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OFFENER BRIEF/004: An Präsident Macron - "Verändern Sie unsere Institutionen und treten Sie zurück!" (Pressenza)


Internationale Presseagentur Pressenza - Redaktion Frankreich / Büro Berlin

Offener Brief an Präsident Macron: "Verändern Sie unsere Institutionen und treten Sie zurück!"

Von Pascal Maillard [1] für seinen Blog: POLARED - Petit observatoire des libertés académiques, recherche, enseignement, démocratie [2] (Kleines Observatorium der akademischen Freiheiten, Recherche, Bildung und Demokratie), 9. Januar 2019


Paris - 09.01.2019. Dieser offene Brief ist rechte- und lizenzfrei. Jeder Bürger und jede Bürgerin, mit gelber Weste, grüner Weste, roter Weste oder ohne Weste kann ihn übernehmen und teilen. Es ist ein Bürgertext und ein Werkzeug für den Kampf.


Offener Brief an Präsident Macron: "Verändern Sie unsere Institutionen und treten Sie zurück!"

"Wenn die Regierung die Rechte des Volkes verletzt, ist der Aufstand für das Volk sowie für jeden Teil des Volkes das heiligste aller Rechte und die unverzichtbarste aller Pflichten."
Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers von 1793

1. Januar 2019

Monsieur le Président,

In weniger als 18 Monaten hat Ihre Politik unser Land in einen Zustand der Gewalt versetzt, den es noch nie zuvor gegeben hat. Ihre Reformen und Ihre Machtausübung werden heute von einer Mehrheit der Franzosen abgelehnt. Der populäre Protest, der durch die Gelbwesten-Bewegung verkörpert wird, ist stark, dauerhaft und legitim.

Sie sollten Ihre Verantwortung bei der Auslösung dieser Revolte, die in Form eines Bürgeraufstands erfolgt, sorgfältig abwägen. Wenn sie "von weit her kommt", dann kommt sie auch von Ihnen.

1. Sie haben Ihr Mandat mit einem Gesetz zur Moralisierung des öffentlichen Lebens begonnen. Die Franzosen erleben jedoch täglich Praktiken, die Vetternwirtschaft, Geschäftemacherei und die Privatisierung des Staates zum Wohle von persönlichen Interessen beinhalten. Die Benalla-Affäre ist nur das sichtbarste und beklagenswerteste Symptom, nicht nur einer Verwechslung von öffentlichen Verantwortlichkeiten mit privaten Interessen, sondern auch eines frappierenden Amateurismus und einer beunruhigenden Desorganisation des Staates.

2. Sie schwächen methodisch die öffentlichen Dienste, indem Sie Zehntausende von Beamtenstellen abbauen. Sie verschärfen soziale und territoriale Ungleichheit durch zahlreiche unkoordinierte Reformen, die die gesamte Bevölkerung betreffen: Jugendliche, Arbeitnehmer, Arbeitslose und Rentner. Nach der Schule, der Universität, dem Gesundheitswesen, dem Arbeitsgesetzbuch, der SNCF (staatl. Eisenbahngesellschaft) und der Justiz wollen Sie sich nun mit Renten, der Arbeitslosenversicherung und dem gesamten öffentlichen Dienst befassen. Wenn die Bürger dies zulassen, werden Sie am Ende Ihrer Amtszeit das, was Sie vom Sozialstaat übrig gelassen haben, verschwendet, die öffentlichen Dienste abgebaut und die Zerstörung der Errungenschaften des Conseil national de la Résistance (Nationaler Widerstandsrat) abgeschlossen haben.

3. Sie haben Ihre Reformen mit einer autoritären Machtpraxis durchgesetzt, indem Sie Verordnungen missbraucht, Volksvertreter missachtet, Ihre eigene Mehrheit mundtot gemacht und den sozialen Dialog systematisch umgangen haben. Und was die Menschen nicht vergessen werden, ist, dass Sie immer wieder grenzenlose Herablassung und Verachtung gegenüber einfachen Bürgern, Oppositionellen, lokalen Mandatsträgern und Vermittlungsorganisationen zwischen Staat und Bürgern (z.B. Gewerkschaften; Anm.d.Ü) gezeigt haben.

