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ITALIEN/365: Zehn Tote am Arbeitsplatz in 48 Stunden erschüttern das Land (Gerhard Feldbauer)


Massaker am Arbeitsplatz erschüttern Italien

Zehn Tote in 48 Stunden

von Gerhard Feldbauer, 30. September 2021


In Italien "hört die dramatische Serie von Todesfällen bei der Arbeit nicht auf", berichtete die staatliche Nachrichtenagentur ANSA am Donnerstag. Nachdem es bis zum Dienstag an einem einzigen Tag sechs Tote bei Unfällen am Arbeitsplatz gegeben hatte, stieg die Zahl in 48 Stunden nach offiziellen Angaben auf zehn an. Zuletzt wurde am Mittwochabend in Cologna Veneta bei Verona ein Arbeiter von einem Lastwagen zerquetscht. In der Provinz Pisa wurde in Pontasserchio ein 54-jähriger Bauer von den Klingen einer Landmaschine regelrecht enthauptet. Die "Blutspur begann", so ANSA, in Pieve Emanuele bei Mailand, wo auf dem Campus der Humanitas, der mit dem gleichnamigen Krankenhaus verbunden ist, ein Strahl flüssigen Stickstoffs zwei Techniker einer Firma traf und tödliche Gefrierverbrennungen verursachte. Die Staatsanwaltschaft Mailand hat hier ein Ermittlungsverfahren wegen Totschlags gegen unbekannt eingeleitet und die Beschlagnahme des Tankers und der Tank-Zisterne, in der die Flüssigkeit deponiert wird, angeordnet.

Bereits im August hatte es über ein Dutzend Tote am Arbeitsplatz gegeben, ohne dass die Regierung davon Notiz nahm. Nachdem die Todesfälle innerhalb 48 Stunden um weitere zehn angestiegen waren, äußerte sich Premier Draghi nun am Mittwoch dazu, verlas die Namen und das Alter der Opfer und sprach sein "tiefstes Beileid" aus. Er musste einräumen, "das Thema Arbeitstote nimmt immer mehr die Konturen eines Massakers an, das das wirtschaftliche und psychologische Umfeld des Landes verwüstet", zitierte ANSA. Er kündigte "schärfere und sofortige Strafen für die Verantwortlichen" an und "Maßnahmen zur Zusammenarbeit mit den Unternehmen, um Schwachstellen in Bezug auf die Arbeitssicherheit frühzeitig zu erkennen".

Mit dem Hinweis, dass die Sicherheit am Arbeitsplatz auch Gegenstand der Gespräche der Regierung mit den Gewerkschaften über ihren Beitritt zu dem mit der Confindustria geschlossenen Sozialpakt ist, will Draghi, wie Beobachter in Rom vermerken, das Thema mit deren Beitritt koppeln. Dazu versprach Draghi, eine Datenbank zur Erleichterung der Sicherheitskontrollen am Arbeitsplatz einzurichten und dafür 2.300 Inspektoren neu einzustellen.

Es sind späte Einsichten, denn die Gewerkschaften haben seit Jahren auf die steigenden Zahlen der Unfalltoten in den Unternehmen aufmerksam gemacht. Laut dem jüngsten Bericht des Statistikamtes Istat, den die Südtirol News veröffentlichte, werden pro Jahr etwa 650.000 Arbeitsunfälle verzeichnet. Dazu kommt eine hohe Dunkelziffer, denn ein großer Teil der Verunglückten sind illegale Einwanderer und prekär Beschäftigte, meistens auf dem Bau. Große Konzerne verlagern außerdem Fertigungen mit hohem Unfallrisiko in kleine Subunternehmen, wo es keine Sicherheitskontrollen am Arbeitsplatz gibt.

Nach einem Bericht des Fatto Quotidiano hat sich die nun seit rund 18 Monaten andauernde Corona-Krise stark auf die Arbeitsbedingungen ausgewirkt. So nahm 2020 mit offiziell 1.538 die Zahl tödlich am Arbeitsplatz verunglückter Arbeiter*innen im Vergleich zum Vorjahr um 29% zu. Dieser Trend bestätigt sich mit 9,3% mehr Arbeitstoten auch im ersten Quartal 2021.

Als ein weiteres erschreckendes Resultat kommt die aufgedeckte Irregularität in den Betrieben hinzu. Im Jahr 2020 wurden 7.486 Unternehmen kontrolliert. In 86% der kontrollierten Fälle deckten die Arbeitsinspektor*innen Missbräuche bezüglich des Arbeitsschutzes oder der Arbeitsverträge (sogenannte "Schwarzarbeit") auf. Diese Irregularität wird als ein weiterer Grund für die hohe Zahl von Toten am Arbeitsplatz gesehen. Das nationale Arbeitsinspektorat - ein Instrument, um die Irregularität aufzudecken und zu bekämpfen - wird dennoch seit Jahren abgebaut: Im Jahr 2020 zählte es 246 Inspektor*innen auf dem ganzen italienischen Territorium, im Jahr zuvor waren es noch 21 mehr gewesen. Auch die jetzt von Draghi versprochene Neueinstellung von 2.300 Inspektor*innen dürfte kaum ausreichen, die Lage zu verbessern.

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Quelle:
© 2021 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 5. Oktober 2021

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