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PARTEIEN/329: Britische Tories verlieren Parlamentsmehrheit (SB)


Britische Tories verlieren Parlamentsmehrheit

Premierministerin May muß Koalition mit der nordirischen DUP bilden


Die britische Premierministerin Theresa May ist mit ihrem ehrgeizigen Vorhaben, mittels vorgezogener Neuwahlen die absolute Mehrheit, die ihr Vorgänger David Cameron 2015 für die Konservativen eingefahren hat, von rund einem Dutzend auf etwa 100 Sitze zu erhöhen und die Zerstrittenheit der oppositionellen Labour Party zu nutzen, um diese mittelfristig in die Bedeutungslosigkeit zu verbannen, kläglich gescheitert. Als May am 18. April völlig unerwartet den Urnengang angekündigt hatte, lagen die Tories in den Umfragen ganze 24 Prozentpunkte vor den Sozialdemokraten. Für die Konservativen schien der erdrutschartige Sieg zum Greifen nahe. Sieben Wochen später sieht die politische Lage im Vereinigten Königreich ganz anders aus. Die Tories haben ihre Parlamentsmehrheit verspielt. Um weiter an der Macht zu bleiben, müssen sie eine Koalition mit der protestantisch-probritischen Democratic Unionist Party (DUP) aus Nordirland bilden.

Der große Gewinner der Unterhauswahl 2017 ist Labour-Chef Jeremy Corbyn. Seit die Galionsfigur der pazifistischen Linken Großbritanniens vor zwei Jahren zum Vorsitzenden der Sozialdemokraten gewählt wurde, intrigieren die sogenannten Modernisten in der eigenen Fraktion, angefeuert von Ex-Premierminister Tony Blair und Ex-Wirtschaftsminister Peter Mandelson, gegen Corbyn, angeblich weil sein Dauereintritt für soziale Gerechtigkeit überholt sei. Allen Unkenrufen zum Trotz hat Corbyn jedoch mit seinen Plänen wie zum Beispiel zur Wiederverstaatlichung des Bahnwesens und der Wasserversorgung sowie zur Streichung von Studiengebühren die Massen, vor allem die Jugend, begeistert.

Bürger unter 25 Jahren haben sich im weitaus größeren Ausmaß als bisher an der Wahl beteiligt, zu Zweidrittel für Labour gestimmt und damit Corbyn und seinem engsten Berater, Schatten-Finanzminister John McDonnell, statt der erwarteten Niederlage ein beachtliches Ergebnis beschert. Von den 650 Sitzen im Unterhaus hat Labour 261 - 29 mehr als vor zwei Jahren - gewonnen. Damit hat Corbyn den Beweis erbracht, daß eine linke Politik in Großbritannien durchaus möglich ist. Seine Position als Parteivorsitzender ist zum erstenmal sicher. Im Namen der Anti-Corbyn-Mehrheit innerhalb der Labour-Fraktion im Parlament hat Vizeparteivorsitzender Tom Watson in der Wahlnacht seinem Parteichef gratuliert und eingestanden, daß dessen Gespür für die Bedürfnisse des britischen Volks tatsächlich das Richtigere gewesen sei. Von Blair und Mandelson war in der Wahlnacht weder im Radio noch im Fernsehen etwas zu vernehmen. Die Ära von "New Labour" ist somit vorbei.

Corbyn hat natürlich von dem katastrophalen Wahlkampf profitiert, den Premierministerin May in den vergangenen fast zwei Monaten geführt hat. Die Pfarrerstochter erschien fast immer nur bei sorgfältig vorbereiteten Auftritten vor Parteianhängern. Die wenige Male, bei denen sich die Premierministerin auf öffentlichen Plätzen gezeigt hat, wurde die Unlust der Technokratin mit dem Millionärsgatten, auf die einfachen Bürger zuzugehen und sich ihre Nöte anzuhören, deutlich. Bei Fernsehinterviews wirkte sie hölzern, und ihre Dauerbotschaft, sie sei die einzige, die Großbritannien "stark und stabil" durch die Unwägbarkeiten der kommenden Verhandlungen über den Austritt aus der Europäischen Union - Stichwort Brexit - führen könne, unglaubwürdig. Der Vorschlag der Konservativen im Wahlkampf zur finanziellen Beteiligung der Bürger an den Kosten der Altenpflege hat viele Wähler verschreckt und war ein kapitaler Fehler.