4. Angesichts des sozialen Protestes haben Sie sich für polizeiliche und juristische Repressionen, mit ihrem Anteil an Gewalt, sowie für präventive und willkürliche Verhaftungen entschieden. Sie bringen unser Land jeden Tag ein wenig mehr außerhalb des Gesetzes. Finanz-Kriminelle sind auf freiem Fuß, während Gymnasiasten und friedliche Demonstranten eingesperrt werden, manchmal sogar verletzt durch gefährliche Waffen, die dringend verboten werden müssen. Gleichzeitig ist Ihre Regierung so weit gegangen, Bürger zu kriminalisieren, die Migranten Hilfe und Unterstützung boten. Sie können diesen Weg nicht fortsetzen und somit Gefahr laufen, noch mehr gegen die Grundfreiheiten zu verstoßen, für die Sie doch eigentlich der Garant sind.

5. Schließlich, während Sie sich für den Kampf gegen die globale Erwärmung eingesetzt haben, ist Ihre eigene Umweltpolitik arm geblieben, Sie weigern sich immer noch, die größten Umweltverschmutzer in unserem Land bezahlen zu lassen, während Sie die am stärksten Benachteiligten und die Mittelschicht dafür zur Kasse bitten. Indem Sie die Interessen großer Industriekonzerne systematisch schützen, stellen Sie den Staat in den Dienst der Geldmächte, anstatt dem Gemeinwohl zu dienen und auf die Herausforderungen von dringenden Sozial- und Klimafragen zu reagieren.

Für all das, Monsieur le Président, sind Sie verantwortlich. Es ist Ihre Wahrheit. Und wenn Ihre Absichten aufrichtig wären, hätten Sie verstanden, dass es ohne die Wiederherstellung des ISF (franz. Vermögenssteuer), ohne eine Erhöhung des sozialen Minimums und des Mindestlohns, ohne eine radikale Änderung der Politik, die allein neue Hoffnung wecken kann, keine Wiedererlangung der Würde für die Ärmsten unserer Mitbürger geben wird.

Sicherlich zeigen Sie angesichts der wachsenden Wut Reue und erkennen Fehler an. Aber Sie tun nur so, als ob Sie verstehen und schlagen lediglich halbherzige improvisierte Maßnahmen vor. Sie beharren darauf, den Kurs Ihrer neoliberalen Politik fortzusetzen, die zum Scheitern verurteilt ist, die die Arbeitslosigkeit nicht verringert, die die Reichsten begünstigt, die Ärmsten verarmen lässt und die den Boden für eine extreme Rechte bereitet, die Sie für Wahlzwecke instrumentalisieren.

Sicherlich schlagen Sie zwei Monate für nationale Debatten und Beschwerdeeinreichungen vor. Aber durch diese Konsultationen wird sich niemanden einlullen lassen und sie werden nicht ausreichen, um die legitimen Bestrebungen der Menschen nach mehr Steuer- und Sozialgerechtigkeit, mehr Freiheit und Gleichheit, und vor allem nach einer anderen Regierungsform zu unterdrücken. Denn was die meisten unserer Mitbürger heute anstreben, ist ein radikaler politischer und institutioneller Wandel. Es ist diese Forderung, die vorrangig gehört werden muss.

Sicherlich könnten Sie die Auflösung der Nationalversammlung in Betracht ziehen, worum einige Sie bitten. Aber eine Auflösung wird nichts an den Dysfunktionen unseres Landes und den eigentlichen tiefgehenden Ursachen der Bürgerrevolte ändern: veraltete Institutionen, eine massive Krise der Repräsentation des Volkes, eine präsidialherrschaftliche und antidemokratische Republik.

Sie müssen sich bewusst sein, Monsieur le Président, dass die massive Ablehnung Ihrer Politik und der Protest der Bevölkerung Sie wahrscheinlich daran hindern werden, die von Ihnen geplanten Reformen fortzusetzen. Was Sie mit Gewalt durchsetzen wollen, wird auf der Straße angefochten werden, mit dem Risiko, die Unruhen in unserem Land zu verschlimmern und zu multiplizieren.

