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GRENZEN/096: "Wir sterben hier langsam" - zur Situation in Idomeni (Pro Asyl)


Pro Asyl - 11. Februar 2016

"Wir sterben hier langsam" - zur Situation in Idomeni


Die Balkanroute ist dicht, tausende Flüchtlinge sitzen seitdem im Grenzort Idomeni fest. Die Bedingungen dort sind erbärmlich: Durch tagelangen Regen sind die Menschen durchnässt, die provisorische Zeltstadt steht mitten im Schlamm. Mitarbeiterinnen des PRO ASYL - Projekts in Griechenland RSPA berichten aus Idomeni:

Nach Slowenien, Kroatien und Serbien hat auch Mazedonien seine Grenze für Flüchtlinge geschlossen. Nur noch Personen mit gültigen Reisepässen und Visa können einreisen. Seit Anfang der Woche hat kein einziger Flüchtling die Grenze überquert - die Menschen stecken im Grenzort Idomeni fest. Die letzten Tage haben insbesondere Familien angefangen, den Ort zu verlassen. Am Donnerstag sollen bereits 600 Menschen ihre Sachen gepackt haben. Wo sie nun unterkommen sollen, ist unklar.

Über 40.000 Menschen sitzen in Griechenland fest

In Griechenland sitzen mittlerweile schätzungsweise 42.000 Menschen fest, mehr als 13.000 davon harren momentan direkt an der Grenze in Idomeni aus - darunter Menschen mit Behinderungen, Alte, Schwangere und sogar Neugeborene. Insgesamt wird geschätzt, dass die Hälfte der Flüchtlinge, die sich momentan in Idomeni befinden, Kinder sind. Für sie ist es im nasskalten Dreck des provisorischen Zeltcamps besonders schlimm: Einige wurden bereits mit Atemproblemen, schweren Erkältungen oder einem Magen-Darm-Virus ins Bezirkskrankenhaus gebracht.

"Wir erleben hier einen zweiten Krieg"

"Wir sterben hier langsam", sagt Adam, ein junger Mann aus Damaskus. Seit mehr als zwei Wochen wartet er in einem Zelt in Idomeni, immer in der Hoffnung, dass in Brüssel eine positive Entscheidung über das Schicksal der in Griechenland festsitzenden Schutzsuchenden gefällt wird. Vor der kompletten Schließung wurden durch die Behörden bereits schrittweise die Einreisebestimmungen verschärft. Erst durften nur Schutzsuchende aus bestimmten Staaten passieren, zuletzt wurden auch Schutzsuchende aus Gebieten, die als befriedet galten, nicht mehr durchgelassen - so zum Beispiel Menschen, die aus Bagdad oder Damaskus stammten. "Ich bin aus der Staatsarmee desertiert, weil ich an diesen Bürgerkrieg nicht teilnehmen wollte", sagt Adam dazu. "Wenn ich nach Syrien zurückkehre, bin ich gleich tot."

Adam will es trotzdem weiter versuchen: "Für diejenigen, die Geld haben, gibt es auch andere Wege, mit Hilfe von Schleppern", ist er sich sicher. Ein anderer syrischer Mann, der bereits seine Frau und seine Tochter im Krieg verloren hat, fragt sich wütend, warum nicht wenigstens andere Länder den Flüchtlingen helfen, wenn Europa sich weigere: "Wir erleben hier einen zweiten Krieg", sagt er. "Europa sagt, es ist voll mit Flüchtlingen. Aber was ist mit anderen Ländern, mit den USA oder Australien?"

Ausharren in der Hoffnung auf Humanität

Mujeeb, ein 20-jähriger Afghane aus der Region Parwan, ist davon überzeugt, dass die Grenze nicht wieder geöffnet wird. Er will aber trotzdem noch ein paar Tage bleiben, um auf Nummer sicher zu gehen. "Die Islamisten vom Daesh haben gedroht, mich zu töten, wenn ich weiter Englisch studiere", sagt er. Seinen grünen Studentenausweis hat er noch in seiner Hosentasche. Da seine Familie kein Zelt hat, warten sie auf dem Bahnsteig, mit Rettungsdecken um ihre Körper geschlungen.

