Schattenblick →INFOPOOL →EUROPOOL → POLITIK

AUSSEN/145: Unsere Verantwortung endet nicht an den Grenzen der EU (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Internationale Politikanalyse

Unsere Verantwortung endet nicht an den Grenzen der EU
Für eine engagiertere Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik der Europäischen Union

von Dietmar Nietan, Wolfgang Kreissl-Dörfler, Markus Meckel, Karsten D. Voigt, Katharina Abels, Olaf Böhnke, Stefan Dehnert, Robert Ernecker, Sascha Götz, Kai-Olaf Lang, Nadja Pohlmann, Klaus Suchanek
April 2013



Inhalt

Einleitung

Auch in Krisenzeiten auf der Agenda: die externe Dimension Europas

I. ERWEITERUNGSPOLITIK
- Die Erweiterung der EU ist eine Erfolgsgeschichte
- Erweiterung bringt mehr Nutzen als Kosten
- Ein prinzipieller Erweiterungsstopp käme Europa teuer zu stehen
- Auch eine erweiterte EU bleibt handlungsfähig
- Mit wem verhandelt die EU über einen Beitritt?
- Fairness und Glaubwürdigkeit gegenüber den Ländern des westlichen Balkans
- Fairness und Glaubwürdigkeit gegenüber der Türkei
- Schlussfolgerungen:

II. NACHBARSCHAFTSPOLITIK
- Der europäischen Nachbarschaftspolitik fehlt es an Schwung
- Die Östliche Partnerschaft weiter entwickeln
- Russland als strategischen Partner einbeziehen
- Konditionalität: Nötiges Druckmittel oder Hemmschuh?
- EU-Beitritt: nicht auf der Agenda, aber nicht kategorisch auszuschließen
- Schlussfolgerungen
- Fazit

*

• Die EU muss ihre externe Handlungsfähigkeit ausbauen. Sie braucht dafür auch eine wiederbelebte und verantwortungsbewusste Politik im Umgang mit ihrer Nachbarschaft und mit den Staaten, die im Erweiterungsprozess eingebunden sind.

• Erweiterung bringt mehr Nutzen als Kosten. Ein prinzipieller Erweiterungsstopp käme Europa teuer zu stehen. Der Erweiterungsprozess der EU muss daher fortgesetzt werden. Die Anwendung strenger Kriterien und klar überprüfbarer Fortschritte gehören ebenso dazu wie Fairness und Glaubwürdigkeit der EU - insbesondere gegenüber den Ländern des westlichen Balkans und der Türkei.

• Die Östliche Partnerschaft der EU braucht eine neue Ausrichtung. Es muss der EU gelingen, die Partnerländer dauerhaft für eine gute Zusammenarbeit zu gewinnen, auch ohne den Anreiz einer konkreten Beitrittsperspektive bieten zu können. Dies erfordert ein stärkeres Engagement der EU.

• Deutschland als einflussreicher EU-Mitgliedstaat ist gefordert, für mehr Glaubwürdigkeit, Offenheit, Transparenz, Solidarität und Engagement in der Europäischen Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik einzutreten.

*

Einleitung

Nach Jahrhunderten prekärer Machtgleichgewichte und der Katastrophe der beiden Weltkriege ist es in Europa durch die Integration von Staaten gelungen, Frieden zwischen den Völkern zu schaffen. Diktaturen wurden gestürzt und Demokratien errichtet. Aus einer von Kriegen geplagten Region entstand der reichste und größte Binnenmarkt der Welt.

Gegenwärtig befindet sich die EU jedoch in der wohl schwierigsten Phase seit ihrer Gründung. Die Schulden- und Refinanzierungskrise hat ein existentielles Ausmaß erreicht, ihr Ausgang ist ungewiss. Die Mitgliedstaaten ringen um Geschlossenheit und um nachhaltige Lösungen. Einigkeit besteht in der Grundüberzeugung, dass ein Auseinanderbrechen der Europäischen Union ein integrationspolitischer Rückschlag mit unübersehbaren negativen Folgen wäre. Ein solches Auseinanderbrechen würde die Zukunftschancen künftiger Generationen erheblich belasten.


Auch in Krisenzeiten auf der Agenda: die externe Dimension Europas

Interne Konsolidierung ist von zentraler Bedeutung und stellt alle europäischen Akteure vor immense Herausforderungen. Die Stärkung der externen Handlungsfähigkeit der EU ist ebenso bedeutsam. Andere Staaten bauen ihre politischen und wirtschaftlichen Interessen in der Welt im Alleingang aus und gewinnen mit ihren Konzepten zunehmend an Einfluss, auch innerhalb Europas und in unmittelbarer europäischer Nachbarschaft. Europa darf im internationalen Machtgleichgewicht nicht in Bedeutungslosigkeit versinken. Für die Zukunft unseres Kontinents und der darin lebenden Generationen ist es essentiell wichtig, dass jetzt die Weichen für ein geeintes und solidarisches Europa gestellt werden, das fähig ist, die Herausforderungen der globalen Entwicklungen zu meistern. Die Europäische Union wird immer stärker gefordert sein, international zu agieren - nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch und militärisch. Zu Recht sehen die Vereinigten Staaten von Amerika als wichtigste Verbündete der Europäer die EU als eigenständigen globalen Akteur zunehmend in der Pflicht. Die USA selbst verfolgen eine immer zurückhaltendere Politik, was die Räume vor Europas Haustür angeht. Neben GASP und GSVP braucht die EU deshalb eine wiederbelebte, verantwortungsbewusste und nachhaltige Politik im Umgang mit ihrer Nachbarschaft und mit den Staaten, die im Erweiterungsprozess eingebunden sind.

