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PARTEIEN/308: Brexit eingetroffen - politische Krise bricht aus (SB)


Brexit eingetroffen - politische Krise bricht aus

Turbulenz an den Börsen - Premierminister David Cameron tritt zurück


Entgegen allen Erwartungen, die von den Demoskopen und den Befürwortern eines Verbleibs Großbritanniens und Nordirlands in der Europäischen Union geweckt worden waren, haben sich am 23. Juni die Wähler des Vereinigten Königreichs mit 52 zu 48 Prozent bei einer Beteiligung von rekordverdächtigen 72,2 Prozent doch noch für den Austritt, den sogenannten Brexit, entschieden. Als kurz nach der Schließung der Wahllokale um 22 Uhr britischer Zeit das Ergebnis in den ersten vier Bezirken, in denen das Remain-Lager gewonnen hatte, bekanntgegeben wurde, stiegen weltweit die Aktienkurse sowie der britische Pfund gegenüber Euro und Dollar. Es schien, als sei der euroskeptische Spuk vorbei und Großbritanniens Platz in der EU endlich gesichert. Gegen 1.30 Uhr jedoch schlug der Ausgang des Referendums in Sunderland wie die sprichwörtliche Bombe ein. In der traditionellen Arbeiterstadt im Nordosten Englands hatten die EU-Gegner wie 61 zu 39 Prozent haushoch gewonnen. Sollte sich dieser Trend in allen 382 Wahlbezirken durchsetzen - was auch geschah -, wäre das Ende der britischen EU-Mitgliedschaft eingeleitet. Sofort gingen international die Börsen in die Knie. Der Pfund Sterling stürzte ab. Seitdem überschlagen sich die Ereignisse.

Gegen 6.30 Uhr hat die Regierung in London die Niederlage formell anerkannt. Um die Märkten zu beruhigen, kündigte am frühen Morgen Mark Carney, der aus Kanada stammende Chef der Bank of England, Finanzhilfe für die britischen Banken und die landeseigene Währung in Höhe von 250 Milliarden Pfund an. Kurz nach neun trat Premierminister David Cameron, der 2013, um den Dauerstreit in der EU-Frage innerhalb seiner konservativen Partei beizulegen, dem Volk die Abstimmung versprochen hatte, in der Downing Street vor die Presse und kündigte seinen Rücktritt an. Bis zum Parteitag im Oktober sollen die Tories einen neuen Vorsitzenden und Regierungschef wählen, der die Austrittsverhandlungen mit der EU führt, so der sichtlich niedergeschlagene Cameron. Als dessen voraussichtlichster Nachfolger wird der ehemalige Bürgermeister von London, Boris Johnson, gehandelt, der neben Nigel Farage von der reaktionären United Kingdom Independence Party (UKIP) die Leave-Kampagne mit angeführt hatte.

Von Anfang an haben die liberalen Medien in Großbritannien - ebenso die internationalen - die EU-Skeptiker als chauvinistische "Little Englander" abgetan. Auch wenn die unkontrollierte Einwanderung aus Osteuropa und die Flüchtlingsproblematik bei der Brexit-Debatte eine wichtige Rolle gespielt haben, ist der Ausgang der Volksbefragung weniger ein Sieg der Xenophoben, als vielmehr ein gewaltiger Akt des Protests weiter Teile der britischen Bevölkerung, die seit dreißig Jahren unter dem Marktradikalismus Margaret Thatchers, John Majors, Tony Blairs, Gordon Browns und David Camerons zu leiden haben. Er richtet sich gegen Bevormundung und Demütigung durch die politische und wirtschaftliche Elite des Landes. Praktisch die einzige Region in England, in der die EU-Befürworter einen Erfolg verbuchen konnten, war die Hauptstadt London, die als Finanzdienstleistungszentrum seit Jahrzehnten, und zwar zum Nachteil des restlichen Landes, von den Conservatives und der sozialdemokratischen Labour Party gleichermaßen gehätschelt wird. Im restlichen England und in Wales, besonders in den Regionen, wo die früheren Schwerindustrien wie Schiffbau, Kohle und Stahl wegbrachen und nicht entsprechend ersetzt wurden, haben die Wähler massenweise für den EU-Austritt gestimmt. In England machten die Austrittsbefürworter mit 53 zu 47 Prozent und in Wales mit 52,5 zu 47,5 das Rennen.

