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PARTEIEN/275: Nordirischer Friedensprozeß in der Krise (SB)


Nordirischer Friedensprozeß in der Krise

Britische Securocrats wollen Gerry Adams ans Leder



Dieser Tage reisen Jeffrey Donaldson, Abgeordneter der pro-britisch-protestantischen Ulster Unionist Party, und sein Kollege Dennis Haughey von der katholisch-nationalistisch Partei Sinn Féin, einst politischer Arm der Irisch-Republikanischen Armee (IRA), nach Kabul. In der afghanischen Hauptstadt wollen sie die dortigen Politiker über den nordirischen "Friedensprozeß" unterrichten und ihnen Tips geben, wie sie nach dem geplanten Abzug der NATO-Streitkräfte 2014 einen Krieg zwischen den paschtunischen Taliban und den anderen Volksgruppen, welche die staatliche Armee und Polizei zahlenmäßig dominieren, vermeiden können. Ironischerweise reisen die beiden irischen Politiker in einer Phase tiefster Unsicherheit im eigenen Land nach Afghanistan, denn momentan kann niemand sagen, wie es überhaupt mit dem "Friedensprozeß" in Nordirland weitergeht.

Zwar regieren Unionisten und Nationalisten die Unruheprovinz inzwischen gemeinsam und bilden eine Koalition in Belfast, doch das Karfreitagsabkommen von 1998 hat die ethnisch-religiösen Gräben gefestigt. Die erwünschte Versöhnung zwischen den beiden Traditionen - orange, die Protestanten, die am Vereinigten Königreich mit Großbritannien hängen, und grün, die Katholiken, welche die Wiedervereinigung Irlands anstreben - findet nicht statt. Die weltweite Finanzkrise und die staatlichen Haushaltskürzungen, zu der sich die britische Zentralregierung in London gezwungen sieht, trifft die Menschen in Nordirland, der ärmsten Region im Königreich, in der ein hoher Prozentsatz der Bevölkerung im öffentlichen Dienst beschäftigt ist, besonders hart. Die sozialen Einschnitte in einer Gesellschaft, die traditionell von hoher Arbeitslosigkeit geplagt ist, sind nicht zuletzt dafür verantwortlich, daß die Umzüge des protestantischen Oranier-Ordens in diesem Sommer von den schwersten Ausschreitungen seit dem Ende der sogenannten "Troubles" vor 14 Jahren überschattet wurden.

Am 29. September findet in Belfast eine große Parade anläßlich des hundertjährigen Jubiläums der Unterzeichnung des Ulster Covenant statt. Damit haben 1912 mehr als 100.000 Protestanten unter Eid ihre Bereitschaft erklärt, "mit allen Mitteln" eine damals vom britischen Parlament verabschiedete Teilautonomie für Irland im Rahmen des Vereinigten Königreichs verhindern zu wollen. Die Entscheidung der protestantischen Unionisten, sich dem Wunsch der katholischen Mehrheit ihrer irischen Landsleute zu widersetzen, hatte verheerende Folgen. Die britische Armee in Irland drohte mit Meuterei, falls ihnen befohlen werden sollte, die "Loyalisten" zur Räson zu zwingen. Angesichts dieser Entwicklung haben die Nationalisten die Irish Volunteers gegründet und sich ähnlich den widerspenstigen Brüdern im Norden mit Waffen und Munition aus dem deutschen Kaiserreich eingedeckt. Am Osterwochenende 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, erhob sich ein Teil der Irish Volunteers vergeblich gegen die britische Herrschaft. Nach dem Ersten Weltkrieg entbrannte ein mehrjähriger Kampf um die irische Unabhängigkeit, der 1922 mit der Teilung der Insel endete.

In Hinblick auf die bewegte Vergangenheit bestehen nun große Befürchtungen, daß die Parade zur 100jährigen Feier des Ulster Covenant in eine Gewaltorgie ausarten könnte. Um dies zu verhindern, sind den Marschierern strenge Auflagen seitens der Parades Commission auferlegt worden. Ihre Musikkapellen dürfen zum Beispiel beim Passieren der Sankt-Patrick-Kirche im Herzen von Belfast, dem ältesten katholischen Gotteshaus der Stadt, keine loyalistischen Kampflieder anstimmen, sondern höchstens die eine oder andere protestantische Hymne spielen. Als vor wenigen Wochen trotz ausdrücklicher Auflage loyalistische Marschierer vor der Sankt-Patrick-Kirche ein Lied sangen, in dessen Text es um die Verhöhnung der Todesopfer protestantischer "Terrorgruppen" ging, löste dies stundenlange Krawalle mit Verletzten und Sachbeschädigung an Autos, Läden und Büros.