I. ERWEITERUNGSPOLITIK

Die Erweiterung der EU ist eine Erfolgsgeschichte

Die Staaten der EG bzw. EU sind durch den Beitritt immer neuer Mitgliedstaaten und die Vergemeinschaftung vieler Politikbereiche zur weltgrößten Freihandelszone geworden. Sie sind jedoch vor allem ein historisch beispielloser gemeinsamer Raum der Freiheit, des Rechts und des friedlichen Zusammenlebens vieler Völker. Es gilt, sich dies immer wieder ins Gedächtnis zu rufen. Die Möglichkeit des Beitritts weiterer Mitgliedstaaten wird allerdings vielfach in Frage gestellt, obwohl Artikel 49 Abs. 1 EUV eine klare und eindeutige Sprache spricht: »Jeder europäische Staat, der die in Artikel 2 genannten Werte achtet und sich für ihre Förderung einsetzt, kann beantragen, Mitglied der Union zu werden. (Angesichts der gegenwärtigen Krise der EU mehren sich zudem die Fragen, ob die EU administrativ, politisch und wirtschaftlich in der Lage ist, weitere Mitglieder zu verkraften und ob die Erweiterung nicht einer Vertiefung der Zusammenarbeit der jetzigen Mitgliedstaaten im Wege steht. Der gescheiterte Verfassungsprozess, die großen Schwierigkeiten bei der Verhandlung und Ratifizierung des Lissaboner Vertrages aber auch der Stand der Entwicklungen in (potenziellen) Kandidatenländern verstärken neben der Schulden- und Refinanzierungskrise die Einschätzung, dass weitere EU-Erweiterungsrunden allenfalls in fernerer Zukunft denkbar sind.


Erweiterung bringt mehr Nutzen als Kosten

Vom Beitritt der mittelosteuropäischen Länder 2004 haben nicht nur sie selbst, sondern auch die EU deutlich profitiert, politisch wie auch wirtschaftlich. Schon im Zeitraum zwischen Verhandlungsbeginn und Beitritt haben sich die Ausfuhren der EU in die beitretenden Staaten mehr als verdreifacht. Ein nicht unerheblicher Teil der hohen Wachstumsraten in den beitretenden Ländern in diesem Zeitraum kann auf den Erweiterungsprozess zurückgeführt werden. Für Deutschlands stark exportorientierte Wirtschaft haben sich durch die EU-Erweiterung große Vorteile ergeben. Der befürchtete Ansturm auf die Arbeitsmärkte der »alten« EU-Länder blieb dagegen aus. Die mittelosteuropäischen EU-Staaten stehen in der Krise besser da als so manches langjährige Mitglied. Dem finanziellen Aufwand für die Erweiterung steht ein noch größerer Nutzen für beide Seiten entgegen. Es muss klar gesagt werden: Die aktuelle Krise offenbart in erster Linie Schwächen der »alten« Mitgliedstaaten und nicht Versäumnisse der »neuen«.

Der erneuerte Konsens über die Erweiterung, den der Europäische Rat im Dezember 2006 beschlossen hat, hat die Synchronisierung von Vertiefung und Erweiterung durch stringente Beitrittsverhandlungen nochmals betont. Bei weiteren Beitrittsprozessen sollten politische Rabatte im Sinne einer Aufweichung von Beitrittskriterien oder die Politisierung von Beitrittsprozessen ebenso ausgeschlossen werden wie die vorzeitige Festlegung von Beitrittsterminen. Die verfrühten Beitritte Bulgariens und Rumäniens zeigen, dass ein Beitritt nicht automatisch zu Stabilität, wirtschaftlicher Prosperität und tief verankerter demokratischer Kultur führt. In der Zwischenzeit wurden daraus jedoch Konsequenzen gezogen, die es ermöglichen, in Zukunft solche Fehler zu vermeiden und Fehler, die in der Vergangenheit gemacht wurden, schrittweise zu beheben.


Ein prinzipieller Erweiterungsstopp käme Europa teuer zu stehen

Der Erweiterungsprozess darf nicht gestoppt werden, sondern muss unter klar definierten Bedingungen und verstärktem Monitoring weitergeführt werden. Die negativen Folgen eines grundsätzlichen Erweiterungsstopps wären für Europa erheblich. Wird die europäische Perspektive verstellt, besteht die Gefahr, dass sich die betreffenden Länder von der EU ab- und anderen Partnern zuwenden. Bereits erzielte Erfolge in den Bereichen Demokratie, gute Regierungsführung oder Versöhnung mit den Nachbarn würden in Frage gestellt oder gar wegbrechen. Zunehmender Nationalismus, weniger Stabilität und wieder aufbrechende Konflikte wären wahrscheinliche Folgen einer solchen Entwicklung, die letztlich auch der EU politisch und wirtschaftlich sehr schaden würden. Eine verlässliche europäische Perspektive bleibt wichtig, um Frieden, Demokratie und Stabilität in unserer unmittelbaren europäischen Nachbarschaft zu stärken.