Mit ihren "Law-and-Order"-Parolen konnten May und die Tories auch kein Nutzen aus den blutigen Anschlägen - ein Bombenangriff auf ein Musikkonzert am 22. Mai in Manchester und eine Messerattacke am 3. Juni in London -, welche die Schlußphase des Wahlkampfs überschatteten, ziehen. Das Gegenteil ist der Fall. In den Medien, besonders bei den sozialen Netzwerken Facebook und Twitter, wurde die Verantwortung Mays, die von 2009 bis 2016 Innenministerin war, für die perfide Zusammenarbeit zwischen den britischen Geheimdiensten mit radikalen Islamisten, insbesondere aus Libyen, groß thematisiert. Der Versuch der rechten Boulevardblätter wie The Sun und The Daily Mail, May vor dem Vorwurf, sie verhätschele aus wirtschaftlichen Gründen Saudi-Arabien, den Hauptförderer des radikal-sunnitischen Dschihadismus, zu schützen, indem sie auf Corbyns frühere Bemühungen um eine Beilegung des Nordirland-Konflikts durch Kontakte zu Sinn Féin, damals der politische Arm der verbotenen Irisch-Republikanischen Armee (IRA), hinwiesen, hat überhaupt nicht gefruchtet.

May und die Tories haben 318 Sitze - 12 weniger als in der letzten Legislaturperiode - erhalten. Es ist schon eine Ironie der Geschichte, daß die Konservativen, um weiter regieren zu können, einen Deal mit der DUP eingegangen sind, die sich ihrerseits im Wahlkampf offen von den ehemaligen loyalistischen Paramilitärs von der Ulster Defence Association (UDA) und der Ulster Volunteer Force (UVF) helfen ließen. Mittels deren Unterstützung hat die DUP 10 der 18 nordirischen Sitze gewonnen und sich der Konkurrenz seitens der Ulster Unionist Party (UUP) entledigt. Die Ulster Unionisten haben ihre beiden bisherigen Sitze an die DUP verloren. Auf katholisch-nationalistischer Seite war derselbe Trend zu beobachten. Sinn Féin hat auf Kosten der Social Democratic Labour Party (SDLP) die Zahl ihrer Sitze von vier auf sieben erhöht. Ähnlich der UUP wird die SDLP zum ersten Mal seit Jahrzehnten keinen einzigen Vertreter nach Westminster schicken. Sinn Féin hat alle nordirischen Wahlbezirke, die an die Republik Irland angrenzen, in der Hand. Die DUP kontrolliert die kleinere, aber bevölkerungsreichere Region im Nordosten um Belfast herum.

Es stellt sich nun die Frage, wie sich das Wahlergebnis auf die kommenden Verhandlungen Londons mit Brüssel in der Brexit-Frage auswirken wird. Alle Beobachter und Medienkommentatoren sind sich einig, daß May vom Wähler kein Mandat für einen harten Brexit erhalten hat. Die Mehrheit des Volks und auch der Unterhausabgeordneten will offenbar einen Verbleib Großbritanniens im EU-Binnenmarkt und der europäischen Zollunion. Da dies den Europhoben bei den Tories bekanntlich nicht genügt, wird es vermutlich relativ bald zum Austausch des Parteivorsitzenden kommen. Ob der Personalwechsel an der Parteispitze gesittet abläuft oder es einer Nacht der langen Messer gegen die politisch angeschlagene May bedarf, muß sich noch zeigen. Als voraussichtlicher Nachfolger als Tory-Chef wird Außenminister Boris Johnson bereits gehandelt. Der ehemalige Journalist ist zwar ein Tollpatsch und ein unverbesserlicher Opportunist, doch im Vergleich zu der roboterhaften May ist er immerhin umgänglich und kommt in den Medien stets gut rüber.

Auch wenn die Democratic Unionists letztes Jahr erfolgreich Stimmung für den Brexit gemacht haben, dürfte DUP-Chefin Arlene Foster klar sein, daß diese Position in Nordirland nicht mehrheitsfähig ist. Wegen des wirtschaftlichen Zwangs, keine neue feste Grenze zur Republik entstehen zu lassen, dürfte die DUP auf einen sanften Brexit drängen, was natürlich den innerparteilichen Zwist bei den Tories verstärken wird. Das Vereinigte Königreich steuert also weiterhin unruhige Zeiten entgegen. Nur die Frage nach einem zweiten Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands ist erst einmal vom Tisch. Dafür haben die herben Verluste, welche die in Edinburgh regierende Scottish National Party (SNP) um Nicola Sturgeon erlitten hat - ihre Fraktion im Londoner Unterhaus ist von 56 auf 35 Sitze geschrumpft - gesorgt.

9. Juni 2017


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