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INTERVIEW/094: Linke Buchtage Berlin - Wirtschaftlichkeitsprämisse ...    Michael Skambraks im Gespräch (SB)


Michael Skambraks ist Allgemeinmediziner und Diplompsychologe mit Praxis in München. Bei der Vorstellung des Buches "Kulturkampf und Gewissen" zu den "Medizinethischen Strategien der 'Lebensschutz'-Bewegung" [1] auf den Linken Buchtagen Berlin am 2. Juni erinnerte er in der anschließenden Diskussion an die Bedeutsamkeit des Themas ärztliche Sterbehilfe für eine linke Kritik der Medizin und des Gesundheitswesens. Skambraks hat mit "Vorsicht! Patientenverfügung" ein Buch über die Problematik vorabverfügter Therapiebegrenzungen verfaßt. Dem Schattenblick beantwortete er einige Fragen zu der Entwicklung eines zusehends durchökonomisierten Gesundheitswesens aus der Sicht eines davon selbst betroffenen Arztes.


Im Gespräch - Foto: © 2018 by Schattenblick

Michael Skambraks
Foto: © 2018 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Michael, woher stammt dein kritisches Engagement in Sachen Patientenverfügung und aktive Sterbehilfe?

Michael Skambraks (MS): Ich bin in München als Hausarzt und nebenbei auch als Notarzt im Rettungsdienst tätig, ich mache noch Dienst an Wochenenden und in der Reha-Klinik, das ist meine hauptberufliche Tätigkeit. Seit ich den Beruf ausübe - ich bin 1951 geboren und damit schon in der Berufslaufbahn etwas weiter fortgeschritten -, erlebe ich Verschlechterungen im gesundheitlichen System. Während die Wissenschaft Fortschritte feiert, macht das gesellschaftliche Umfeld ganz gewaltige Rückschritte. Den Grund dafür sehe ich in der multiplen Gesundheitsreform. Am schlimmsten war die erste Etappe, für die Seehofer als Gesundheitsminister verantwortlich war.

Zuvor war es dem Hausarzt möglich, jedes Medikament zu verschreiben, es kostete den Patienten nichts, Krankenkassen waren für alles zuständig. Dann begannen die Zuzahlungen, zunächst mit der Kleinigkeit von 50 Pfennig, wo man den Leuten weismachte, das ist doch nur eine Geringfügigkeit, das tut doch nicht weh, aber dann wurde es immer mehr. Später kam die Zuzahlung beim Arzt dazu, die dann glücklicherweise wieder abgeschafft wurde. Alles geht in die Richtung, daß Leute, die arm sind und sich nicht viel leisten können, halt früher sterben. Ich habe noch ganz naiv Medizin in der Annahme studiert, in dem Beruf kannst du eigentlich nur Gutes und Sinnvolles tun, indem du Kranken hilfst. Inzwischen bin ich zu der Erkenntnis gelangt, daß der Staat nicht will, daß ich Kranken helfe. Der Staat will, daß ich die Kranken möglichst schnell wieder wirtschaftlich verwertbar, das heißt arbeitsfähig mache. Wer nicht mehr arbeitsfähig ist, soll so schnell wie möglich sterben.

Natürlich wird das nicht in dieser Deutlichkeit gesagt. Man verweigert einfach die Hilfeleistung. Das wird schöngeredet, als sei das zum Wohl des Patienten, aber im Prinzip wird Wirtschaftlichkeit groß geschrieben. Ärzte und auch Krankenhäuser werden eben auch mit ökonomischen Mitteln dazu gedrängt, nichts mehr für die Patienten zu tun. Früher wurde ich als Hausarzt für Tätigkeiten bezahlt, da konnte ich eine Abrechnungsziffer aufschreiben: Ich habe ein EKG gemacht, ich habe Blut abgenommen und dergleichen. Jetzt gibt es Pauschalen. Das heißt, ich lebe am besten von Patienten, die einmal im Quartal kommen, mir ihre Karte geben und sonst nichts brauchen. Bei Leuten, die schwerkrank sind und um die ich mich intensiv kümmere, zahle ich eher drauf. Ich selber habe eine gemischte Population, solche, für die ich mich sehr einsetze und die mir dafür dankbar sind, und andere, von denen ich eher lebe.