Nach dem baldigen EU-Beitritt Kroatiens und ggf. Islands wird es vermutlich viele Jahre dauern, bis es zu weiteren Beitritten kommen kann. Eine Pause im Annäherungsbzw. Verhandlungsprozess zwischen EU und Kandidatenländern, ein Erlahmenlassen der Dynamik lässt sich dadurch aber nicht rechtfertigen. Das Bemühen beider Seiten umeinander darf nicht zum Erliegen kommen, die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen ihr Engagement beibehalten und ausbauen.


Auch eine erweiterte EU bleibt handlungsfähig

Politisch drohte in der Vergangenheit durch das Prinzip der Einstimmigkeit bei einer zunehmenden Zahl an Mitgliedstaaten tatsächlich die Blockade von Entscheidungsprozessen. Der Vertrag von Lissabon hat das Prinzip der Einstimmigkeit in vielen Bereichen überwunden und deutlich mehr Entscheidungen mit doppelter Mehrheit ermöglicht. Außerdem wurde die Möglichkeit zur Verstärkten Zusammenarbeit ausgeweitet. Beide Regelungen verbessern die Handlungsfähigkeit der EU. Die Geschwindigkeit, mit der die 27 EU-Mitgliedstaaten bzw. die 17 Länder der Eurozone Entscheidungen auch von großer Tragweite treffen und in ihren nationalen Parlamenten beraten konnten, zeigt: Die EU-27 sind im Rahmen des Vertrages von Lissabon zu wichtigen Entscheidungen in der Lage, soweit es den politischen Willen dazu gibt. Es ist nicht zu erkennen, warum diese Handlungsfähigkeit in einer EU von 28, 29 oder mehr Mitgliedstaaten grundsätzlich nicht mehr gegeben sein sollte. Dies bedeutet aber nicht, dass es nicht in Zukunft auch die Notwendigkeit zu Veränderungen im Regelwerk der EU geben wird, beispielsweise zu einer noch stärkeren Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen.


Mit wem verhandelt die EU über einen Beitritt?

Der EU-Beitrittsprozess Kroatiens ist nahezu abgeschlossen. Konkret verhandelt die EU darüber hinaus neben Island derzeit mit Montenegro und der Türkei. Serbien und die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien warten als Kandidatenländer auf die Eröffnung der Verhandlungen. Albanien, Bosnien und Herzegowina und das Kosovo sind potenzielle Kandidatenländer, die jedoch noch keinen Beitrittsantrag gestellt haben. Wenn die EU ihre Glaubwürdigkeit wahren will, muss sie die Verhandlungs-, Dialog- und Beitrittsprozesse mit den genannten Ländern ehrlich, fair und transparent fortführen.


Fairness und Glaubwürdigkeit gegenüber den Ländern des westlichen Balkans

Die EU muss auf ihren Bedingungen beharren, gleichzeitig aber ihre 2003 in Thessaloniki gegebene Zusage erfüllen und die europäische Perspektive für den Westbalkan grundsätzlich aufrecht erhalten. Der westliche Balkan darf langfristig kein weißer Fleck auf der Landkarte der EU bleiben. Ein starkes Engagement der EU und ihrer Mitgliedstaaten darf dabei nicht ausschließlich an den konkreten Erweiterungsprozess gekoppelt sein. Die Staaten des Westlichen Balkan verdienen und brauchen die Solidarität Europas.

Die Unterzeichnung des Beitrittsvertrages mit Kroatien 2011 und die Verleihung des Kandidatenstatus an Serbien 2012 waren bedeutende Momente für die europäische Integration. Vor allem die Entwicklung Kroatiens ist der Beweis dafür, dass nach den verheerenden Kriegen auf dem Balkan der 1990er Jahre sehr wohl Frieden, Stabilität, Demokratie und letztlich die EU-Mitgliedschaft in der Region erreichbar sind. Am Beispiel Kroatien lässt sich belegen, welche Transformationskraft die EU-Erweiterungspolitik in sich trägt und wie damit neue Dynamik in die Reformprozesse anderer Erweiterungsländer gebracht werden kann. Es wäre daher geradezu unverantwortlich, den anderen Ländern des Westbalkans zu signalisieren, dass sie in der EU nicht willkommen sind. Zwar ist die Region sehr heterogen, doch teilen die Länder viele Problemlagen, deren Lösung durch eine EU-Beitrittsperspektive maßgeblich befördert werden könnte. Gerade die Beitrittsperspektive ist der entscheidende Punkt, der die demokratischen und reformbereiten Kräfte in diesen Ländern stärkt und laufende Reformprozesse begünstigt.

Auch hier gilt: Wer beitreten will, muss die entsprechenden Kriterien erfüllen und europäische Werte teilen. Die Länder des westlichen Balkan haben in dieser Hinsicht große Herausforderungen zu bewältigen, denn Nationalismus, Korruption und Kriminalität sind weit verbreitet und stellen Hindernisse auf dem Weg der europäischen Integration dar. Dazu kommen große wirtschaftliche und soziale Probleme. Verfassungsreformen in Bosnien und Herzegowina, die angespannten Beziehungen zwischen Serbien und dem Kosovo, die Förderung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Medienfreiheit und Transparenz in Montenegro, Albanien und der Ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien - all das sind wichtige Baustellen vor dem Hintergrund einer Beitrittsperspektive. Auch die Beilegung bilateraler sowie regionaler Konflikte und die Anerkennung bestehender Grenzen müssen Bedingung für eine EU-Mitgliedschaft sein. Darüber hinaus ist es wichtig, dass die regionale Kooperation zwischen den Ländern des westlichen Balkan ausgebaut und vertieft wird.


