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GRENZEN/183: Melilla - mindestens 23 Menschen sterben am Grenzzaun zwischen Marokko und Spanien (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Spanien
Melilla - mindestens 23 Menschen sterben am Grenzzaun


27 tote und hunderte verletzte Migrant*innen und marokkanische Polizeikräfte: Sinnbild für das Scheitern einer sicherheitsorientierten Migrationspolitik


Das Bild zeigt die Grenzanlage zwischen Marokko und der spanischen Exklave Mellila bestehend aus aus zwei hohen mit Natodraht bestückten Grenzzäunen, die in einem Abstand von 4-5 Metern zueinander parallel verlaufen. Foto: Repovesi, CC BY-SA 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0], via Wikimedia Commons

Grenzanlage von Mellila
Foto: Repovesi, CC BY-SA 3.0
[https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0], via Wikimedia Commons

(Melilla, 25. Juni 2022, ANRed/El Salto) - Etwa 2.000 Migrant*innen haben am Freitagmorgen versucht, den Zaun zu überwinden, der die spanische Exklave Melilla umgibt. Marokkanische und spanische Sicherheitskräfte schlugen mit brutaler Gewalt zurück. Wie viele Menschen im Zuge der anschließenden zweistündigen Schlacht zu Tode kamen, steht noch nicht fest; bisher wurden 23 Todesfälle bestätigt. Menschenrechtsorganisationen gehen von über vierzig Menschen aus, die durch Schläge und Schüsse getötet wurden, dazu kommen etliche Verletzte. Der Großteil der Migrant*innen stammt aus den Ländern südlich der Sahara. In diesem Jahr sind bisher 1402 Einwanderer über die Exklavenstädte Ceuta und Melilla nach Spanien eingereist, das sind etwa 80 Prozent mehr als im Vorjahr.


Seit Wochen hatte sich die Lage zugespitzt

Die Tragödie des 24. Juni hatte sich bereits seit längerem angebahnt. In den letzten Wochen waren die Sicherheitskräfte im Umfeld der Stadt Nador immer wieder mit Massenverhaftungen, Razzien in Lagern und Zwangsumsiedlungen gegen Migrant*innen vorgegangen. Mit der Wiederaufnahme der Zusammenarbeit zwischen Marokko und Spanien im Kontext der Grenzsicherung wurden die koordinierten Aktionen zwischen den beiden Ländern ab März 2022 massiv intensiviert. Bei diesen Aktionen kam es im Norden (Nador, Tetouan und Tanger) sowie im Süden Marokkos (El Aaiun, Dakhla) immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen gegen Migrant*innen. Das Drama des 24. Juni ist die Folge des stetig gestiegenen Drucks gegen die Vertriebenen.


Elend in den Lagern

Seit mehr als anderthalb Jahren haben die Migrant*innen in Nador keinen Zugang zu Medikamenten oder medizinischer Versorgung, ihre Lager wurden geplündert und niedergebrannt, ihre spärliche Nahrung vernichtet, und sogar das bisschen Trinkwasser, das ihnen in den Lagern zur Verfügung steht, wurde beschlagnahmt. Die Gewalt gegen die Flüchtenden war von nationalen, regionalen und UN-Gremien bereits bei zahlreichen Gelegenheiten verurteilt worden. Der spanische Präsident Pedro Sánchez hingegen äußerte sich nach dem brutalen Polizeieinsatz lobend über die gute Mitarbeit der marokkanischen Streitkräfte bei der Bekämpfung afrikanischer Migrant*innen. Als Reaktion auf die Ereignisse unterzeichneten mehrere Menschenrechtsorganisationen mit Schwerpunkt Migration die folgende Erklärung:


29 Tote an europäischen Grenzen: Das spanisch-marokkanische Einwanderungsabkommen tötet

"Die tragischen Ereignisse vom 24. Juni 2022 an der Grenze zwischen Nador und Melilla in Marokko sind ein blutiger Verweis auf das Scheitern der sicherheitsorientierten Migrationspolitik. 27 tote und hunderte verletzte Migrant*innen und marokkanische Polizeikräfte sind das tragische Sinnbild der Politik der Europäischen Union (EU), die auf Abschottung der Grenzen setzt. Ein Land des Südens trägt ebenfalls Schuld an der Katastrophe: Marokko. Der Tod der jungen Afrikaner an den Grenzen der "Festung Europa" führt uns die blutigen Folgen der spanisch-marokkanischen Zusammenarbeit zum Schutz vor Einwanderung vor Augen.