Auch Marwan ist schon fast zwei Wochen hier. Er sitzt erschöpft mit seiner Frau und den zwei Kindern in einem winzigen Zelt, nur ein paar Meter vom Grenzzaun entfernt. Die Zelte sind alle dicht nebeneinander aufgestellt, Abwässer von den chemischen Toiletten fließen über den Boden und sogar in die Zelte, genau dort, wo die Kinder spielen und schlafen.

Marwan ist Jeside aus dem Irak. Drei seiner Kinder hatte er schon vor ein paar Monaten mit Hilfe eines Schleppers nach Deutschland geschickt, sie sind in einer Unterkunft in Hannover. "Wir mussten weg. Unser Leben war akut in Gefahr", seufzt Marwan und zeigt uns in seinem Handy Bilder seiner Verwandten, die durch Daesh getötet wurden. Noch wartet er geduldig in Idomeni weiter, in der stillen Hoffnung, dass die Grenze doch noch geöffnet werde. "Viele der Flüchtlinge sind gar nicht informiert, dass alle Grenzen entlang der Balkanroute geschlossen sind", beobachtet eine Aktivistin.

Die europäische Relocation-Lösung funktioniert nicht

Als große Lösung für die Flüchtlinge hatte die EU im vergangenen September das Relocation-Programm präsentiert. Auch Marwan wurde über diese Möglichkeit informiert. Doch seit dem Beschluss vor 6 Monaten wurden nur 536 der geplanten 66.400 Umsiedlungen aus Griechenland in andere EU-Länder tatsächlich durchgeführt. Vor den Containern des UNHCR bilden sich trotzdem lange Schlangen, viele Flüchtlinge wollen sich über das Relocation-Programm informieren und hoffen, auf diese Weise in ein Land zu kommen, in dem sie vernünftig untergebracht werden. Denn das Camp in Idomeni, einst nur Transitstation und für 2.000 Personen ausgelegt, hat sich zu einem riesigen Schlammfeld verwandelt, auch Helfer und Ehrenamtliche sind mittlerweile überfordert.

Flüchtlingen in Griechenland droht das Leben auf der Straße

In Griechenland gibt es kein funktionierendes Asylsystem für Zehntausende. Die Aufnahmestrukturen in Land reichen nicht aus. Insgesamt beträgt die maximale Kapazität der, im ganzen Land verteilten, Unterkünfte allerhöchstens 30.000 Plätze, wie die griechische Regierung mitteilt. Darunter sind viele Stadien, Militärbaracken oder leerstehende Industriebauten, in denen Flüchtlinge untergebracht werden. Am Sonntag hatte die griechische Regierung zwar angekündigt, bis Ende der Woche 15 weitere "Hot Spots" mit einer Kapazität von insgesamt 17.400 Plätzen einzurichten, doch beim Bau dieser Strukturen können keine maßgeblichen Fortschritte beobachtet werden.

Wenn das Camp in Idomeni geräumt wird, ist zu befürchten, dass viele der Flüchtlinge letztlich auf der Straße landen werden. Von denjenigen, die den Grenzort bereits verlassen haben, befinden sich viele wieder in Athen, wo die Aufnahmestrukturen bereits überlastet sind.


URL des Artikels auf der Pro Asyl-Homepage:
http://www.proasyl.de/de/news/detail/news/wir_sterben_hier_langsam_zur_situation_in_idomeni/

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Quelle:
Pro Asyl, 11. März 2016
Postfach 160 624, 60069 Frankfurt/M.
Telefon: +49 (0) 69 - 24 23 14 - 0, Fax: +49 (0) 69 - 24 23 14 72
E-Mail: proasyl@proasyl.de
Internet: www.proasyl.de
mit freundlicher Genehmigung von Pro Asyl


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. März 2016

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