Es liegt daher an Ihnen, diese historische Situation zur Kenntnis zu nehmen und von nun an den einzigen möglichen Weg einer radikalen Transformation in Betracht zu ziehen, der zu diesem Zeitpunkt praktikabel ist: unsere Institutionen grundlegend zu verändern und sie nicht nur nach Belieben aufzuhübschen. Zu diesem Zweck liegt es in Ihrer Macht, ein Referendum anzusetzen, in dem Sie das Volk auffordern, über die Einrichtung einer Verfassungsgebenden Versammlung abzustimmen, um eine neue Verfassung für unser Land zu erarbeiten. Am Ende dieses Prozesses, der im neuen Jahr durchgeführt werden kann, liegt es an Ihnen, verfassungsgemäß Ihren Rücktritt zu erklären.

Die Geschichte hat es so gewollt, Monsieur le Président, dass Sie am Ende eines institutionellen Zyklus das höchste Amt innehaben sollten: der 5. Republik geht der Atem aus. Einige halten sie für bereits im Sterben liegend. Wie dem auch sei, hat Ihre Ausübung der Macht die Probleme verschlimmert, die die Franzosen, die Ihren Rücktritt fordern, beklagen und zurückweisen.

Sie wollten sich als Präsident der Reformen wählen lassen. Damit Ihre Präsidentschaft endlich unseren Mitbürgern nützlich ist, haben Sie den Mut, die einzige Reform durchzuführen, die es wert ist: unsere Institutionen radikal zu verändern und zurückzutreten! Es liegt im Interesse unseres Landes, dass Sie dem Volk die Freiheit lassen, Politik neu zu erfinden und gemeinsam eine neue Republik zu gestalten, sozial, egalitär, ökologisch und demokratisch!

Monsieur le Président, das französische Volk gehört nicht Ihnen. Bewusst und klar, gewinnt es nun die Kontrolle über sein eigenes Schicksal zurück. Sie werden es nicht aufhalten. Die Weisheit gebietet, dass Sie jetzt auf diese Kraft hören, die da im Gange ist.

*

Dieser offene Brief ist rechte- und lizenzfrei. Jeder Bürger und jede Bürgerin, mit gelber Weste, grüner Weste, roter Weste oder ohne Weste kann ihn übernehmen, in sozialen Netzwerken teilen, ihn so, wie er ist, an den Präsidenten senden (an diese Adresse) [3], ihn modifizieren, einzeln oder gemeinsam unterschreiben. Er kann kopiert, eingefügt, gepostet, verschickt oder per Flugblatt verteilt werden. Es ist ein Bürgertext und ein Mittel zum Kampf, unter vielen anderen. Er befreit nicht von der Verpflichtung zum effektiven Handeln. Eine Version des französischen Originals kann hier [4] im .odt Format heruntergeladen werden.

PS: Nach Erhalt der Nachricht, die Macron den Franzosen anlässlich seiner Neujahrsansprache zugesagt hat, steht es jedem frei, seiner Nachricht mit diesem offenen Brief zu antworten. Die Postanschrift von Elysée-Palast lautet wie folgt:

Monsieur le Président de la République
Palais de l'Elysée
55 rue du Faubourg Saint-Honoré
75008 Paris

Es ist kein Porto erforderlich.


Übersetzung aus dem Französischen von Pressenza München

Quelle:
https://blogs.mediapart.fr/pascal-maillard/blog/010119/lettre-ouverte-au-president-macron-changez-nos-institutions-et-demissionnez


Anmerkungen:
[1] https://blogs.mediapart.fr/pascal-maillard-0
[2] https://blogs.mediapart.fr/pascal-maillard-0/blog
[3] https://www.elysee.fr/ecrire-au-president-de-la-republique/
[4] https://framadrop.org/r/MhjXRg_qfk#hfvFis7JnxdcFeoDzMlqmIUwsvGURY2wz4k+pkxSkDI=


Der Text steht unter der Lizenz Creative Commons 4.0
http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

*

Quelle:
Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Reto Thumiger
E-Mail: redaktion.berlin@pressenza.com
Internet: www.pressenza.com/de


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Januar 2019

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