Er waren hauptsächlich die Menschen der unteren Hälfte der Einkommensskala - das sogenannte Prekariat -, die gegen den Verbleib in der EU gestimmt haben. Der Protest richtete sich gegen "die da oben" in London und Brüssel gleichermaßen. Wegen des Erfolgs der Brexiteers in den sozialdemokratischen Hochburgen - bestes Beispiel Sunderland - setzt nun innerhalb der Labour-Fraktion die Opposition gegen Parteichef Jeremy Corbyn zum Putsch an. Im Interview am Morgen mit der heutigen Today Show des Radiosenders BBC 4 lastete der ehemalige EU-Handelskommissar Peter Mandelson, einst Minister und enger Vertrauter Tony Blairs, das Votum für den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union Corbyn quasi allein an, weil der Oppositionsführer die eigene Labour-Parteibasis nicht stark genug für den Verbleib mobilisiert hätte. Für die durchsichtige Attacke des Meisterintriganten Mandelson gibt es eine einfache Erklärung: Die Blairisten wollen Corbyn absägen aus Angst, er könnte mit seinem linken Programm - Umverteilung nach unten, Abschaffung der britischen Atomwaffen u. a. - bei der nächsten Unterhauswahl, die angesichts des aktuellen politischen Erdbebens weit früher als erwartet anstehen könnte, gewinnen und somit eine Abkehr vom bisherigen neoliberalen Wirtschaftskurs Großbritanniens einleiten.

In Schottland, wo die Menschen mit eindeutigen 62 zu 38 Prozent gegen den EU-Austritt votiert haben, ist der Drang Richtung Unabhängigkeit wieder erwacht. In einer ersten Stellungnahme zum Ausgang der Brexit-Debatte hat Nicola Sturgeon, Vorsitzende der Scottish National Party (SNP) und Premierministerin im Edinburgher Regionalparlament, die Durchführung einer erneuten Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Schottlands als "wahrscheinlich" bezeichnet. Schließlich hätten London und Brüssel die Schotten bei der Volksbefragung vor zwei Jahren vor der Aufkündigung der Union mit England aus dem Jahr 1707 mit der Drohung abgebracht, nur durch den Verbleib im Vereinigten Königreich könnten sie Schottlands Platz in der EU erhalten, erinnerte Sturgeon.

Währenddessen hat ihrerseits die katholisch-nationalistische Sinn Féin, die in Belfast in der Regierung und in Dublin auf den Oppositionsbänken sitzt, die Durchführung einer Volksbefragung in Nordirland über die Wiedervereinigung mit der Republik Irland gemäß des Karfreitagsabkommens von 1998 gefordert. Begründet wurde der Vorstoß von Sinn-Féin-Vizepräsident Martin McGuinness mit der Tatsache, daß die Menschen im Norden Irlands mit 56 zu 44 Prozent ebenfalls für den Verbleib in der EU gestimmt hätten. Das Argument Sinn Féins ist nicht von der Hand zu weisen. Schaut man die Landkartengrafik auf der BBC-Website über den Ausgang der Abstimmung in Nordirland an, so haben sich die Euroskeptiker lediglich in den Wahlbezirken im äußersten Norden und Osten, sozusagen um Belfast herum, wo die pro-britischen protestantischen Unionisten stark vertreten sind, durchgesetzt. Im westlichen Zweidrittel Nordirlands einschließlich aller Gegenden, die an der Republik angrenzen, haben sich die Befürworter von Remain behauptet.

In Brüssel und Berlin muß nun die richtige Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche im Umgang mit Großbritannien gefunden werden. Nach Artikel 50 des Vertrages von Lissabon sollen die Verhandlungen über den EU-Austritt des Vereinigten Königreichs, sobald die Regierung in London diesen formell beantragt, innerhalb von 24 Monaten abgeschlossen werden. Soll die EU nun die Briten bestrafen, um die Euroskeptiker in Frankreich, den Niederlanden, Ungarn, Schweden und anderswo von einem ähnlichen Gang abzuschrecken, oder London mit Konzilianz begegnen, um das Ansehen des supranationalen Gebildes bei den einfachen Menschen auf dem Kontinent zu verbessern? Leider sieht es so aus, als würde die EU-Führung in Richtung ersterem tendieren.

In einem Interview für die Online-Ausgabe des Londoner Guardian hat Bundeskanzlerin Angela Merkels CDU-Parteikollege im EU-Parlament, Elmar Brok, den sofortigen Abzug des britischen EU-Kommissars Jonathan Hills für den Bereich Finanzdienstleistung angeregt. Die verbleibenden zwei Jahren der EU-Mitgliedschaft Großbritanniens sollte Hill als Kommissar ohne Geschäftsbereich verbringen, so Brok. Der umtriebige Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses im EU-Parlament plädierte für "eine klassische Ehescheidungsverhandlung wie im echten Leben". Offenbar spielt Brok damit, daß die Trennung des Vereinigten Königreichs von der EU so richtig häßlich wird. Derart selbstherrliches Gebaren, das man seitens der EU-Vertreter in den letzten Jahren immer wieder erleben mußte, etwa in der Schuldenkrise Griechenlands, ist auch kein geringer Grund dafür, warum für viele Europäer Brüssel zu einem Schimpfwort geworden ist und warum nun die Briten mehrheitlich dem "Saftladen" dort den Rücken gekehrt haben.

24. Juni 2016


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