SB: Es ist bekannt, daß das ärmste und das reichste Fünftel der Bevölkerung eine Differenz von zehn Jahren durchschnittliche Lebenserwartung trennt. Kann ein Arzt überhaupt auf die sozialen Umstände in irgendeiner Art Einfluß nehmen, wenn seine Funktion eigentlich darin besteht, den herrschenden Verwertungsbetrieb in Gang zu halten?

MS: Ich bemühe mich im Einzelfall, den Patienten zu helfen, auch entgegen dem Interesse unserer Politik und im Wissen, daß das nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist. Für die Gesellschaft engagiere ich mich zum Beispiel durch mein Buch. Ich habe noch viel mehr in der Schublade, was eigentlich nur darauf wartet, gedruckt zu werden. Seit ich erlebe, daß die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Rückschritte machen, bemühe ich mich, dies auch schriftlich zu verarbeiten. So versuche ich etwa den Nachweis zu erbringen, daß unsere multiple Gesundheitsreform ein geplanter Massenmord ist, wenn ich das einmal krass ausdrücke.

SB: Heißt das, daß das Gesundheitswesen Arbeitsfähigkeit herstellt, so lange es geht, aber wenn die Arbeitsfähigkeit nicht mehr gegeben ist, die Unterstützung nach Maßgabe ihres ökonomischen Nutzens mehr oder minder heruntergefahren wird?

MS: Es wird nicht so deutlich gezeigt, sondern ist mit der Bezahlung von Pauschalen geregelt, nicht nur bei mir als Arzt, sondern auch in den Krankenhäusern. Dort gab es früher Tagessätze, jetzt gibt es Fallpauschalen. Bei einem Tagessatz behielt ein Krankenhaus einen Menschen mit einer Lungenentzündung solange, bis die Erkrankung ausgeheilt war. Erst dann wurde er wieder nach Hause geschickt. Jetzt heißt es, ein junger Mensch hat nach 14 Tagen die Lungenentzündung überwunden und kann heim. Ein alter Mensch braucht aber drei- oder viermal so lange, da müßte das Krankenhaus draufzahlen. Also wird er irgendwann heimgeschickt, auch wenn er noch Fieber hat. Packt er es, hat er Glück, packt er es nicht, hat er eben Pech. Auf diese Art sterben bevorzugt alte Leute, weil sie nicht ausreichend behandelt werden.

Das habe ich vor kurzem selbst erlebt. Eine 82jährige, ziemlich rüstige Patientin hat sich einen Oberschenkelhals gebrochen. Sie wurde in einer Universitätsklinik in München operiert, kam wieder auf die Beine, machte eine Reha, lernte mit Rollator gehen, dann mit Stock. Ein paar Monate später hatte sie eine Wunde am operierten Bein und war ein bißchen bewegungseingeschränkt. Weil sie etwas zu genant war, um gleich Hilfe zu rufen, rief sie mich erst nach ein paar Tagen an. Ich erkannte eine Infektion im Bein und schickte sie in eine Klinik. Dort mußte sie fünf Stunden warten, bis sie endlich einen Arzt zu Gesicht bekam und aufgenommen wurde. Am nächsten Tag hieß es, der Zustand sei nicht ernst genug, um in der Uni-Klinik behandelt zu werden. Daraufhin kam sie in ein kleines Krankenhaus, das eigentlich gar nicht schlecht war, aber nach einer Woche verschlechterte sich ihr Zustand, dann kam noch eine Lungenentzündung hinzu. Weil sie aufgrund des hohen Fiebers delirant wurde, also wirres Zeug sprach, erfolgte die Rückverlegung in die Uni-Klinik. Sie hatte keine Patientenverfügung und keine Angehörigen am Ort, wo sie wohnte, in München. Ihre beiden Töchter wohnen ein paar hundert Kilometer weg. Eine Tochter kam daraufhin angereist. Ich habe sie darüber aufgeklärt, daß sie mit Fragen rechnen muß in der Richtung: Wollen Sie Ihrer Mutter das noch antun, daß wir ihr einen Schlauch in den Hals schieben? Wollen Sie nicht lieber der Natur ihren Lauf lassen? Ich riet ihr, darauf standhaft zu erwidern: Ich will, daß für meine Mama alles getan wird.

