Schattenblick →INFOPOOL →EUROPOOL → REDAKTION

PARTEIEN/289: Gerry Adams verhaftet - Nordirland in der Krise (SB)


Gerry Adams verhaftet - Nordirland in der Krise

Sinn Féin wirft London und Dublin Politisierung der Justiz vor



Am 22. Mai finden in Irland auf beiden Seiten der Grenze neben der EU-Wahl auch Kommunalwahlen statt. Die linksnationalistische Gruppierung Sinn Féin (Wir Selbst), einst politischer Arm der Untergrundorganisation Irisch-Republikanische Armee (IRA), steht laut jüngsten Umfragen vor ihrem bisher größten Erfolg. Bei der EU-Wahl in Nordirland dürfte sie ihre Position als stärkste Kraft behaupten, was für die lange Zeit dominierende, pro-britische Democratic Unionist Party (DUP) eine Schmach wäre. Im Süden könnte sie die Zahl ihrer Sitze von derzeit einem auf drei erhöhen. Umfragen zufolge würde Sinn Féin ihren bisherigen Sitz im europäischen Parlament für Dublin verteidigen und in den anderen beiden EU-Wahlbezirken in der Nord- und Südhälfte der Republik jeweils einen von drei Sitzen erobern. Damit würde sich die Zahl der EU-Abgeordneten von Sinn-Féin für ganz Irland von zwei auf vier verdoppeln. Mit vier von 12 Sitzen wäre Sinn Féin die stärkste irische Partei im EU-Parlament und die einzige, die Abgeordnete aus beiden Teilen des Landes nach Strasbourg schickt.

Bei den Kommunalwahlen in der Republik wird damit gerechnet, daß Sinn Féin von der großen Unzufriedenheit der Bürger mit den etablierten Parteien Fianna Fáil (Soldaten des Schicksals), Fine Gael (Clan der Iren) und Labour, die seit der Unabhängigkeit von Großbritannien 1922 das politische Leben im Süden der Insel bestimmt haben, profitiert. Die Wähler haben Fianna Fáil ihre Verantwortung für die Immobilienblase mit anschließender Bankenkrise, die Irland Ende 2010 zur Annahme eines drakonischen Rettungspakets der Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds (IWF) zwang, immer noch nicht verziehen. Die seit 2011 regierende Koalition aus Fine Gael und Labour, die das Austeritätsregime der Troika unerbittlich durchsetzt, Steuern erhöht, drastische Kürzungen in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Soziales vornimmt sowie staatliche Unternehmen und Vermögenswerte zu Spottpreisen an irgendwelche Hedge Fonds oder befreundete Geschäftsmänner verschleudert, erwartet eine schwere Bestrafung an der Wahlurne. Sinn Féin, die seit Jahren gegen die Sozialisierung der Bankenschulden wettert und für eine keynesianische Beschäftigungspolitik eintritt, könnte in den Kommunen die Zahl ihrer Sitze verdoppeln und auf dieser Ebene erstmals stärkste Partei werden. Damit hätte Sinn Féin gute Chancen, nach den nächsten Parlamentswahlen in der Republik im kommenden Jahr die Macht zu übernehmen.

In Hinblick auf diese günstige politische Entwicklung stellt sich natürlich die Frage, ob die Festnahme des Sinn-Féin-Präsidenten Gerry Adams am 30. April wegen einer möglichen Verwicklung in einen Mordfall aus dem Jahr 1972 vom Police Service of Northern Ireland (PSNI) nur zufällig geschah. Sinn-Féin-Vizepräsidentin Mary Lou McDonald, die aus Dublin stammt und zu jung ist, um etwas mit der IRA zu tun gehabt zu haben, weshalb sie als Hoffnungsträgerin der Partei gilt, erhob noch am selben Tag den Vorwurf einer politischen Inszenierung. Dagegen haben sich Premierminister Ende Kenny im Namen von Fine Gael und Mícheál Martin, Chef der noch abgeschlagenen Fianna Fáil, energisch zur Wehr gesetzt. Niemand von den südlichen Parteien hätte an der Entscheidung des PSNI zur Festnahme Adams mitgewirkt, so Kenny. Martin, dessen Fianna Fáil den Rang als Partei, die sich am meisten für die Wiedervereinigung Irlands einsetzt, für immer an Sinn Féin zu verlieren droht, kritisierte McDonald, es fehle ihr an Respekt vor der Unabhängigkeit der Justiz.

Adams Parteikollege und langjähriger politischer Weggefährte Martin McGuinness, der Vizepremier Nordirlands ist, hat die schwersten Vorwürfe erhoben. Auf einer Pressekonferenz am 1. Mai im Belfaster Parlament Stormont erklärte McGuinness die Reform der nordirischen Polizei von der protestantisch-dominierten Royal Ulster Constabulary (RUC) zum konfessionsunabhängigen PSNI praktisch für gescheitert. Die Festnahme seines "Freundes" Adams zeige, daß es "dunkle Kräfte" innerhalb der nordirischen Polizei gebe, die den Friedensprozeß "vehement" ablehnten und den Bürgerkrieg von damals - 1968-1998 - nur mit anderen Mitteln fortführten. "Wir [Sinn Féin] wissen, wer sie sind. Die Reformer [beim PSNI] wissen auch wer, sie sind. ... Ich sehe in dieser Festnahme den gezielten Versuch, das Ergebnis der Wahlen, die in drei Wochen auf dieser Insel, im Norden und im Süden, stattfinden sollen, zu beeinflussen."