Fairness und Glaubwürdigkeit gegenüber der Türkei

Die Türkei ist sicherlich der umstrittenste EU-Beitrittskandidat. In Deutschland und einigen anderen EU-Mitgliedstaaten wird ein Beitritt der Türkei zur EU seit Jahren parteipolitisch instrumentalisiert, obwohl alle EU-Mitgliedstaaten der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zugestimmt haben.

Die EU und ihre Mitgliedstaaten sollten fest zu der gegebenen Beitrittsperspektive stehen. Allerdings gilt es auch zur Kenntnis zu nehmen, dass die derzeitige Politik der Regierung Erdogan die EU als Verhandlungspartner in eine schwierige Lage versetzt. Auf der einen Seite steht eine Türkei, die sich in den letzten Jahren auch dank des EU-Beitrittsprozesses enorm gewandelt hat. Unzählige Reformen wurden durchgeführt, Demokratisierungsprozesse vorangetrieben, die Wirtschaft boomt. Auf der anderen Seite stehen besorgniserregende Entwicklungen: Innenpolitisch wird die Meinungsfreiheit eingeschränkt, Journalisten verhaftet, der Konflikt um die kurdische Minderheit flammt immer wieder auf. Mit der Entscheidung, keine Beziehungen mit der zyprischen EU-Ratspräsidentschaft zu führen, hat die Türkei die EU brüskiert und sich selbst keinen Gefallen getan. Erdogans Politik in diesen Punkten ist kontraproduktiv für den EU-Beitrittsprozess.

Die Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei sind festgefahren. Dennoch: Die grundsätzliche EU-Beitrittsperspektive für die Bevölkerung eines Landes darf nicht davon abhängig gemacht werden, welche Regierung derzeit die Verantwortung trägt. Viel wurde bisher erreicht. Der Reform- und Demokratisierungsprozess muss weitergehen. Die Türkei hat gerade aufgrund ihrer wirtschaftlichen Erfolge an Selbstbewusstsein gewonnen. Sie tritt zunehmend als außen- und sicherheitspolitische Regionalmacht auf. Als solche gewinnt sie für die EU an Relevanz, vor allem im Hinblick auf die Stabilität in der MENA-Region und als energiepolitischer Player. Es gilt, angesichts der festgefahrenen Beitrittsverhandlungen zusätzlich neue Formen für eine engere Kooperation zwischen der EU und der Türkei zu entwickeln. Es hat keinen Sinn, sich in Beitrittsverhandlungen festzubeißen, wenn diese nicht weiterführen. Die »Positive Agenda« der EU-Kommission ist ein solcher Ansatz. Dieser ist jedoch deutlich abzugrenzen vom Vorschlag einer »Privilegierten Partnerschaft« aus konservativen Kreisen, die einen dauerhaften Ersatz für einen EU-Beitritt darstellen soll. EU und Türkei können neue Wege beschreiten, ohne dabei den Beitrittsprozess aufzugeben. Ein zentraler Fortschritt wäre dabei die längst überfällige Umsetzung der Visaliberalisierung mit der Türkei. Für Frieden und Stabilität in Europa und seinen Nachbarregionen ist neben der Russischen Föderation die Türkei von einer besonders herausragenden Bedeutung. Dies muss sich auch in allen EU-Politiken widerspiegeln, insbesondere im Bereich der GASP und in der ENP.


Schlussfolgerungen:

Sorgen vor einer Überfrachtung der EU sind unbegründet. Die letzten Erweiterungsrunden haben deutlich gezeigt: Neue Mitgliedstaaten, die alle Kriterien für einen EU-Beitritt erfüllen, sind ein Gewinn. Damit die Integrations- und Zukunftsfähigkeit der EU erhalten bleibt, müssen Kroatien, Serbien, Montenegro, die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien, Bosnien und Herzegowina, Albanien und Kosovo sowie die Türkei große Reformanstrengungen unternehmen und alle nötigen Kriterien erfüllen. Doch die Menschen in diesen Ländern sollten sich darauf verlassen können, dass die Hand der EU ausgestreckt bleibt. Nicht umsonst wurde der Friedensnobelpreis der EU 2012 mit dem Hinweis auf die friedensstiftende Wirkung ihrer Erweiterung verliehen. Auf diese Wirkung muss auch in Zukunft gesetzt werden.

Eine erfolgreiche Erweiterungspolitik sollte auf Transparenz, Glaubwürdigkeit und Fairness fußen und Folgendes berücksichtigen:

1. Die EU muss ehrlich, offen und glaubwürdig sein. Das Bekenntnis der EU zur Möglichkeit weiterer Beitritte muss klar und unzweideutig sein. Die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen durch ihr Handeln zeigen, dass sie selbst Interesse an der Aufnahme weiterer Mitglieder haben, soweit alle Bedingungen erfüllt sind. Das einmal gegebene Versprechen einer Beitrittsperspektive muss gehalten werden.