Die paramilitärische Bedrohung schwebt immer noch über die Provinz. Ehemalige loyalistische Untergrundkämpfer, die sich in den letzten Jahren auf Schutzgelderpressung und den Rauschgifthandel konzentriert hatten, sollen die Unruhen im Sommer in Belfast geschürt und gesteuert haben. Sowohl im Norden wie auch auch im Süden Irlands liefern die Aktivitäten republikanischer Dissidenten, die inzwischen fast jede Woche irgendwo den einen oder anderen kleineren Bombenanschlag durchführen, Grund zur Sorge. Ursache der negativen Entwicklung ist die Tatsache, daß die politische Führung auf unionistischer und nationalistischer Seite es sich in den neuen Institutionen gemütlich eingerichtet hat. Die Herren und Damen, die als Abgeordnete im Belfaster Stormont Castle, dem Parlamentssitz von Nordirland, üppige Diäten einstreichen, haben den Kontakt zu den Menschen in den Armenvierteln verloren und lassen dort Wut, Verbitterung und Enttäuschung gedeihen.

Dazu kommen Kräfte innerhalb des Sicherheitsapparates, weniger aus den Reihen des britischen Inlandsgeheimdienst MI5 als aus dem Lager der protestantisch-dominierten nordirischen Sicherheitspolizei, die mit der IRA bzw. Sinn Féin noch einige Rechnungen offen haben und ganz im Clausewitzschen Sinnen den Krieg mit anderen Mitteln fortzusetzen gedenken. Die nordirische Polizei versucht seit letztem Jahr gerichtlich die Aushändigung von Bändern und Abschriften einer historischen Studie über die "Troubles", die derzeit beim Boston College im US-Bundesstaat Massachusetts liegen, zu erwirken. Die beiden Hauptverantwortlichen der Studie, der Journalist Ed Moloney, Autor des vielgelobten Buchs "The Secret History of the IRA", und Anthony McIntyre, der den empfehlenswerten Blog "The Pensive Quill" betreibt, versuchen dies zu verhindern.

Für die Studie über den nordirischen Bürgerkrieg hatten Moloney und McIntyre, der selbst ein ehemaliger IRA-Freiwilliger ist und deshalb mehrere Jahre im Gefängnis verbrachte, eine Reihe von Interviews mit ehemaligen Paramilitärs - sowohl republikanischen als auch loyalistischen - geführt. Allen Gesprächspartnern wurde zugesichert, daß der genaue Wortlaut ihrer Äußerungen erst nach ihrem Tod veröffentlicht werden würde. Doch nun verlangt der Police Service of Northern Ireland (PSNI) Zugriff auf das Interview mit der ehemaligen IRA-Kämpferin Dolours Price, weil sie in dem Gespräch die Verantwortlichen für den Mord an der mehrfachen Mutter Jean McConville, die 1972 verschwand und deren Leiche bis heute unauffindbar blieb, identifiziert haben soll.

Mit der Aktion wollen bestimmte Kreise in Belfast und London - und, wer weiß, vielleicht auch in Dublin? - Sinn-Féin-Präsident Gerry Adams zu Fall bringen. Adams, der bis heute seine IRA-Mitgliedschaft nicht öffentlich zugegeben hat, war zusammen mit Martin McGuinness die treibende Kraft hinter der Abwendung der IRA vom bewaffneten Kampf hin zum Parlamentarismus unter der Fahne von Sinn Féin. Während McGuinness nun stellvertretender Premierminister Nordirlands ist, hat sich Adams vor zwei Jahren ins Dubliner Unterhaus wählen lassen. Dort sitzt er der Sinn-Féin-Fraktion vor. In der irischen Republik rangiert die linksnationalistische Sinn Féin laut Wählerumfragen gleich hinter der regierenden, konservativen Fine Gael an zweiter Stelle.