So ist es auch geschehen. Ihre Mutter mußte beatmet werden, aber dann wurde der Tubus nach sehr kurzer Zeit wieder entfernt und die Frau sofort auf eine Normalstation verlegt. Glücklicherweise war die Tochter, die sich freigenommen hatte, noch da und hat mitgekriegt, daß sie zu schnaufen aufhörte. Wieder die gleichen Fragen, wieder wurde intubiert und erneut schnell extubiert. Das gleiche geschah ein drittes Mal. Dann habe ich die Frau auf der Intensivstation besucht, als sie den Tubus noch hatte und langsam zur Bewußtsein kam. Sie hat mich erkannt, versuchte zu sprechen, was mit dem Schlauch im Hals natürlich nicht ging. Ich bemerkte, daß sie vieles versteht. Als ich ihr sagte, du mußt mir nicht antworten, du kannst jetzt nicht sprechen, weil der Schlauch im Hals steckt, der dir beim Atmen helfen soll, weil du lebensbedrohlich erkrankt warst, wurde sie ruhiger.

Dann habe ich abgewartet, bis die Stationsärztin kam, und ihr gesagt: Frau Kollegin, hier ist einiges sehr schiefgelaufen, weil die Frau dreimal intubiert werden mußte. Ein junger Mensch ist in kürzerer Zeit gesund, beim alten Menschen dauert es halt länger. Die Frau hat nicht nur eine Lungenentzündung, sondern auch eine Infektion im Bein, wegen der sie eigentlich hierherkam. Sie hat dazu ein krankes Herz und mehrere Baustellen im Körper. Aufgrund ihres Alters dauert es halt länger, aber selbst wenn es dreimal so lange dauert wie bei einem Jungen, ist es doch notwendig, sie etwas länger zu intubieren und nach der Extubation, also das Entfernen des Schlauches, noch ein paar Tage zur Beobachtung auf der Intensivstation zu halten.

Meine Worte hatten offensichtlich gefruchtet, denn die Frau wurde lebend entlassen. Doch wenn sich die Tochter nicht eingesetzt hätte und ich nicht als Hausarzt in die Klinik zu Besuch gekommen wäre, dann wäre sie wahrscheinlich verstorben. Die Frau wurde jetzt von ihren Töchtern in der Nähe ihrer Wohnsitze untergebracht, weil sie nicht mehr laufen konnte. Jetzt ist sie provisorisch in der Kurzzeitpflege. Ich habe sie seitdem nicht mehr gesehen, aber ein paarmal mit ihr telefoniert. Ich kann mit ihr normal reden, sie ist geistig völlig klar. In dem Fall kann man sagen, daß Kollegen von mir der Meinung waren, daß es besser sei, sie sterben zu lassen, lange genug gelebt habe sie ja. Dafür sehe ich jedoch keinen Grund. Eben für solche Leute setze ich mich ein.

SB: Vor dem Hintergrund dessen, daß ein Arzt verpflichtet ist, einem kranken Menschen mit allen seinen technischen Möglichkeiten zu helfen, geht es bei der Patientenverfügung vor allem darum, eine Therapiebegrenzung zu einem Zeitpunkt zu beschließen, wo er sich eigentlich nicht über die Situation klar sein kann, in der er sich dann befinden wird. Inwiefern ist die Patientenverfügung überhaupt ein sinnvolles Instrument der Selbstbestimmung, um solche Situationen zu bewältigen?

MS: Ich glaube, Therapie begrenzende Patientenverfügungen werden aus kapitalistischen Gründen propagiert. Es wird den Leuten eingeredet, daß sei zu ihrem eigenen Schutz. In der Realität dienen sie eigentlich nur dem Kapitalismus, die Leute sollen schneller sterben. Die Propaganda für die Patientenverfügung ähnelt nach meinem Eindruck sehr der Propaganda der Nazis für ihre "Euthanasie". Zur Nazi-Zeit gab es den Fall eines schwerbehinderten Kindes, dessen Eltern einen Brief an den "Führer" geschrieben haben sollen, damit er erlaubt, das Kind von seinem schweren Leiden zu erlösen. Es wurde also als Wohltat für das behinderte Kind dargestellt, es sterben zu lassen. Der "Führer" war dann so gnädig, seine Erlaubnis zu geben. Natürlich wurde in späteren Fällen nicht mehr nachgefragt, aber die Propaganda war ähnlich. Das finde ich schon erschreckend.