2. Strenge Kriterien und klar überprüfbare Fortschritte sind die unabdingbaren Grundvoraussetzungen für einen erfolgreichen Erweiterungsprozess. Die Kopenhagener Kriterien stellen auch nach 20 Jahren die wertvolle Grundlage und das Kernstück der Erweiterung dar. Ein verbesserter Monitoring-Prozess birgt die große Chance, Beitrittsprozesse transparenter und effizienter zu gestalten und damit auch die Akzeptanz der Beitrittsstrategie in den EU-Mitgliedstaaten zu erhöhen. Die EU muss die Transparenz ihrer Bewertungsgrundlagen und ihres Vorgehens gewährleisten. Es darf keinesfalls zur Aufweichung von Kriterien kommen. Missstände müssen deutlich und offen kritisiert werden. In den Strategieprogrammen der Beitrittsländer und in der Programmierung der Heranführungshilfen sind im Hinblick auf zentrale Anforderungen wie zum Beispiel Demokratie, Transparenz, Rechtstaatlichkeit, Pressefreiheit oder den Umgang mit Minderheiten nachprüfbare Benchmarks festzulegen, die eine Anwendung nicht nur des Prinzips more for more sondern auch ein less for less ermöglichen.

3. Beitrittsverhandlungen müssen möglichst früh beginnen und länger andauern. Es hat sich vielfach gezeigt, dass EU-Beitrittsverhandlungen der stärkste Motor für Reformen in den Kandidatenländern sind. Der Verhandlungsprozess selbst soll deshalb früher beginnen und insgesamt länger andauern, damit die starke Reformwirkung von Beitrittsverhandlungen früh in Gang gesetzt wird und nachhaltige Wirkung zeigen kann. Um während langjähriger Beitrittsverhandlungen den Kandidatenländern wie auch der EU Erfolgserlebnisse zu vermitteln, müssen erreichbare, für die Menschen verständliche und spürbare Zwischenziele erreicht werden.

4. Die Rechtsstaatlichkeit muss im Zentrum der Verhandlungen stehen. Die neue Strategie der Europäischen Kommission, zukünftig einen stärkeren Fokus auf Rechtsstaatlichkeit und Reformen der öffentlichen Verwaltung zu setzen und die Verhandlungskapitel 23 und 24 an erster Stelle zu eröffnen und zuletzt zu schließen, ist richtig. Hier müssen von Beginn an überzeugende Fortschritte erzielt werden. Damit können Beitrittskandidaten rechtzeitig in grundlegenden Bereichen mit Reformen beginnen, die erfahrungsgemäß viel Zeit in Anspruch nehmen, die gleichzeitig aber auch Voraussetzung und Motor für erfolgreiche Reformen in anderen Bereichen sind. Auch bereits vor dem Beginn offizieller Beitrittsverhandlungen sollten die Inhalte der Kapitel 23 und 24 gemeinsam bearbeitet werden, möglicherweise im Rahmen von Vorverhandlungen.

5. Beitrittsprozesse müssen für die Bevölkerung der EU-Mitgliedstaaten transparent werden. Bereits vor Ausbruch der Eurokrise waren in weiten Teilen der Bevölkerung der EU-Mitgliedstaaten die Bedenken gegenüber der Aufnahme weiterer Länder groß. Dass sich angesichts der Krisensituation die Skepsis noch verstärkt, ist verständlich. Diese Skepsis muss ernstgenommen werden, darf aber nicht dazu missbraucht werden, mit populistischen Mitteln Ängste vor EU-Erweiterungen zu schüren. Das Thema Erweiterung darf nicht totgeschwiegen werden. Nicht nur die EU-Kommission, sondern auch die politischen Akteure in den einzelnen Mitgliedstaaten müssen ihre Positionen immer wieder offen darlegen, erklären und um Zustimmung werben.

6. Im Prozess der EU-Annäherung und während des Beitrittsprozesses müssen Zivilgesellschaft und verschiedene Ebenen des Kandidatenlandes mit einbezogen werden. Eine kritische Öffentlichkeit im Kandidatenland und ihre Bewertung der Entwicklungen sollte in der EU Gehör finden. Nur wenn der EU-Beitritt und die damit verbundenen Reformen auch von der Gesellschaft als Fortschritt empfunden und mitgetragen werden, wird die Integration wirklich gelingen. Dabei gilt es, verschiedene Ebenen einzubinden, bis hin zu kommunalen Strukturen.

Hinsichtlich des Monitoringprozesses könnten über die bereits existierenden Mechanismen hinaus eine verstärkte Einbeziehung der Zivilgesellschaft und die Einrichtung von Beobachtungsmissionen, finanziert über eine ausgebaute Fazilität zur Förderung der Zivilgesellschaft, in Erwägung gezogen werden. Weiterhin wäre zu prüfen, ob eine erste Beratung der Entwürfe von Fortschrittsberichten in Form von runden Tischen zwischen Regierung und Zivilgesellschaft des jeweiligen Beitrittslandes einen Beitrag zur gesellschaftlichen Akzeptanz des Wertekanons der Gemeinschaft leisten kann. Die Fortschrittsberichte der EU stützen sich oft auf Informationen der jeweiligen Regierungen. Die Einbeziehung von Perspektiven aus der Zivilgesellschafft oder von Ebenen unterhalb der Regierung sollte intensiviert werden, um die Aussagekraft von Fortschrittsberichten zu erhöhen.

7. Soziale Aspekte müssen noch stärker einbezogen werden. Soziale und gesellschaftliche Herausforderungen wie Arbeitslosigkeit, fehlende Perspektiven für Jugendliche, die aufklaffende Schere zwischen Arm und Reich, demographischer Wandel, Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit, Migration und Integration treiben nicht nur die EU-Mitgliedstaaten um, sondern sind gerade auch für die (potentiellen) Kandidatenländer brandaktuell. Dies wird in den Ländern des westlichen Balkans sehr deutlich. Daher sollten diese Aspekte mit größerer Aufmerksamkeit bedacht und mehr gemeinsame Strategien entwickelt werden.