  • Wir sprechen den Familien der Opfer, sowohl auf Seiten der Migrant*innen als auch in den Reihen der Ordnungskräfte, unser tiefstes Beileid aus.
  • Wir verurteilen, dass die verletzten Migrant*innen nicht sofort versorgt wurden, das hat die Zahl der Opfer weiter in die Höhe getrieben.
  • Wir fordern eine angemessene medizinische Versorgung für alle Verletzten, die nach dieser Tragödie ins Krankenhaus eingeliefert wurden.
  • Wir fordern die marokkanischen Behörden auf, die Toten in Zusammenarbeit mit den Gemeinschaften der Migrant*innen zu identifizieren und die sterblichen Überreste der Opfer an ihre Familien zurückzugeben.
  • Wir fordern eine unverzügliche Untersuchung der Ereignisse durch Marokko und Spanien, und zwar durch unabhängige Kommissionen, sowie eine internationale Untersuchung, damit die Umstände dieser menschlichen Tragödie geklärt werden.
  • Wir fordern ein Ende der kriminellen Politik der EU, die in Kooperation mit verschiedenen Staaten sowie internationalen und zvilgesellschaftlichen Organisationen durchgezogen wird.
  • Wir fordern die diplomatischen Vertretungen der afrikanischen Länder in Marokko auf, ihre Verantwortung für den Schutz ihrer Bürger in vollem Umfang wahrzunehmen, statt sich zu Handlangern der Politik zu machen.
  • Wir befinden uns in einem kritischen Moment. Das Recht auf Leben ist in Gefahr. Wir appellieren an alle Menschenrechtsorganisationen und Initiativen, die für die Rechte von Migrant*innen kämpfen, nicht tatenlos zuzusehen und Position zu beziehen."


Aus Melilla ein Kommentar der spanischen Juristin und Politologin Irene Graiño Calaza:

Derzeit gibt es 27 tote Migranten und Hunderte von Verletzten (Stand: 25. Juni). Bilder und Videos von AMDH Nador und anderen Organisationen zeigen die enorme Brutalität, mit der die marokkanische Polizei in Zusammenarbeit mit den spanischen Streitkräften gegen die Einreise von Migrant*innen vorgeht. AMDH, Caminando Fronteras, das Kollektiv der subsaharischen Gemeinschaften in Marokko, der Verband zur Unterstützung von Migrant*innen in prekären Situationen und Attac Maroc hatten die Zustände in den Lagern seit Wochen kritisiert.


Präsident Sánchez bedankt sich für die tolle Zusammenarbeit

In der Erklärung der Verbände heißt es, die Eskalation sei eine Folge der erneuten Zusammenarbeit beider Länder bei der Grenzsicherung, wobei die Annäherung zwischen der Regierung Sánchez und dem Regime von Mohammed VI. auf Kosten der Menschen in der Westsahara geht. Die Bilder von AMDH Nador zeigen die willkürliche Gewalt der "gelungenen polizeilichen Kooperation" und deren Folgen: Hunderte von Menschen, auf sich selbst gestellt, verletzt, schutzlos, die niemanden haben, der ihnen hilft, während die "Sicherheits"-Organe beider Staaten sich darin überbieten, es an Menschlichkeit fehlen zu lassen. Noch am Freitagabend bedankte sich der spanische Präsident Pedro Sánchez für das Vorgehen der marokkanischen Polizei in Melilla, die etliche Menschen das Leben kostete, und lobte "die außergewöhnliche Zusammenarbeit mit dem Königreich Marokko".


Die Festung Europa spaltet Migrant*innen in "Erwünschte" und "Kriminelle"

Wieder einmal wird die südliche Grenze zu einem Ort des Schreckens und der Entmenschlichung, einem Ort im Ausnahmezustand. Menschenrechtsverletzungen gegenüber Migrant*innen sind an der Tagesordnung. Das Szenario der Gewaltexzesse, Autoritätsmissbrauch, Straflosigkeit und Kriminalisierung werden von beiden Regierungen unter dem Label "intelligente Grenzpolitik" subsumiert und billigend in Kauf genommen. Die Südgrenze als Einfallstor und Spiegel einer Festung Europa, die Migrant*innen in "Erwünschte" und "Kriminelle" spaltet. Spanien und ganz Europa betreiben eine Politik der Selektion und Exklusion von Migrant*innen mit Hilfe hierarchischer Unterdrückungsfaktoren: Herkunft, Nationalität, Geschlecht und Ethnie. Die Zurückweisung der Migrant*innen aus den Ländern des globalen Südens verläuft entlang den historischen Achsen der Unterdrückung. Die Migrationspolitik der Mitgliedstaaten der EU wird bestimmt von Rassismus und Kolonialismus. Die "Kooperation" zwischen Spanien und Marokko bedeutet im Klartext: Marokko übernimmt für die EU die Rolle des Torwächters und kümmert sich darum, die erste Sicherheitskontrolle an der Südgrenze mit systematischer Brutalität durchzuführen. Die in den letzten Jahren eingeführten Grenzkontroll- und Sicherheitsmaßnahmen sind die tödlichste, egoistischste und unmenschlichste Facette der "Sicherheitspolitik" des globalen Nordens, die für die Menschen aus dem Süden, Tod, Gewalt und unbeschränkte Verletzung bedeutet.


Es ist an der Zeit, dass der Norden historische Verantwortung übernimmt

Die Menschen aus dem Süden fliehen. Vor Massakern und Kriegen, vor Besatzung, den Folgen der Klimakrise, vor Ressourcenverknappung, extremer Armut und Hunger, für die der Norden direkt verantwortlich ist, weil er ihnen den Zugang verwehrt und sie damit zum Tode verurteilt. Was wir sehen, sind die Auswirkungen der Geschichte, die der Norden zu verantworten hat, auch wenn er nicht gern darüber spricht. Einer Geschichte von extremster Ressourcenplünderung, Vergewaltigung, Kolonialisierung, Extraktivismus, Missbrauch, Unterstützung von Diktaturen und Machteliten, Waffenlieferungen etc., die der Westen hinter Begriffen wie "bilaterale Kollaborations- und Kooperationsabkommen" zu verbergen versucht. Es ist an der Zeit, dass der Norden historische Verantwortung übernimmt und Wiedergutmachung leistet an den Völkern, die systematisch ausgeplündert, unterdrückt und niedergemacht wurden. Als erster Akt der Verantwortung muss eine Migrations- und Asylpolitik umgesetzt werden, die ihren Namen verdient. Menschenrechtsverletzungen gegen Migrant*innen müssen gestoppt und sanktioniert werden. Wie wir sehen, setzt sich die Geschichte von Rassismus und Kolonialismus in den heutigen strukturellen Unterdrückungsmechanismen fort: Die Migrationspolitik arbeitet mit der Kontruktion des Andersseins, um Menschen aus einigen Ländern willkommen zu heißen, während andere brutal zurückgewiesen werden. Was das bedeutet, zeigen uns die Bilder aus Melilla. Die spanische Aufnahme- und Integrationspolitik muss auf Gleichheit, Nichtdiskriminierung, und den von Spanien eingegangenen Verpflichtungen zu Einhaltung der internationalen Menschenrechte erfolgen. Dass Menschen, die vor Gewalt fliehen, willkommen geheißen werden, darf nicht fallweise und auf der Grundlage einer ausgrenzenden Solidarität entschieden werden, sondern ist gemäß den europäischen und nationalen Rechtsvorschriften und den unterzeichneten internationalen Menschenrechtspakten eine Pflicht für Spanien und die EU. Die Festung Europa verstößt gegen ihre internationalen Menschenrechtsverpflichtungen und verletzt unter dem Vorwand der gemeinschaftlichen Grenzsicherung ihre eigenen Gesetze.


Die Opfer verdienen es, nicht vergessen zu werden

Was in Melilla passiert, ist extrem heftig. Es ist ein neuer Höhepunkt in der Geschichte der Abschottung, Kriminalisierung der Migration und Auslagerung der Grenzen, die in den letzten Jahren betrieben wurde. Migrationspolitik wird zu einer Politik des Todes; hier passt der von Achille Mbembe geprägte Begriff der Nekropolitik. Menschen, die vor einem Massaker fliehen, erwarten in der Festung Europa noch mehr Massaker, Gewalt und Tod. Es ist dringend erforderlich, die fortschreitende Gewalteskalation der Politik zu stoppen und Verantwortung zu übernehmen für das, was passiert. Wir brauchen eine sichere Migrationspolitik, die Menschen, die aus Notlagen fliehen, willkommen heißt. Angesichts der Gewalt in Melilla ist Schweigen eine unerträgliche Haltung, die Mitschuld schafft. Schluss mit der rassistischen und ausgrenzenden Migrationspolitik, die zu Tod und Unsicherheit führt! Die Bilder von AMDH Nador machen wütend. Also erheben wir die Stimme, um diese Menschenrechtsverletzungen und Ungerechtigkeiten anzuprangern und zu verurteilen. Die Opfer verdienen Anerkennung, Wiedergutmachung, Wahrheit und Gerechtigkeit, und sie verdienen es, nicht vergessen zu werden. Das Massaker an der EU-Grenze darf nicht ungesühnt bleiben.


Übersetzung: Lui Lüdicke


URL des Artikels:
https://www.npla.de/thema/flucht-migration/melilla-mindestens-23-menschen-sterben-am-grenzzaun/


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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 2. Juli 2022

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