Nicht wenige irische Republikaner halten das Vorhaben Sinn Féins, durch Regierungsbeteiligungen auf beiden Seiten der Grenze die Teilung Irlands zu überwinden für illusorisch, doch nur eine winzig kleine Minderheit glaubt noch, die Wiedervereinigung mit Waffengewalt erzielen zu können. Dazu gehört auch das bereits erwähnte Ex-IRA-Mitglied Dolours Price, die Jean McConville, die wegen des Verdachts der Spionage für die britische Armee sterben mußte, zu ihrer Hinrichtung gefahren haben soll - und zwar angeblich auf Befehl von Gerry Adams. Von Price ist am 23. September in der britischen Zeitung Sunday Telegraph, bekanntlich die Hauspostille des britischen Militärestablishments, ein aufsehenerregendes Interview erschienen, in dem sie Adams schwer belastet. Laut Price hat er 1972 als Oberbefehlshaber der IRA-Brigade in Belfast den ersten großen Bombenanschlag in London angeordnet. Damals waren zwei der vier Autobomben explodiert, zwei konnten von der Polizei entschärft werden. Wegen der eine Stunde zuvor bei den Behörden eingegangenen telefonischen Warnung der IRA wurde bei dem Anschlag niemand direkt getötet. 233 Menschen wurden verletzt; ein Mann erlag einen Herzanfall.

Die Attentäter, Dolours Price, ihre Schwester Marion, Gerry Kelly - heute Sinn-Féin-Minister in der Belfaster Regierung - und Hugh Feeney, wurden verhaftet, bevor sie das britische Festland verlassen konnten. Im Gefängnis traten sie allesamt in den Hungerstreik. 1980, nach Verbüßung von nur acht Jahren einer lebenslangen Freiheitsstrafe, wurden die Price-Schwestern, die aufgrund des jahrelangen Hungerstreiks und der Zwangsernährung durch das Gefängnispersonal physisch und psychisch am Ende waren, begnadigt und entlassen. Letztes Jahr hat der nordirische Justizminister David Ford von der konfessionsunabhängigen Alliance Party mit Unterstützung des damaligen britischen Nordirlandministers Owen Patterson Marion Price erneut verhaften lassen. Anlaß war ihre Teilnahme am Osteraufmarsch einer Gruppe IRA-Dissidenten auf einem Friedhof in Derry. Die Festnahme und die fortgesetzte Inhaftierung Prices wird mit geheimdienstlichen Erkenntnissen begründet, die angeblich wegen der nationalen Sicherheit nicht publik gemacht werden dürfen. Bürgerrechtler laufen gegen die Aktion Sturm, weil Price bis heute keine Anklage gegen Price erhoben wurde und weil sie nicht auf Kaution draußen war, sondern aufgrund einer Begnadigung von Königin Elisabeth II. höchstpersönlich. Bezeichnenderweise behaupten die Behörden in London, keine Kopie von dem damaligen Dokument in ihren Akten zu haben - was, sollte es zutreffen, geschichtlich einmalig wäre.

Kritische Beobachter vermuten, daß es dieselben Kräfte im Sicherheitsapparat sind, die hinter der Verhaftung von Marion Price stecken und sich um die Aushändigung der beim Boston College hinterlegten Bänder und Abschriften bemühen, und daß diese Personen auch Dolours Price zu dem für Gerry Adams belastenden Interview mit dem "Torygraph" animiert haben. In einer Stellungnahme, die am 26. September bei The Pensive Quill erschienen ist, hat Ed Moloney erneut beteuert, daß es im fraglichen Boston-College-Interview mit Dolours Price nichts gibt, was Gerry Adams in irgendeiner Weise mit der Ermordung von Jean McConville in Verbindung bringen würde. Er erklärte kategorisch, daß die Namen Adams und McConville in dem Gespräch gar nicht vorkommen. Ausdrücklich warnte er vor der Gefahr für das Leben Anthony McIntyres, sollten die damaligen Interviews entgegen den ursprünglichen Zusicherungen an die Öffentlichkeit gelangen und vor einem erneuten Ausbruch des "Bürgerkrieges" in Nordirland, sollte es den Unversöhnlichen in Belfast gelingen, Gerry Adams, dem Architekten des gesamten "Friedensprozesses" wegen Mordes anzuklagen und seine politische Karriere damit zu ruinieren.

27. Juni 2012