8. Kein Land erhält politischen Rabatt. Die Hürden für den tatsächlichen Beitritt dürfen auch bei einem früheren Verhandlungsbeginn keinesfalls abgesenkt werden. Die zuvor vereinbarten Bedingungen der EU müssen ausnahmslos erfüllt sein.


II. NACHBARSCHAFTSPOLITIK

Die Europäische Union verfolgt mit der Nachbarschaftspolitik das Ziel, in ihrer Nachbarschaft Prosperität, Stabilität sowie Frieden und Sicherheit zu befördern. Sie tut dies in dem Bestreben, die Situation in ihren Nachbarländern zu verbessern, was auch ihren eigenen Wirtschaftsund Sicherheitsinteressen zuträglich ist. Dabei geht es für die EU und ihre Mitgliedstaaten um die Verhinderung von Krieg, Gewalt und deren Nebenfolgen (z. B. unkontrollierte Migration), die Verbreitung des eigenen Wertekonzeptes (Achtung der Menschenrechte, freiheitlich-demokratische Grundordnung, Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft) sowie den Zugang zu Absatzmärkten und Ressourcen (Rohstoffe, Energie, qualifizierte Arbeitskräfte). Durch eine Annäherung an die EU versprechen sich Nicht-EU-Staaten zunehmenden Wohlstand, politische und wirtschaftliche Stabilität sowie Frieden und Sicherheit. Gleichzeitig verfolgen aber auch andere Länder in der direkten Nachbarschaft der EU ihre politischen und wirtschaftlichen Interessen, um an Einfluss zu gewinnen - nicht ohne Erfolg.


Der europäischen Nachbarschaftspolitik fehlt es an Schwung

Sowohl der südlichen als auch der östlichen europäischen Nachbarschaftspolitik fehlt es an Schwung. So war die französische Initiative einer Mittelmeerunion mangels konkreter Ergebnisse schon lange vor dem Ausbruch der arabischen Rebellionen, angesichts derer die EU sich überfordert zeigte, gescheitert. Es ist dringend geboten, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten neue, wirksame Strategien zur Kooperation mit den Staaten der südlichen Nachbarschaft und den arabischen Ländern im Umbruch entwickeln, um deren demokratische und wirtschaftliche Stabilisierung zu unterstützen.

Nachfolgend soll es zunächst jedoch um die Östliche Partnerschaft (ÖP) gehen. Deutschland sollte sich hier in einem besonderen Maße an der Entwicklung und Umsetzung neuer Initiativen beteiligen. Vorschläge zur MENA-Region (Mittlerer Osten und Nordafrika) werden wir in einem gesonderten Papier darlegen.


Die Östliche Partnerschaft weiter entwickeln

Die auf polnisch-schwedische Initiative geschaffene Östliche Partnerschaft bedarf einer Neuausrichtung. In den sechs Ländern der Östlichen Partnerschaft (Belarus, Ukraine, Republik Moldau, Aserbaidschan, Armenien und Georgien) verfolgt die EU das Ziel, ihre Nachbarschaft zu stabilisieren, indem sie zu deren wirtschaftlichem Erfolg und zur Entwicklung von rechtsstaatlich verfasster Demokratie beiträgt. Aus Sicht der EU liegt eine solche Politik auch im Interesse Russlands. Russland sieht dies derzeit jedoch teilweise anders: Es betrachtet die meisten Länder der ÖP als Einflussbereich, hat die Gründung der ÖP zunächst als Affront aufgefasst und Angebote der Zusammenarbeit in diesem Rahmen ausgeschlagen. Die Anbindung an die EU ist für die Länder der ÖP keinesfalls ohne Alternative. Im Gegenteil: Diese Länder suchen aktiv nach Konzepten für die eigene Entwicklung. Einige schwanken zwischen einer engeren Bindung an Russland, die EU oder die Türkei und China. Ob die EU für die Länder der Region zum bevorzugten Partner wird, hängt von der Attraktivität ihrer Politik ab. Die EU sollte in dieser Region den Wandel durch Kooperation begünstigen anstatt einen bereits vollzogenen Wandel zu fordern.


Russland als strategischen Partner einbeziehen

Trotz der zurzeit besorgniserregenden innerstaatlichen Entwicklungen innerhalb der Russischen Föderation im Zusammenhang mit der dritten Amtszeit von Präsident Putin ist und bleibt Russland ein sehr wichtiger strategischer Partner der EU, sowohl politisch als auch wirtschaftlich. Auch wenn die EU und Russland in Fragen der östlichen Partnerschaft unterschiedlicher Meinung sind, muss die EU gegenüber Russland weiterhin deutlich machen, dass sich ihre Nachbarschaftspolitik nicht gegen Russland richtet. Deshalb muss der Dialog mit Russland ein Bestandteil der Politik für die östliche Partnerschaft sein. Ein »Kalter Krieg« um die ÖP-Länder ist weder für diese selbst noch für die EU bzw. Russland, China oder die Türkei von Interesse. Im Gegenteil: mit den anderen großen Playern konstruktiv zusammenzuarbeiten, liegt im Interesse aller Beteiligten.


Konditionalität: Nötiges Druckmittel oder Hemmschuh?

