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PARTEIEN/328: Wiederwahl der britischen Tories gerät in Gefahr (SB)


Wiederwahl der britischen Tories gerät in Gefahr

Theresa May droht ein Debakel bei der Unterhauswahl am 8. Juni


Als die britische Premierministerin Theresa May am 18. April völlig überraschend vorzeitige Neuwahlen zum britischen Unterhaus für den 8. Juni ankündigte, wurde dies von den meisten politischen Kommentatoren als genialer Schachzug gelobt. Zu jenem Zeitpunkt lagen Mays Konservativen seit Monaten in allen Umfragen mehr als 20 Prozentpunkte vor der oppositionellen Labour Party. Die Logik von Mays Kalkül, mittels Neuwahlen die Mehrheit der Tories im 650sitzigen Unterhaus von derzeit nur 18 auf mehr als 100 zu erhöhen und den schwächelnden, zerstrittenen Sozialdemokraten eine vernichtende Niederlage beizubringen, schien zwingend. Nur wenige Beobachter haben damals auf die Gefahr hingewiesen, die ein so langer Wahlkampf von mehr als sieben Wochen mit sich bringt. Und tatsächlich sollten die Skeptiker Recht behalten. Eine Woche vor dem Urnengang ist der Vorsprung der Tories dahin. Labour hat mächtig aufgeholt. In manchen Umfragen wird sogar prognostiziert, die Konservativen könnten hinter dem Ergebnis von 2015 - damals unter der Führung von David Cameron - zurückfallen und ihre alleinige Mehrheit verlieren. Sollte dies eintreten, wären die Tage Mays als Regierungschefin Großbritanniens gezählt.

Mehrere innen- und außenpolitische Faktoren sind es, die den einst sicher geglaubten Sieg der Tories zu einer Fata Morgana zu machen drohen. Als am 4. Mai in weiten Teilen von England und Wales Kommunalwahlen stattfanden, ließ das Ergebnis die Konservativen Hoffnung schöpfen. Durch Mays resolute Haltung in der Frage des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union (EU) konnten die Tories der rechtsnationalistischen United Kingdom Independence Party (UKIP) alle Sitze bis auf einen in den Kommunalräten und Rathäuser abnehmen. Die Tories haben in der Wählergunst acht Prozentpunkte hinzugewonnen, während die Sozialdemokraten vier verloren und die Liberaldemokraten, die sogenannten LibDems, drei mehr als zuletzt bekamen. Auf die bevorstehende Unterhauswahl umgerechnet, deutete das Wählerverhalten auf einen erdrutschartigen Sieg der Tories im Juni hin. Doch seitdem haben sich die Dinge für May und die Tories eindeutig zum Schlechteren entwickelt.

Am 7. Mai gewann der liberale EU-Befürworter Emmanuel Macron in Frankreich die Präsidentenwahl haushoch gegen die nationalchauvinistische Euroskeptikerin Marine Le Pen von der Front National. Eine Woche später haben Angela Merkels Christdemokraten die Macht im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen zurückerobert. Beide Ergebnisse stärken die supranationalen Kräfte auf dem europäischen Festland. Nach den Siegen der CDU bei Landtagswahlen in Saarland, Schleswig-Holstein und zuletzt Nordrhein-Westfalen steht nach der Bundestagswahl am 24. September einer Fortsetzung der Ära Merkel nichts mehr im Weg. Allen vergeblichen Protesten des SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz zum Trotz ist die Bundestagswahl 2017 bereits jetzt gelaufen. Damit bleibt Großbritannien mit seinem Anti-EU-Kurs völlig isoliert. Die Hoffnung der englischen Brexiteers, die EU erweise sich zunehmend als Auslaufmodell, sie stünden auf der richtigen Seite der Geschichte, geht - vorerst jedenfalls - nicht auf.

Allmählich erweisen sich die Träume der Little Englanders vom "Empire 2.0" als Trugschluß. Die Vorstellung, Großbritannien könnte zum Ausgleich für den Wegfall des Handels mit der EU die wirtschaftlichen Beziehungen zu den ehemaligen britischen Kolonien ausbauen, zerplatzt geradezu an der Realität. Indien und Kanada zeigen sich vielmehr an einer Zusammenarbeit mit der EU als mit dem alten "Mutterland" interessiert. Sogar die "special relationship" Großbritanniens zu den USA, auf die May so sehr gesetzt hatte, stellt sich gerade in der diplomatischen Krise Londons als wenig verläßlich dar. Der neue US-Präsident Donald Trump nimmt bei seinen Bemühen, Amerika wieder "great" zu machen, nicht die geringste Rücksicht auf die Briten und deren Befindlichkeiten. Dies wurde besonders deutlich, als wenige Tage nach dem Bombenanschlag in Manchester am 22. Mai hochbrisante Interna aus den polizeilichen Ermittlungen gegen den Selbstmordattentäter Salman Abedi auf der Titelseite der New York Times erschienen und sich London zu einer vorübergehenden Einstellung der geheimdienstlichen Zusammenarbeit mit Washington gezwungen sah.

Von dem blutigen Anschlag, der 22 Menschen das Leben kostete, konnten die Tories, die sich von je her als Law-and-Order-Partei präsentieren, auch nicht profitieren. Das Gegenteil ist der Fall. In der Öffentlichkeit wurden schwere Vorwürfe erhoben, die britischen Behörden hätten Abedi und andere namhafte radikale Islamisten aus Libyen jahrelang unterstützt, um Muammar Gaddhafi 2011 erfolgreich stürzen zu können, und sie danach auch noch weiter gewähren lassen. Für den Umstand, daß heute in Libyen Chaos herrscht und Großbritannien dadurch zum Anschlagsziel der "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) geworden ist, wurden vor allem Cameron und May, die von 2010 bis 2016 Innenministerin war, verantwortlich gemacht. Der Versuch der Konservativen, die Kritik an May durch Angriffe auf die Person von Labour-Chef Jeremy Corbyn - dieser sei ein "Terror-Helfer", weil er frühzeitig für Gespräche mit der IRA-nahen Sinn-Féin-Partei eingetreten war - zu forcieren, wirkte in diesem Zusammenhang hilflos.

Insgesamt läßt die Wahlkampfstrategie der Tories an Effektivität missen. Die Stilisierung Corbyns zum tatterigen Sozialistenopa, der Großbritannien in die siebziger Jahre zurückführen wolle, verfängt bei den Millionen von Menschen nicht, die unter Sozialkürzungen leiden oder immer mehr für immer weniger Geld arbeiten müssen. Zu den Wahlauftritten Corbyns kommen täglich die Menschen zu Tausenden. Das Wahlkampfprogramm der Sozialdemokraten, darunter Renationalisierung der Bahn, der Wasserbetriebe und der Post, eine stärkere Reglementierung des Billig-Lohn-Sektors, Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, Abschaffung von Studiengebühren, der Bau Zehntausender neuer Sozialwohnungen u. v. m. - kommt gut an. Der schlechte Zustand der britischen Wirtschaft, die Pläne der Tories zur Privatisierung des staatlichen Gesundheitssystems und zur künftigen Deckung der Pflegekosten durch die Betroffenen und ihre Familien selbst - die sogenannte "dementia tax" - verschrecken dagegen potentielle Wähler.

Mays Auftritte als Wahlkämpferin sind bisher auch ziemlich desaströs gewesen. Die Pfarrerstochter geht nicht auf die Menschen zu, wirkt distanziert und verlegen und wiederholt seit Wochen bei Reden und Interviews die selben Floskeln - "stark und stabil". Im direkten Vergleich macht der umgängliche, bodenständige Corbyn den freundlicheren, verläßlicheren Eindruck, während May den Charm einer Roboterin versprüht, deren Programmierung spontane Regungen nicht vorsieht. Während die großen Boulevardblätter, die Daily Mail von Paul Dacre und Rupert Murdochs The Sun, weiterhin unerbittlich Werbung für May und die Tories machen, gehen Teile des Kommentariats zu ihnen auf Distanz. In einem Leitartikel beim Evening Standard hat vor wenigen Tagen dessen Chefredakteur, Ex-Finanzminister George Osborne, die unnachgiebige Diplomatie Mays im Umgang mit den Noch-EU-Partnern als "katastrophal" bezeichnet, während BBC-Moderatorlegende David Dimbleby die einseitige Berichterstattung zu Ungunsten Corbyns öffentlich kritisierte. Am 2. Juni hat die Financial Times eine Liste von Fällen veröffentlicht, in denen May politisch anders gehandelt als sie vorher versprochen hatte. Gleichzeitig hat ein Musikstück Platz eins der britischen Charts erobert, in dem May als Lügnerin - "Liar! Liar!" - angeprangert wird. Das dazu passende Video ist bereits millionenfach bei YouTube aufgerufen worden. Es sieht nicht aus, als würden May und die Konservativen in den verbliebenen fünf Tagen bis zur Unterhauswahl den für sie negativen Trend in sein Gegenteil umkehren können. Man darf gespannt sein, wie das Endergebnis aussieht.

2. Mai 2017


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