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ITALIEN/048: Italien übernimmt EU-Ratspräsidentschaft (Gerhard Feldbauer)


Italien übernimmt EU-Ratspräsidentschaft

Premier Renzi will Budget-Regeln lockern

von Gerhard Feldbauer, 30. Juni 2014



Am 1. Juli übernimmt Italiens Premier Matteo Renzi, der erst seit Februar dieses Jahres im Amt ist, turnusgemäß für sechs Monate die EU-Ratspräsidentschaft. Bei den EU-Wahlen im Mai hat der frühere Christdemokrat und jetzige Chef der italienischen Sozialdemokraten (Demokratische Partei - PD) mit 41,8 Prozent europaweit das beste Wahlergebnis eingefahren. Den Wählerzulauf hat sich der mit 38 Jahren nicht nur in Italien jüngste Regierungschef zu Hause mit Einsparungen durch Verwaltungsreformen - Abschaffung der Provinzen, demnächst des Senats als zweiter Kammer, Gehaltsreduzierungen für Staatsangestellte - und einer Steuersenkung für 10 Millionen Beschäftigte, die erst einmal 80 Euro monatlich in die Lohntüte bringen, verschafft.


Vorbild Bundeskanzler Gerhard Schröder

Renzi, der früher schon Tony Blair nacheiferte, will sich jetzt den früheren deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder zum Vorbild nehmen. Vor seinem Amtsantritt in Brüssel hat er dem Ministerrat noch ein 1000-Tage-Programm (vom 1. September dieses Jahres an) für soziale Verbesserungen mit Schwerpunkt Arbeitslosigkeitsbekämpfung angekündigt. Eine Modernisierung der Infrastruktur soll dem "wirtschaftlichen Aufschwung" Antrieb verschaffen. Den Aufschwung hat er bitter nötig, denn laut des Industriellenverbandes Confindustria wird das BIP (Bruttoinlandsprodukt) dieses Jahr statt wie vorgesehen, um 0,8 lediglich um 0,2 Prozent steigen. Arbeitsminister Giuliano Poletti klagt am Montag in "La Repubblica", dass der sogenannte "Jobs act" nicht funktioniert, die Arbeitslosigkeit zunimmt und ihm eine Milliarde Euro für die Cassa integrazione (Arbeitslosenunterstützung) fehlt. Für den "Aufschwung", den Wirtschaftsexperten als eine "außerordentliche keynesianische Operation" bezeichnen, will Renzi in den nächsten fünf Jahren in Brüssel 150 Milliarden Euro locker machen. Dass im Rahmen von ausländischen Investitionen die großen Staatsunternehmen zu Disposition stehen, wird von der linken "Unita" eher nebenbei erwähnt.


Seitenhieb gegen Merkel

Mit seinem "Reformpaket" will der Italiener jetzt in Brüssel punkten und die drittgrößte Wirtschaft der Eurozone zu einem Vorreiter für einen neuen EU-Kurs machen. Italien brauche "keine Bevormundung", es müsse "selbstbewusst auftreten" erklärte er und führte an, es habe einen großen Beitrag für Europa geleistet. Der Premier habe, wie ANSA berichtete, auf dem EU-Gipfel vom vergangenen Freitag zwar nicht die 3-Prozent-Regel des BIP (die Maastricht-Grenze für die Neuverschuldung) in Frage gestellt, aber eine "flexible Auslegung" gefordert und dazu gegenüber der deutschen Bundeskanzlerin Merkel eine "harte Position" bezogen, unterstrich "La Repubblica". Andere Medien, darunter der großbürgerliche Mailänder "Corrie della Sera", hoben Renzis Seitenhieb gegen Merkel hervor, dass Italien - im Gegensatz zu Frankreich und Deutschland, die 2003 eine vorübergehende Überschreitung der Defizitlimite durchsetzten - die Regel stets eingehalten habe.


Kritik an kleinkarierten Anweisungen

Der EU-Ratspräsident für das anlaufende Semester kritisierte scharf die "Propheten und Priester der Budgetdisziplin", die "kleinkarierte Anweisungen" erließen, nach denen die Defizitlimite nach Dezimalstellen eingehalten werden sollen, was auf Kosten des Wirtschaftswachstums gehe. Es gehe "um die Zukunft der EU", gab "La Repubblica" Renzi warnend wieder, der unter seiner turnusmässigen Rats-Präsidentschaft die Wende zu einer "weitsichtigen und wachstumsorientierten Politik" einleiten wolle. Die Regeln ließen sich "auf die eine oder andere Art" befolgen und gegen den Stabilitäts- und Wachstumspakt verstießen die, die stur die Einhaltung der Budgetdisziplin verlangten. Unter Bezug auf sein dreijähriges "Reformprogramm" forderte er, Ländern, die Wirtschaftsreformen durchführen, ein langsameres Tempo für den Schuldenabbau zuzugestehen.


Posten des Vize von Junckers für Italien

Der amtierende Ratspräsident will auch bei der Besetzung der neuen Kommissionsposten ein Wort mitreden. Als seine starke Stütze soll ihn seine Außenministerin Federica Moghereni als EU-Kommissarin nach Straßburg folgen. Im Gespräch ist auch der mehrmalige Ministerpräsident und langjährige Sekretär der Linksdemokraten (aus der die heutige PD hervorging) Massimo D'Alema. Dafür, dass seine Sozialdemokraten Jean Claude Junckers zustimmten, soll Mogherini oder D'Alema Vize des neuen EU-Chefs werden. So einfach dürfte es für Renzi aber nicht werden. Ist mit Junckers doch ein Ziehsohn des einstigen Bundeskanzlers Helmut Kohl und ausgesprochener Parteigänger der EU-Führungsmacht auf den Chefsessel in Brüssel gekommen. Renzi hoffe wohl im Bunde mit Frankreichs Präsident Hollande, mit dem abgewirtschafteten und umstrittenen Ex-Premier Luxemburgs (über dessen Schwäche sich selbst die "FAZ" vom Montag ausließ), der seine Wahl nur mit Hilfe der deutschen Kanzlerin schaffte, leichtes Spiel zu haben, meinen Beobachter in Rom.


Gewerkschaftsproteste vor EU-Sitz in Rom

In Rom folgten am Sonnabend Tausende Arbeiter, Rentner und Studenten einem Aufruf der Basis-Gewerkschaften und protestierten vor dem EU-Sitz gegen die Austeritätspolitik, verlangten "Schluss mit dem Diktat der EU" und warnten, dass vor den Toren Europas ein Krieg drohe. Während der halbjährigen Rats-Präsidentschaft Italiens wollen sie weitere Proteste gegen die zunehmende soziale und Bildungsmisere durchführen. 50.000 Rentner unterschrieben eine dem Premier übergebene Petition, in der sie Maßnahmen gegen ihr Elendsdasein fordern.

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Quelle:
© 2014 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Juli 2014