Nun weiß ich, daß es Patientenverfügungen schon früher gab. Ein Schulkamerad von mir, der Notar wurde, hat mir gesagt, daß, seit er den Beruf ausübt, immer wieder Leute zu ihm kamen mit dem Wunsch, eine Patientenverfügung zu machen. Damals wußte in der Öffentlichkeit fast niemand etwas davon. Wenn jemand von sich aus freiwillig so etwas tun will, rede ich ihm das nicht aus, aber angesichts der massiven Propaganda, die jetzt stattfindet, habe ich den Eindruck, daß es dazu dient, daß die Leute ihre eigene Entsorgung erlauben und dabei der Meinung sind, sie hätten etwas zu ihrem Schutz getan.

SB: In der Linken gab es in den 1990er Jahren durchaus Kritik an verschiedenen biomedizinischen Praktiken wie der Pränataldiagnostik und Präimplantationsdiagnostik. Wie kommt es deiner Ansicht nach, daß heute im linken Politspektrum beispielsweise zu Fragen der aktiven Sterbehilfe weitestgehend eine Leerstelle ist?

MS: Mein Eindruck ist, daß es quer durch die Weltanschauungen geht, ob Leute meine Meinung unterstützen oder eine Gegenmeinung haben. Viele Linke sehen es wie ich, daß der Wunsch, Leute zu entsorgen, dem Kapitalismus entspricht und es daher darum geht, die Leute davor zu schützen. Andere wiederum vertreten die Ansicht, daß ich den Leuten durch das, was ich schreibe, ihr Selbstbestimmungsrecht nehmen wolle. Das halte ich für ein Mißverständnis. Ich will niemandem das Selbstbestimmungsrecht nehmen. Vielmehr möchte ich den Leuten, die in Altenheimen bedrängt werden, sie müßten eine Patientenverfügung unterschreiben, sagen, das müßt ihr nicht, ihr könnt auch anders. Ich setze mich also durchaus für das Selbstbestimmungsrecht ein. Natürlich kann man das unterschiedlich sehen.

SB: Inzwischen ist die aktive Sterbehilfe in den Niederlanden und in Belgien weit fortgeschritten. Auch geistig behinderte Menschen ohne Einwilligungsbefähigung werden mit ärztlicher Hilfe vom Leben in den Tode befördert. In Kanada und den USA finden ähnliche Entwicklungen statt. Was würdest du aus linker Sicht an dieser zusehends verrechtlichten Form des vorzeitigen Todes kritisieren?

MS: Aus linker Sicht möchte ich sagen, daß es dem Kapitalismus dient, daß Leute dann entsorgt werden, wenn sie die Gesellschaft etwas kosten. Im Kapitalismus findet im Gesundheits- und Bildungswesen Dumping statt, so daß die Gelder anderswohin fließen können. Als Linker möchte ich mich dafür einsetzen, daß junge Menschen ein Recht auf Bildung haben, wie auch für das Recht jedes Menschen, der krank ist, ob jung oder alt, auf Erhalt des Lebens und der Gesundheit, so weit es herstellbar ist. So sehe ich das als Linker.

Natürlich gibt es auch Fehlentwicklungen in der linken Szene. Wenn mir unterstellt wird, ich wollte den Menschen das Selbstbestimmungsrecht absprechen, bin ich gerne bereit, darüber zu diskutieren. Ich weiß nicht, wie es hier in Berlin ist, ich selbst komme ja aus Bayern, und vielleicht ist die linke Szene in Bayern ganz besonders krass.

Das bayerische Staatsministerium der Justiz hat eine Broschüre für Patientenverfügungen herausgegeben, genau in dem Format wie mein Buch. Auf einer ganzen Seite ist ein Fragebogen, wo man verschiedene Fälle ankreuzen kann. In der ersten Hälfte der Seite findet man einen ganz langen Konditionalsatz, den keiner beim ersten Lesen versteht, den man mindestens ein zweites Mal lesen muß. Die Leute, die vielleicht schon ein bißchen altersdement sind, verstehen allerdings gar nichts. Der zweite Teil des Satzes ist dann für die Wünsche reserviert: Ich möchte auf keinen Fall eine Reanimation haben, auf keinen Fall eine künstliche Beatmung, auf keinen Fall eine künstliche Ernährung und so weiter, alles Dinge, die manchmal nur ganz kurzfristig gemacht werden müssen, um ein lebenswertes Leben zu erhalten, damit der Mensch nachher wieder herumlaufen und ganz normal weiterleben kann.