Die Europäische Union hat es in der Östlichen Nachbarschaft mit schwierigen Partnern zu tun: Die Länder weisen schwerwiegende Defizite in Hinblick auf Rechtstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte auf. Für die Erweiterungspolitik ist es wichtig, dass die EU eine strenge Konditionalität anwendet, denn nur so kann die Handlungsfähigkeit einer erweiterten EU gewahrt werden. Auch in der Nachbarschaftspolitik braucht die EU Anreize und »Druckmittel«. Die Anwendung strenger Konditionalität macht eine Zusammenarbeit jedoch schwierig. Die EU muss zu ihren Werten stehen, Missstände offen benennen und Reformen einfordern, sonst verliert sie jedwede Glaubwürdigkeit. Gleichzeitig müssen die Partnerländer jedoch dort abgeholt werden, wo sie stehen, denn sonst würde die Konditionalität schnell zum Hemmschuh werden. Tiefgreifender Wandel im Sinne europäischer Werte kann nicht die Voraussetzung für Dialog und Kooperation sein, er bleibt ihr Ziel. Eine Politik der kleinen Schritte kann viel erreichen, vor allem wenn neben den - oft unbequemen - Regierungen auch progressive Kräfte auf verschiedenen Ebenen sowie die Bevölkerung eingebunden werden.


EU-Beitritt: nicht auf der Agenda, aber nicht kategorisch auszuschließen

Die Frage eines EU-Beitritts stellt sich derzeit und auf absehbare Zeit für keines der ÖP-Länder. Dies ist eine weitere große Herausforderung an die Gestaltung der europäischen Politik, hat sich doch die Beitrittsperspektive vielfach als stärkster Reformmotor und Anbindungsfaktor erwiesen. Ein Beitritt der genannten Länder kann allerdings auch nicht für alle Zeiten kategorisch ausgeschlossen werden, wie sich aus Artikel 49 Abs. 1 des Vertrages über die Europäische Union ergibt. Er muss vielmehr von der zukünftigen Entwicklung jedes einzelnen Landes abhängig sein. Der Nachbarschaftspolitik muss es also gelingen, die Partnerländer dauerhaft für eine enge und gute Zusammenarbeit zu gewinnen, ohne dabei den Anreiz einer konkreten Beitrittsperspektive bieten zu können.

Die Nachbarschaftspolitik darf nicht als eine Kopie der Erweiterungspolitik ohne Beitrittsperspektive erscheinen. Das erfordert eine Verstärkung des Engagements der EU insgesamt, aber auch neue Impulse für die Instrumente der Östlichen Partnerschaft.


Schlussfolgerungen:

1. Die Übernahme von rechtstaatlichen und demokratischen Prinzipien kann nicht zur conditio sine qua non jeder Kooperation gemacht werden. Das von der EU-Kommission formulierte Prinzip des more for more darf nicht als ein more or nothing missverstanden werden. Das Prinzip der »Belohnung« von Fortschritten durch verstärkte Hilfe, intensivierte Zusammenarbeit und schrittweise Marktöffnung bleibt richtig. Es ist aber nicht richtig, beim Ausbleiben dieser Fortschritte jede Kooperation auszuschließen. Grundlegende Reformen im Sinne europäischer Werte müssen das Ziel, können aber nicht die Voraussetzung der Zusammenarbeit zwischen EU und ÖP-Ländern sein.

2. Unterschieden in den politischen Ansätzen muss Rechnung getragen werden.Die Kooperation mit Staaten, die keinen demokratisch-rechtstaatlichen Weg wählen, muss klar von der vertieften Zusammenarbeit mit demokratisch-rechtstaatlich fortgeschrittenen Partnern differenziert werden. Länder wie Aserbaidschan oder Belarus, die erklärtermaßen an einer Entwicklung in dieser Richtung kein Interesse haben, sollten nicht mit demselben Politikansatz behandelt werden wie etwa die Ukraine oder die Republik Moldau, die sich auf eine europäische Perspektive zubewegen.

3. Die Kooperation im Rahmen der Östlichen Partnerschaft muss die Zivilgesellschaft und verschiedene Ebenen einschließen. Alle Maßnahmen, aber auch die grundsätzliche Entscheidung für oder gegen bestimmte Reformschritte müssen sowohl mit staatlichen Stellen als auch mit zivilgesellschaftlichen Akteuren diskutiert werden. Wandel entsteht durch Annäherung auf breiter Basis, also durch wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Austausch gleichermaßen. Dementsprechend müssen die zivilgesellschaftlichen Foren, aber auch die Anwendung von erfolgreichen EU-Programmen auf die Partnerländer ausgeweitet werden. Eine verstärkte Kooperation mit Ebenen unterhalb der Regierungen, beispielsweise auf kommunaler Ebene, kann für die Bevölkerung möglicherweise schnell spürbare Kontakte und Fortschritte erzielen.

4. Die Verhandlungen über Assoziationsabkommen, Freihandelsabkommen und Visaerleichterungen müssen vorangetrieben werden. Die Verhandlungen mit den einzelnen ÖP-Ländern sind unterschiedlich weit fortgeschritten und sollten mit Nachdruck vorangebracht werden. Rückschläge wie in den Verhandlungen zum Assoziationsabkommen mit der Ukraine sind frustrierend, dürfen aber nicht zum Abbruch des gesamten Prozesses und zum Erlahmen der Bemühungen führen. Visaerleichterungen sind ein Schlüsselfaktor bei der Annäherung, denn gerade durch Reisen wird Europa für die Menschen in den Partnerländern erfahrbar.

5. Die Länder der Östlichen Partnerschaft können sowohl mit der EU als auch mit anderen Partnern kooperieren. Dass die Länder der Östlichen Partnerschaft ein großes Interesse an der Kooperation mit ihrem großen und einflussreichen Nachbarn Russland, der Türkei oder auch mit China haben, ist selbstverständlich. Als souveränen Staaten steht ihnen die Kooperation mit verschiedenen Partnern frei. Solange sie nicht der EU beitreten wollen, darf auch keine »Integrationskonkurrenz« im Sinne eines Entweder-Oder konstruiert werden. So kann die Ukraine auch mit den Bereichen einer von Russland initiierten Zollunion zusammenarbeiten, die nicht im Widerspruch zu dem zwischen der EU und der Ukraine ausgehandelten Assoziierungsabkommen stehen. Wenn die Zusammenarbeit mit der EU für die jeweiligen Länder attraktiv ist und positive, spürbare Veränderungen hervorruft, werden sie dieser Zusammenarbeit auch den entsprechenden Stellenwert beimessen.

6. Die EU braucht eine ehrliche und offensive Informationspolitik. Der Dialog mit den ÖP-Ländern muss begleitet werden von einer offensiven Informationspolitik. Diese Informationspolitik ist angesichts der aktuellen Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise notwendiger denn je. Denn im Sinne der »Wettbewerbsfähigkeit« des europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells ist es entscheidend, die Fähigkeit der EU zur Weiterentwicklung und zur solidarischen Problemlösung offensiv darzustellen. Denn Europaskepsis gibt es nicht nur in der EU, sondern auch in Ländern der Nachbarschaft. Dieser Skepsis muss mit offener und ehrlicher - aber auch selbstbewusster Informationspolitik entgegengetreten werden.

7. Die EU muss sich besser abstimmen. Die einzelnen EU-Mitgliedstaaten haben zum Teil unterschiedlich ausgeprägte Interessen an den Ländern der Östlichen Partnerschaft und ebenso ein sehr unterschiedlich ausgeprägtes Maß an Interesse an dem gesamten Prozess. Polen, Schweden und Deutschland können Motor sein, müssen aber auch andere EU-Länder für ein verstärktes Engagement gewinnen.


Fazit

Will die Europäische Union ihre Position global erhalten und ausbauen, muss sie ihren Blick verstärkt nach außen richten. Dabei zeigt das Handeln vor der eigenen Haustür besonders deutlich, wie die EU aufgestellt ist. Hier hat sie im Rahmen der Erweiterungs- und der Nachbarschaftspolitik wirksame Instrumente in der Hand, die es klug anzuwenden und weiter zu optimieren gilt. Am erfolgreichsten wird die EU dann sein, wenn sie es schafft, die Bevölkerungen der ENP- bzw. (potentiellen) Kandidatenländer zu erreichen.

Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik brauchen neue Impulse und das starke Engagement der EU und ihrer Mitgliedstaaten. Deutschland als einflussreiches EU-Land ist gefordert und in der Lage, für ein Mehr an Glaubwürdigkeit, Offenheit, Transparenz, Solidarität und Engagement in ENP und Erweiterungspolitik einzutreten.


Über die Autoren

Wolfgang Kreissl-Dörfler ist Mitglied des Europäischen Parlaments und außenpolitischer Sprecher der SPD-Abgeordneten im Europäischen Parlament.

Dietmar Nietan ist Mitglied des Deutschen Bundestages und stellvertretender europapolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion.

Markus Meckel war 1990 Außenminister der ersten frei gewählten Regierung der DDR und von 1990 bis 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages.

Karsten D. Voigt war 1976 bis 1998 Mitglied des deutschen Bundestages und von 1983 bis 1998 außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion.

Katharina Abels ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Dietmar Nietan, MdB.

Olaf Böhnke leitet das Berliner Büro des European Council on Foreign Relations.

Stefan Dehnert ist Programmkoordinator des Bereichs Südosteuropa im Referat Mittel- und Osteuropa der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Dr. Robert Ernecker ist Referent der SPD-Bundestagsfraktion.

Sascha Götz betreibt die Webseite www.moe-kompetenz.de. Er war für Abgeordnete des Deutschen Bundestages und als Geschäftsführer des MitOst e. V. tätig.

Dr. Kai-Olaf Lang leitet derzeit die Forschungsgruppe EU-Integration der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Nadja Pohlmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Wolfgang Kreissl-Dörfler, MdEP.

Klaus Suchanek ist ehemaliger Mitarbeiter des SPD-Parteivorstandes.

*

Impressum

Friedrich-Ebert-Stiftung
Internationale Politikanalyse | Abteilung Internationaler Dialog
Hiroshimastraße 28 | 10785 Berlin | Deutschland
Verantwortlich:
Dr. Ernst Hillebrand, Leiter Internationale Politikanalyse
Tel.: ++49-30-269-35-7745 | Fax: ++49-30-269-35-9248
www.fes.de/ipa
Bestellungen/Kontakt hier: info.ipa@fes.de

Die in dieser Publikation zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.

ISBN 978-3-86498-505-8

*

Quelle:
Friedrich-Ebert-Stiftung
Internationale Politikanalyse | Abteilung Internationaler Dialog
Hiroshimastraße 28 | 10785 Berlin | Deutschland
Verantwortlich: Dr. Ernst Hillebrand,
Leiter Internationale Politikanalyse
Tel.: ++49-30-269-35-7745 | Fax: ++49-30-269-35-9248
www.fes.de/ipa


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Mai 2013