Am selben Tag hat sich McGuinness per Telefon beim britischen Premierminister David Cameron über den Vorgang beschwert und die Festnahme von Adams mit der umstrittenen Entscheidung von Nordirland-Ministerin Theresa Villiers vom 29. April kontrastiert, keine Untersuchung des Massakers von Ballymurphy, als die britische Armee 1971 bei einer dreitägigen Razzia im katholischen Viertel Ballymurphy im Nordwesten von Belfast 10 Zivilisten erschoß, anzuordnen, weil dies angeblich überflüssig sei. Neben Cameron hat auch Nordirlands Erster Minister, DUP-Chef Peter Robinson, die Kritik von McGuinness und McDonald am Vorgehen des PSNI aufs Schärfste zurückgewiesen und sich rhetorisch hinter dem Märchen von der Unabhängigkeit der britischen Justiz verbarrikadiert.

Adams wird bezichtigt, 1972 als IRA-Kommandeur in Belfast die Hinrichtung von Jean McConville angeordnet zu haben. Bis heute bestreitet Adams, jemals Mitglied der IRA gewesen zu sein. Niemand kauft ihm das ab. Doch wegen seiner Verdienste um den Friedensprozeß - Adams führt Sinn Féin als Parteichef seit 1983 an - sehen ihm dies alle nach bzw. haben es bis vor zwei Tagen getan. Zwei namhafte Ex-IRA-Mitglieder, Brendan Hughes und Dolours Price, haben vor ihrem Tod - 2008 bzw. 2013 - Adams schwer belastet und als denjenigen identifiziert, der damals die Tötung von McConville wegen Spionage für die britische Armee angeordnet hatte. Laut Hughes hatte die IRA in der Wohnung der zehnfachen Mutter und Witwe in den Belfaster Divis Flats ein Funkgerät der britischen Armee gefunden; trotz ausdrücklicher Warnung hätte sie weiter mit den Sicherheitskräften zusammengearbeitet. Price wollte diejenige gewesen sein, die McConville zu ihrer Exekution an einem einsamen Strand auf der Halbinsel Cooley, gleich auf der südlichen Seite der Grenze, gefahren hat.

McConville gilt als die bekannteste der 15 sogenannten "Disappeared", Personen, deren Leichen nach der Hinrichtung durch die IRA an abgelegenen Orten verscharrt wurden. 1994 haben die inzwischen erwachsenen Kinder McConvilles eine Kampagne gestartet, um die Wahrheit über das Schicksal ihrer Mutter zu erfahren. 2003 wurde McConvilles Leiche zufällig gefunden. Mit Hilfe der IRA hat man in den letzten Jahren weitere acht Leichen der "Disappeared" bergen können. Adams war am 30. April vom PSNI in das Polizeirevier Antrim vorgeladen worden, um Fragen zum Fall McConville zu beantworten. Gleich zu Beginn der Befragung hat man ihn dann verhaftet. Das heißt, er gilt offiziell als Tatverdächtiger. Die Polizei kann ihn 48 Stunden lang vernehmen. Diese Frist läuft heute Abend um 20.00 Uhr Ortszeit ab. Bis dahin müssen die Behörden entscheiden, ob das gesammelte Material für eine Anklage reicht oder nicht. Sollte Anklage erhoben werden, wird Adams entweder auf Kaution freigelassen oder für weitere 28 Tage zwecks weiterer Befragung festgehalten. Für letzteres müßte jedoch ein Richter einem entsprechenden Antrag der Staatsanwaltschaft stattgeben.

In der Tat haftet der Festnahme von Adams der Geruch der politischen Justiz an. Dies erklärt, warum das Ereignis Nordirland in die vielleicht schwerste innenpolitische Krise seit der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens 1998 gestürzt hat. Den Wunsch vieler Hinterbliebener des nordirischen Bürgerkrieges nach Aufklärung der damaligen Bluttaten kann man leicht nachvollziehen und auch respektieren. Doch eine Geschichtsaufarbeitung, die der Gesellschaft im allgemeinen dient und den betroffenen Menschen hilft, wird es nicht geben, solange die Politiker in Dublin, Belfast und London die Vergangenheit als politischen Spielball mißbrauchen. Daher kann die einzige Lösung nur diejenige sein, welche der Ex-IRA-Kämpfer und Publizist Anthony McIntyre und der ehemalige britische Nordirland-Minister Peter Hain seit Jahren fordern, nämlich eine Generalamnestie für alle Soldaten, Polizisten und Paramilitärs, die sich damals etwas zuschulden kommen ließen, jedoch einen ehrlichen Beitrag zur Aufklärung der Geschichte der "Troubles" zu leisten bereit sind.

2. Mai 2014