Die Leute lassen sich jedoch einreden, wenn so etwas geschieht, dann bist du ewig ein Krüppel, wirst ewig gequält. Dann steht unter den Wünschen noch, ich möchte, wenn mir etwas wehtut, soviel Schmerzmittel bekommen, daß ich nichts mehr spüre, auch wenn das vielleicht mein Leben verkürzt. Dieses "vielleicht" übersehen die Leute. Die Kombination der Verabreichung von Schmerzmitteln mit dem Wunsch, auf keinen Fall künstlich beatmet zu werden, finde ich fatal. Als Fachmann weiß ich, daß starke Schmerzmittel in hoher Dosierung den Atemantrieb hemmen, der medizinische Laie weiß das meistens nicht. Die Leute wissen also nicht, daß sie im Grunde unterschreiben, wenn mir etwas wehtut, dann bringt mich bitte um.

Ich war im Januar in einem Münchner Krankenhaus in einer Veranstaltung der Volkshochschule, durchaus eine renommierte Organisation, zum Thema Patientenverfügung. Es sprachen ein Oberarzt, ein anderer Arzt und eine Sozialarbeiterin. Alle rühmten die Patientenverfügung als etwas ganz Tolles und daß, wenn man aufschreibt, wie man es genau haben will, falls man einmal schwerkrank ist, dann alles exakt so gemacht würde. Ich halte das für völlig illusorisch. Nach den Referenten konnte das Publikum noch Fragen stellen. Ich habe mich sogleich als Hausarzt wie auch als Notarzt geoutet und gesagt, daß es mich sehr beunruhigt, daß hier etwas propagiert wird, das viele Leute unterschreiben, ohne den Sinn verstanden zu haben. Ich habe zum Schluß meiner Rede eigentlich eine Antwort erwartet, aber die kam nicht. Auf jeden Fall war der Moderator, als ich sprach, ziemlich zusammengezuckt. Statt zu antworten, wurde der nächste, der die Hand hob, um seine Frage gebeten. Nachher haben mich einige aus dem Publikum nach meinem Buch gefragt. Die Referenten taten mir eigentlich leid. Sie werden dafür bezahlt, daß sie die Patientenverfügung rühmen, sie durften mir nicht zustimmen, aber widersprechen konnten sie mir auch nicht, weil sie wissen, daß es so ist, wie ich sage.

SB: Sogenannte Lebensschützer verwenden den Begriff der "Euthanasie", der in Deutschland eindeutig zugeordnet ist zum Tötungsprogramm der Nazis. Häufig wissen die Leute jedoch nicht, daß das Thema der Eugenik in den 1920er Jahren auch unter Sozialdemokraten positiv besetzt war. Es gab also bereits vor den Nazis eine eugenische Bewegung, unter der sich teilweise auch sozial fortschrittliche Kräfte befanden. Kann man aus heutiger Sicht allen Ernstes Parallelen zu dem konkreten Tötungsprogramm der Nazis ziehen?

MS: Man kann nicht sagen, daß alles das gleiche ist, es sind schon unterschiedliche Ausprägungen, aber ich würde sagen, es gibt sehr wohl Parallelen. Das Wort "Euthanasie" hat übrigens einen Bedeutungswandel erlebt. Es bedeutete ursprünglich, einem Sterbenden zu helfen und sein Sterben zu erleichtern. Dann nahm es langsam die Bedeutung an, das Sterben zu beschleunigen, bis es schließlich zu einem Synonym für die Massenmorde der Nazis wurde.

