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INTERVIEW/101: Richtige Literatur im Falschen - Fette Herrschaften ...    Cornelia Koppetsch im Gespräch (SB)


Gespräch am 7. Juni 2018 in Dortmund

Die Soziologin Dr. Cornelia Koppetsch hat eine Professur für Geschlechterverhältnisse, Bildung und Lebensführung an der TU Darmstadt inne. Mit "Die Wiederkehr der Konformität. Streifzüge durch die gefährdete Mitte" legte sie 2013 ein vieldiskutiertes Werk zu den Anpassungs- und Überlebensstrategien der verunsicherten und abstiegsgefährdeten Mittelschicht in der neoliberalen Marktgesellschaft vor, das auch Einsichten in die Motive des gesellschaftlichen Marsches nach rechts ermöglicht. Auf der Tagung "Richtige Literatur im Falschen", die vom 7. bis 9. Juni auf der Zeche Zollern in Dortmund stattfand, war Cornelia Koppetsch an der Eröffnungsdiskussion zur Frage "Soziale Klassen und Literatur?" wie der Podiumsdiskussion zum Thema "Die neue Klassengesellschaft: Prekarisierung und Fraktalisierung in der Mitte" beteiligt.



Im Gespräch - Foto: © 2017 by Schattenblick

Cornelia Koppetsch
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Frau Koppetsch, was unterscheidet den Begriff der Klasse vom Begriff der Schicht?

Cornelia Koppetsch (CK): Die Schicht ist praktisch eine Konstruktion der Sozialwissenschaftler, die Grenzen anhand des Einkommens festlegen, und so entstehen Oberschicht, Unterschicht und Mittelschicht. Die Klasse hat zwei Existenzen, zum einen die soziale Lage und zum anderen ist sie im symbolischen Raum der Lebensstile angesiedelt. Das klingt jetzt vielleicht ein bißchen abstrakt, aber gemeint ist damit, daß sie über das Lagemerkmal hinaus etwas Verbindendes hat, nämlich einen gemeinsamen Habitus, also eine gemeinsame vorbewußte Persönlichkeitsstruktur, beispielsweise einen gemeinsamen Geschmack, daß man eine Suppe mag und ein schönes gesundes Brot essen möchte. Es ist Teil unseres vermutlich gemeinsamen Klassengeschmacks, daß man Bio ißt oder Individualreisen und nicht Massentourismus bevorzugt.

Eine kosmopolitische Klasse zum Beispiel definiert sich über Bildung, Kultur und Singularitäten und unterscheidet sich damit ganz klar distinguiert symbolisch vom klassischen Gartenzwergkleinbürgertum, das eben bei Neckermann bucht, zu viel Pommes ißt oder zu wenig Sport macht, sich nicht wirklich weiterbildet und einen konventionellen Geschmack hat, Kitsch gut findet oder so etwas. Das sind alles Merkmale. Wenn man etwas als kitschig bezeichnet, dann distinguiert man sich genau von dieser traditionellen Kleinbürgerkultur, zu der man sich nicht zugehörig fühlt.

SB: Mit der Distinktionstheorie von Pierre Bourdieu stellt sich die Frage, was Klasse im politischen Sinne ausmacht, wo sie über die soziologische Kategorisierung hinaus politisch wirksam wird?

CK: Aber genau das kann man mit Bourdieu machen. Bourdieu hat beides, er sagt, unter bestimmten Voraussetzungen wird dieser Klassenhabitus durch politische Bewegungen, Protestbewegungen zum Beispiel, adressiert. Das hatten wir meines Erachtens 1968, als die geprellte Generation, die sich weiterbilden wollte, erkennen mußte, daß die Bildungstitel nichts mehr wert waren. Das ist seine Interpretation von 1968. Wir haben so etwas auch wieder mit dem Rechtspopulismus, daß eine soziale Protestbewegung an bestimmte Habitusmerkmale anknüpft wie Ressentiments oder Abwärtsmobilität und das Gefühl hat, deklassiert zu sein und sich resouveränisieren zu müssen. Es gibt zwei Möglichkeiten, auf soziale Abstiege zu reagieren, entweder ich rufe den Sozialstaat an und versuche mich gegen die Reichen zu solidarisieren, oder ich schaue auf die aufholenden Außenseiter und versuche, sie davon abzuhalten, zu mir aufzuschließen, weil ich spüre, daß mein Stern am Sinken ist. Das, glaube ich, passiert jetzt wieder. Es ist eine Politisierung der absteigenden Klassen, die aber nicht nur prekär, sondern auch in der Mittelschicht zu finden sind.

SB: Wie verhält sich der Begriff des Habitus als eines Merkmales schichtenspezifischer Verhaltensformen zu einer die sozialen Verhältnisse von oben und unten in Frage stellenden Herrschaftskritik?

CK: Herrschend sind nach Bourdieu immer die Klassen, denen es gelingt, ihren Habitus für allgemein verbindlich zu erklären, die also sagen können, daß es falsch sei, keinen Sport zu treiben und fett zu essen, weil das gegen die wissenschaftliche Erkenntnis von einer gesunden Lebensführung verstößt. Das können sie durchsetzen, und zwar so weitgehend, daß selbst diejenigen, die einen anderen Lebensstil bevorzugen und dabei zum Beispiel Pommes essen, das Gefühl haben, sie machen etwas falsch. Es gibt eine gute Studie von Eva Barlösius, derzufolge Dicksein eine Form der Stigmatisierung und der Selbststigmatisierung der Unterschicht ist. Das heißt nun nicht, daß es nicht auch Dicke in der Oberschicht gibt, aber die Unterschicht definiert sich zunehmend über die körperliche Abweichung. Sie übernimmt damit sozusagen ein Wahrnehmungsschema aus der herrschenden Klasse, also der akademischen Mittelschicht, und wendet es auf sich selber an. Die Crux dabei ist die Selbstentwertung der anderen Schichten, die nicht über den hegemonialen Lebensstil verfügen.

SB: Wäre es dann in Ihrem Sinne emanzipativ, wenn man den Umstand des Dickseins in eine offensive Position verwandelte, sich zu der eigenen Körperlichkeit bekennen und sich so der Selbststigmatisierung oder Viktimisierung entziehen würde?

CK: Genau, indem man das Ganze umdreht, wie es teilweise auch in der Kunst geschieht, oder es ins Affirmative wendet. Das wäre eine Möglichkeit der Subversion. Gerade an diesem Beispiel sieht man, daß die Selbstabwertung ganz viel über die Körperlichkeit geht. Deswegen ist Klassenkampf aus meiner Sicht mehr als nur Arbeiterkampf.


Lange Rolltreppe mit Sicht nach unten und nach oben - Fotos: © 2018 by Schattenblick Lange Rolltreppe mit Sicht nach unten und nach oben - Fotos: © 2018 by Schattenblick

Abwärts- und Aufwärtsmobilität auf Zeche Zollverein in Essen
Fotos: © 2018 by Schattenblick

SB: Heutzutage werden dicke Menschen mit finanziellen Anreizen dazu gebracht, Maßnahmen zur gesundheitlichen Prävention zu ergreifen, was im Endeffekt auf ein krankenkassentechnisches Belohnungs- und Bestrafungssystem hinausläuft, das angebliches Fehlverhalten mit mehr Kosten quittiert. Dabei wird nicht mehr die Frage gestellt, ob Menschen vielleicht wegen ihrer Arbeit oder sozialen Situation krank werden. Müßte man an diesem Punkt nicht emanzipatorisch gegenhalten und dieses Schuldverhältnis als Fortsetzung der gesamten Zwangssituation in der Lohnarbeit begreifen?

CK: Es ist die Frage, ob das immer mit der Produktion zu tun hat. Vielleicht ja, aber ich glaube, es sind noch mehr Faktoren beteiligt wie zum Beispiel gemeinschaftsorientiertes Essen, wo man nicht jede Kalorie zählt, weil es Teil der Familienordnung ist, daß man bestimmte Sachen ißt, die etwa zuckerhaltig sind. Gerade bei Migranten ist ja oft der Fall, daß sie Lebensmittel und Eßkulturen haben, die nicht unbedingt schlankmachend sind. Wenn sie da ausscheren würden, bekämen sie den Druck der Gruppe zu spüren. Daher glaube ich, daß Dicksein eher eine kulturelle Bedingung ist, sicherlich nicht nur, weil es auch Stressoren usw. gibt. Das Krankmachende an den Arbeiterberufen führt ja dazu, daß sie bis zu zehn Jahren früher sterben. Das hat natürlich mit der Arbeit zu tun, aber auch mit Alkohol und Zigaretten.

SB: Ist der Begriff Habitus in der soziologischen Forschung offen für seine Politisierung?

CK: Ja, bei Eva Barlösius ist das ganz klar ein Ansatz, es sehr kritisch zu sehen, warum übergewichtige Leute aus der Unterschicht sich selber stigmatisieren und über den Körper definieren und keine andere Faktoren mehr sehen. Darauf, daß ihr Körper abweicht, führen sie alles zurück, was in ihrem Leben schiefgeht. Das ist traurig. Natürlich sind die Soziologen nicht so weit, jetzt eine Kampagne dagegen zu machen, aber sie haben ein Problembewußtsein dafür.

SB: Woran liegt es Ihrer Ansicht nach, daß sich das so stark auf die Selbstbezüglichkeit reduziert? Hat das mit Schönheitsbildern, die über Medien transportiert werden, oder anderen normativen Prozessen im gesellschaftlichen Raum zu tun?

CK: Ich glaube, die Medien haben nicht unbedingt die Funktion, die man ihnen oft zuschreibt. Natürlich spielt es eine Rolle, daß in den Medien immer schöne, schlanke Leute präsentiert werden, aber das war schon immer so. Neu ist das gelebte Schlankheitsideal, daß Leute, die in den Führungspositionen sitzen, tatsächlich schlanker geworden sind, daß also das Ideal in der Elite selber ganz deutlich sichtbar ist. Wir hatten Helmut Kohl, der war dickleibig, und es gab sehr viele Leute in der herrschenden Klasse, die fett waren. Das war in der Nachkriegszeit völlig okay. Damals waren alle dick, weil es auch ein Zeichen des Wohlstands war. Jetzt ist es natürlich genau das Gegenteil. Nun sollen Dynamik und Aktivität gezeigt werden.

SB: Handelt es sich beim Anspruch auf Selbstoptimierung aus Ihrer Sicht auch um ein Klassenmerkmal?

CK: Auf jeden Fall. Die akademische Mittelschicht verkörpert das unternehmerische Selbst, und das ist auch die Klasse, die sich selbst optimiert. Die Oberschicht tut das, glaube ich, wieder weniger, weil sie das gar nicht so nötig hat.

SB: Frau Koppetsch, vielen Dank für das Gespräch.


Am Tisch auf der Bühne mit Cornelia Koppetsch am Mikrofon - Foto: © 2018 by Schattenblick

Klaus Dörre, Raul Zelik, Monika Rinck, Juditha Balint (Moderation), Cornelia Koppetsch auf dem Eröffnungspodium
Foto: © 2018 by Schattenblick


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