europäischen Vorschriften bei weiterhin bevorzugtem Zugang zum EU-Binnenmarkt nachkommen. Da ist also noch Sprengstoff in den Verhandlungen.

An der dritten und letzten Baustelle, nämlich in der Frage der Handhabung der künftigen Grenze zwischen dem EU-Mitgliedsstaat Republik Irland und den von Großbritannien weiterhin besetzten sechs Grafschaften im Nordosten der grünen Insel, tobt bereits ein erbitterter Streit. Die letzten beiden Wochen haben eine derart rapide Abkühlung der Beziehungen zwischen Dublin auf der einen und London sowie der Führung der probritischen, protestantischen Democratic Unionist Party (DUP) in Belfast auf der anderen Seite mit sich gebracht, daß sogar ein Wiederaufflammen des nordirischen Bürgerkriegs nicht mehr unmöglich erscheint.

Das Problem ist der Kurs Mays in der EU-Politik. Als im Sommer 2016 die damalige Innenministerin nach der überraschenden Entscheidung einer knappen Mehrheit der britischen Wähler für den EU-Austritt David Cameron als Premierminister und Tory-Chef beerbte, legte sie sich darauf fest, daß der Brexit nicht nur die verstärkte Kontrolle der Einwanderung - damals das beherrschende Thema in der Öffentlichkeit -, sondern darüber hinaus auch den Rückzug aus Binnenmarkt und Zollunion bedeute. Für diese radikale Auslegung, den sogenannten harten Brexit, hatten die wenigsten Wähler gestimmt - trotzdem wird sie von May und den Brexiteers seit eineinhalb Jahren konsequent verfolgt. Gegen das Vorhaben läuft die irische Regierung Sturm, denn der harte Brexit führt zwangsläufig zur Einführung von Personen- und Warenkontrollen an der inneririschen Grenze, die seit der Beilegung der Troubles 1998 völlig unsichtbar geworden ist.

London behauptet, das Problem mit digitaler Technologie lösen zu können, doch daran glaubt niemand. Selbst in einem am 30. November veröffentlichten Bericht des Brexit-Komitees des britischen Unterhauses hieß es, die Vorschläge Londons zur Lösung der irischen Grenzproblematik blieben bisher "unerprobt und spekulativ". Während chauvinistische britische Politiker seit Tagen die Iren als feindlich, neidisch, unkooperativ und EU-hörig beschimpfen, scheinen London und Brüssel aufeinander zuzugehen. Einem Bericht der Times of London vom 1. Dezember zufolge sollen sich britische und europäische Ministerialbeamte darauf verständigt haben, daß auch nach dem EU-Austritt Großbritanniens die ordnungspolitische Konvergenz zwischen Nord- und Südirland erhalten bleibt, damit Grenzkontrollen nicht erforderlich werden. Doch weil dieses Szenario eine Lockerung der Beziehungen zwischen Nordirland und dem restlichen Vereinigten Königreich mit sich bringen könnte, droht nun die DUP, deren zehn Abgeordnetenstimmen in Westminster die britische Minderheitsregierung im Amt halten, damit, May das Vertrauen zu entziehen. Also steht Großbritannien wegen des anhaltenden innenpolitischen Streits um den Brexit und dessen endgültige Form eine regelrechte Regierungskrise bevor.

In dieser vertrackten Situation hat am 2. Dezember Nicola Sturgeon, Vorsitzende der Scottish National Party (SNP) und Chefin der Autonomieregierung in Edinburgh, in einem Gastbeitrag für die Londoner Zeitung Guardian einen hilfreichen Vorschlag gemacht. Unter Verweis auf die Tatsache, daß eine Mehrheit der Menschen in Schottland und Nordirland gegen den Brexit gestimmt haben und laut Umfragen weiterhin dagegen sind, regte Sturgeon an, deren SNP im britischen Unterhaus nach der Labour Party um Jeremy Corbyn die zweitstärkste Oppositionsfraktion stellt, May solle mit Juncker eine Übergangsfrist von mindestens zwei Jahren nach dem offiziellen Austrittsdatum am 29. März 2019 beschließen. Innerhalb dieser Zeit könnte man die schwierigen Fragen der künftigen Beziehungen mit mehr Ruhe und Vernunft und dafür weniger Megaphondiplomatie bearbeiten, so Sturgeon.

Die angesehene, weil schlagkräftige und zugleich stets überlegt handelnde SNP-Chefin sprach sich dafür aus, daß mindestens während dieser Zeit und eventuell auch darüber hinaus das Vereinigte Königreich im EU-Binnenmarkt und in der europäischen Zollunion bleiben sollte. Dies wäre für die britische Wirtschaft insgesamt gut, dadurch erübrige sich zugleich die Grenzfrage in Irland, und das Karfreitagsabkommen von 1998 wäre gerettet, so Sturgeon. Um diese Option zu verwirklichen, forderte sie May dazu auf, den Brexiteers im Kabinett sowie unter den konservativen Hinterbänklern endlich die Stirn zu bieten und Nationalinteressen vor Parteiinteressen zu stellen. Doch für diese Herkules-Aufgabe scheint May der Kampfeswille zu fehlen. Zudem ist sie nach dem Verlust der parlamentarischen Mehrheit bei den von ihr vorgezogenen Unterhauswahlen im vergangenen Juni politisch viel zu schwach.

2. Dezember 2017


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang