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PARTEIEN/315: Kann Tony Blair den Brexit doch noch verhindern? (SB)


Kann Tony Blair den Brexit doch noch verhindern?

Großbritanniens Ex-Premierminister sammelt die Pro-Europäer um sich


Fünf Monate nach dem Votum der britischen Bürger für den Austritt aus der Europäischen Union (EU) ist noch kein Ende des Durcheinanders in Großbritannien in Sachen Brexit in Sicht. Der Streit innerhalb der regierenden konservativen Partei über einen "sanften" oder einen "harten" Brexit - die erste Variante hält den Zugang zum EU-Binnenmarkt aufrecht, die zweite nicht - findet kein Ende. Der Plan von Premierministerin Theresa May, Ende März die Brexit-Verhandlungen mit den restlichen 27 EU-Staaten durch die Aktivierung von Artikel 50 des Lissaboner Vertrags aufzunehmen, hat eine Verfassungskrise ausgelöst und ist Gegenstand eines hochkomplizierten Rechtsstreits, an dem sich inzwischen die Autonomieregierungen von Schottland und Wales als Klägerinnen beteiligen. Während angesichts der sich abzeichnenden negativen wirtschaftlichen Folgen laut Umfragen eine gewisse Ernüchterung bei denjenigen, die am 23. Juni für den Brexit votiert haben, breitmacht, nimmt das Vorhaben von Tony Blair, den EU-Austritt doch noch zu verhindern, immer konkretere Formen an.

Tory-Chefin May, die seit dem plötzlichen Rücktritt ihres Vorgängers David Cameron am 24. Juni bei jeder Gelegenheit Zuversicht bei der Durchführung des Brexits auszustrahlen versucht, sah sich ziemlich bloßgestellt, als am 15. November die Times of London den Inhalt einer wenig schmeichelhafte Expertise der Unternehmungsberatung Deloitte zum Stand der Vorbereitungen der britischen Regierung für die kommenden Verhandlungen mit der EU veröffentlichte. Demnach sei die Bürokratie auf der Insel mit der Mammutaufgabe überfordert. Die verschiedenen Ministerien im Londoner Regierungsviertel Whitehall seien mit 500 Einzelbereichen, die neu ausgehandelt werden müssen, befaßt und könnten das gar nicht leisten. Erforderlich sei die Neueinstellung von 30.000 Beamten, allen voran von Fachleuten für Handelsrecht, so Deloitte.

Wie man weiß, wird May von der britischen Unternehmerschaft und den Banken der Londoner City regelrecht bekniet, den Zugang des Vereinigten Königreichs zum EU-Binnenmarkt zu retten, selbst wenn der Preis dafür Zugeständnisse im Bereich der Einwanderung von Festlandseuropäern seien. Dem harten Kern der Brexiteers geht hingegen die Eindämmung der Migration über alles. Von daher war es ein gezielter Angriff auf den Versuch Mays, die eigenen Verhandlungsoptionen so offen wie möglich zu halten, als Außenminister Boris Johnson Mitte November bei einem Besuch in Tschechien gegenüber Reportern erklärte, er gehe vom "harten" Brexit, vom Ausschluß Großbritanniens aus dem EU-Binnenmarkt, aus. Die Nachricht vom jüngsten "Alleingang" des notorischen Sprücheklopfers Johnson hat an der Londoner Börse die Aussichten für die britische Wirtschaft noch weiter getrübt.

Die Brexiteers sehen sich ihrerseits durch den Sieg Donald Trumps bei der US-Präsidentenwahl am 8. November bestärkt. Der New Yorker Baumagnat, der Nigel Farage, den Anführer der United Kingdom Independence Party (UKIP), zu seinen engsten ausländischen Politverbündeten zählt, setzt auf ökonomischen Nationalismus und weniger auf den grenzüberschreitenden Handel. Johnson, Farage et al gehen davon aus, daß sich die Lage auf dem Festland zu ihren Gunsten verschiebt und sich auch in den anderen europäischen Staaten die Gegner einer zunehmenden Vereinheitlichung der EU durchsetzen werden, was Londons Verhandlungsposition gegenüber Brüssel verbessern würde. Damit könnten sie recht haben, denn nach dem Brexit-Votum und dem Wahlsieg Trumps stehen die Chancen gut, daß in Frankreich Marine Le Pen von der rechtspopulistischen Front National die Präsidentenwahl im kommenden Mai gewinnt. Sollte Le Pen tatsächlich in den Élysée Palast einziehen, will sie Frankreich aus der Währungsunion herausführen, also den Franc anstelle des Euros wiedereinführen, und eine Volksbefragung über die weitere Mitgliedschaft ihres Landes in der EU abhalten.

Während sich bei den anderen 27 EU-Staaten die Brüssel-Gegner im Aufwind sehen, formieren sich die britischen Pro-Europäer neu und zwar unter der Führung des früheren Premierministers Tony Blair. Das sozialdemokratische Ausnahmetalent, das sein Land von 1997 bis 2007 zehn Jahre lang regiert hat, steht einer Initiative zur Durchführung einer zweiten Volksabstimmung über die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens vor. Das Projekt, das von weiten Teilen der Industrie und Banken unterstützt wird, soll bereits Spenden für eine entsprechende Kampagne in Höhe von einer Million Pfund erhalten haben. Über das künftige Vorgehen soll Blair inzwischen entsprechende Strategiegespräche mit Richard Branson, dem Gründer des Virgin-Konzerns, dem früheren konservativen Finanzminister George Osborne und dem früheren Vorsitzenden der Liberal-Demokratischen Partei, Nick Clegg, geführt haben.

Die Gruppe um Blair geht davon aus, daß die Klage gegen den Plan von May, Artikel 50 allein von der Regierung auslösen zu lassen, auch vor dem Berufungsgericht Bestand haben wird und deshalb das Parlament über die Position Großbritanniens in der Brexit-Frage entscheiden muß. Die Gerichtsverhandlung in dieser Angelegenheit ist auf Anfang Dezember terminiert. Mit einem Urteil wird erst Mitte Januar gerechnet. Dadurch ist bereits jetzt absehbar, daß es keinen schnellen Brexit geben wird. Auch wenn es im Parlament keine Mehrheit dafür gibt, daß sich die Abgeordneten über den Ausgang der Volksbefragung vom vergangenen Juni hinwegsetzen, wollen sich Blair und seine Mitstreiter doch dafür stark machen, daß die Wähler erneut zu den künftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU, spätestens über das Ergebnis der zu erwartenden Verhandlungen, die mindestens zwei Jahre dauern sollen, befragt werden. Wenn es endlich soweit ist, könnte die für viele Briten abschreckende Entwicklung der EU in Richtung eines europäischen Bundesstaat bereits zum Erliegen gekommen sein. Das wiederum könnte ihr Interesse an einer Fortsetzung der bisherigen wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit den europäischen Nachbarstaaten neu beleben.

26. November 2016


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