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ITALIEN/171: 60 Jahre EU - Kein Grund zum Feiern (Gerhard Feldbauer)


Kein Grund zum Feiern

Die EU hat auch Italien wirtschaftlichen Kahlschlag, Massenelend, Demokratieabbau gebracht und rechtsextreme Prozesse befördert

von Gerhard Feldbauer, 29. März 2017


Zehntausende demonstrierten am Sonnabend in Rom zum 60-jährigen Jahrestag der Geburt der heutigen EU gegen das, was sie auch in Italien hervorbrachte: wirtschaftlichen Kahlschlag, nie gekannte Verelendung, Demokratieabbau und faschistoid geprägte rechtsextreme Entwicklungen. In der Gemeinschaft herrschten von Beginn an Konkurrenz und Interessenkonflikte, was in Italien zum "Gesundschrumpfen" Hunderttausender Landwirtschaftsbetriebe führte. Aber Rom profitierte von der sogenannten Freizügigkeit der Arbeitskräfte. Es wurde rasch über eine Million Arbeitslose los. Sie gingen zu einem Großteil in die Bundesrepublik, wo sie billig bezahlte Arbeit fanden und das Elend ihrer zurückgebliebenen Familien etwas lindern konnten. Brosamen fielen auch für die Beschäftigten in der Wirtschaft ab, die bis in die 60er Jahre in der Industrie jährliche Zuwachsraten von im Durchschnitt 9,1 Prozent, in der Zeit des "Wirtschaftswunders" (1959-1963) sogar 10,7 Prozent erreichte. Das Nationaleinkommen wuchs um 47 Prozent. Bis Mitte der 60er sank die Zahl der Arbeitslosen nach offiziellen Angaben von zwei unter eine Million.

In den 70er Jahren ging der Aufschwung in Folge der 1973er Ölkrise zu Ende. Als Bremsklotz wirkten die festgelegten Wechselkurse, die nur eine Bandbreite von 2,25 Prozent nach unten oder oben zuließen. Zu ihrer Durchsetzung entfesselte die Deutsche Bank einen Währungskrieg. Wie London verließ auch Rom 1992 aus Protest das Europäische Währungssystem (EWS). Führende Privatkonzerne wie FIAT setzten 1996 unter der Mitte Links-Regierung von Romano Prodi, dessen Wahl sie 1996 favorisiert hatten, die Rückkehr durch. Wiederum diktierte die deutsche Wirtschaft die Bedingungen. Das Haushaltsdefizit musste um 62 Milliarden DM gesenkt, die Inflationsrate von 5,9 Prozent auf maximal drei gedrückt, der mit zwei Billionen Schulden und Defiziten von zehn Milliarden DM belastete Staatshaushalt binnen zwei Jahren saniert werden. Neben der Fortsetzung der Privatisierung der Enti pubblici (öffentliche bzw. staatliche Unternehmen) wurde die Rückkehr ins EWS mit weiterem Sozialabbau bezahlt.

Brüssel beförderte die rechtsextreme Entwicklung und schaute tatenlos zu, wie der faschistoide Mediendiktator Silvio Berlusconi 1994 die verfassungswidrige Sozialbewegung (MSI), einen Nachfolger der verbotenen Mussolinipartei, zusammen mit der offen rassistischen Leg Nord in seine erste Regierung und in die folgenden 2001-2006 und 2008-2011 aufnahm. Der Führer der 1995 in Alleanza Nazionale (AN) umgetauften MSI, Vizepremier Gianfranco Fini, der den "Duce" als "größten Staatsmann" feierte, wurde 2002 Mitglied des EU-Verfassungskonvents und Berlusconi übernahm im Juli 2003 die Ratspräsidentschaft der Union. Lega-Führer Umberto Bossi konnte unwidersprochen 2008 im Wahlkampf Mordhetze gegen Migranten betreiben und äußern, es sei leider "leichter Ratten zu vernichten als Zigeuner auszurotten".

Die wirtschaftliche und soziale Bilanz zum Jubiläum ist verheerend. Das BIP ist seit 2007 um neun Prozent gesunken, die Industrieproduktion um 25 Prozent. Die Staatsverschuldung beträgt mit 2.100 Milliarden Euro 130 Prozent des BIP. Im Juli 2014 berichtete das Amt für Statistik ISTAT, dass zehn Millionen Italiener (17 Prozent der Bevölkerung) in bitterster Armut leben. 7,9 Millionen darunter waren "absolut arm", was heißt, sie konnten sich keinen "gerade noch akzeptablen Lebensstandard leisten". In Süditalien war die Lage noch dramatischer. Dort wurden 26 Prozent "relativ" und 12,6 Prozent als "absolut arm" bezeichnet. ISTAT zufolge hatte sich im gleichen Zeitraum die Zahl der ärmsten Kinder von 723.000 auf 1,434 Millionen verdoppelt. In einem Bericht von UNICEF hieß es, dass 15,9 Prozent der Kinder bis 17 Jahre in Armut leben, weil das Mittelmeerland weniger als fünf Prozent seines Bruttosozialprodukts für Hilfsleistungen ausgibt. Im Oktober 2014 ging aus einem Bericht des Instituts für Sozialfürsorge (INPS) hervor, dass die Hälfte der 13,6 Millionen Rentner mit weniger als 1.000 Euro auskommen musste. Diese Menschen lebten bereits an der Armutsgrenze, die mit 999,67 Euro angegeben wurde. 2,1 Millionen mussten mit Altersbezügen unter 500 Euro dahinvegetierten, in Neapel Tausende sogar "mit einer Hungerpension von 272 Euro monatlich auskommen".

Die Jubelfeiern zum 60. Jahrestag seien deshalb, wie der Präsident des Centro Europa Ricerche (CER), Vladimiro Giacché, einschätzt, Merkmale von "Realitätsferne, Arroganz und undemokratischer Haltung" der heutigen Regierenden.

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Quelle:
© 2017 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. März 2017

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