Ich habe den Eindruck, daß das Wort Palliativmedizin jetzt den gleichen Bedeutungswandel erlebt. Als ich Medizin studierte, haben wir gelernt, daß es Krankheiten gibt, die man manchmal heilen kann und manchmal nicht, wie Krebserkrankungen. Eine kurative Behandlung heißt, wir haben die Chance, den Krebs zu entfernen und der Mensch ist geheilt, der Krebs ist weg. Und es gibt Fälle, da kann man das nicht. Wenn man dann sagt, wir wollen uns aber bemühen, dem Menschen zu helfen, daß er so gut wie möglich und auch so lang wie möglich leben kann, sei es mit Zytostatika und was auch immer, dann nennt man das eine palliative Behandlung. Palliativ heißt also eindeutig, so wie ich es gelernt habe, das Leben zu erhalten, so lange wie möglich. Heute hat es oft im Klinikjargon die gegenteilige Bedeutung. Wenn ein Patient zum palliativen Fall wird, braucht er nur noch Schmerzmittel, sterben wird er ohnehin, und je schneller es geht, desto weniger leidet er. So wird das Wort heute verwendet - die gleiche Bedeutungsveränderung wie früher beim Wort "Euthanasie".

SB: Die Hospizbewegung hatte meist eine kritische Position gegenüber aktiver Sterbehilfe eingenommen. Nun wird zum Beispiel in einigen kanadischen Hospizen auch die Option der aktiven Sterbehilfe angeboten. Das ist eine fatale Entwicklung, weil damit eine Bewegung, die dafür sorgen will, daß Menschen nicht unter menschenunwürdigen Bedingungen ihr Lebensende verbringen, möglicherweise zu einem Einfallstor für medizinische Formen des vorzeitigen Ablebens wird. Wie schätzt du das ein?

MS: Hospiz verstanden in dem Sinne, daß man für Leute, die nur noch eine geringe Lebenserwartung haben, sei es aufgrund einer bösartigen Erkrankung oder welcher Erkrankung auch immer, eine Umgebung schafft, in der sie ihre letzten Tage möglichst gut verbringen können, finde ich sehr sinnvoll. Aber ich habe auch die Befürchtung, daß manchmal dem Sterben nachgeholfen wird. Ich habe erlebt, daß jemand mit einem bösartigen Tumor, der noch kurz zuvor bei mir war und an dem eine zytostatische Behandlung probiert wurde, die er nicht vertragen hat, mich bat, ob ich ihm vielleicht eine Aufnahme in einer Uni-Klinik vermitteln könnte für eine Alternativbehandlung. Nach kurzer Zeit verschlechterte sich sein Zustand. Er geht zu Fuß in seinem Heimatort in ein Krankenhaus, wird auf eine Palliativstation verlegt, bekommt eine Infusion, ist dann schläfrig, kann nicht mehr aufstehen und stirbt nach wenigen Tagen.

Seine Schwester bat mich, als er noch am Leben war, rufe bitte die Stationsärztin an, da stimmt doch etwas nicht, wie kann sich sein Zustand so schnell verschlechtern? Dort sagte man mir, er habe einen Infekt. Ob er behandelt wird, wollte ich wissen. Nein, das machen wir bei uns nicht. Ich bin schon der Meinung, daß Leute, auch wenn sie nahe am Tod sind, das Recht haben, daß man ihr Leben erhält, solange es möglich ist. Wenn er es nicht will, ist das etwas ganz anderes, aber wenn er es will, hat er ein Recht darauf, und das wird wohl manchmal in Palliativstationen nicht ernstgenommen. Ich kann das nicht verallgemeinern.

Eine Erfahrung mit Palliativmedizin habe ich selbst gemacht. Ich habe eine Patientin, deren Sohn an einem bösartigen Hirntumor leidet. Ich kenne nur die Mutter, den Sohn selber habe ich nicht kennengelernt. Die Mutter hat ihn gepflegt, solange sie das irgendwie konnte. Dann hat sich bei ihm eine Halbseitenlähmungssymptomatik ähnlich wie beim Schlaganfall infolge der Ausbreitung des Tumors entwickelt, worauf sie sich auch körperlich nicht mehr in der Lage sah, ihn weiterhin zu betreuen. Sie brachte ihn in ein Hospiz, wo er sich eigentlich wohlgefühlt hat. Er wußte, daß er bald sterben würde, bekam Besuch von seiner Mutter und seinen Freunden und so weiter.

Aber wider Erwarten war er nach einem halben Jahr noch am Leben, obwohl seine Lebenserwartung sicher eng begrenzt ist. Der Aufenthalt im Hospiz ist auf ein halbes Jahr beschränkt. Die Mutter war jedoch nicht in der Lage, ihn aufzunehmen, und so kam er in ein Krankenhaus, wo er sehr viel weniger Pflege erhält und sich einfach schlecht fühlt. Wenn man sagt, man will die letzten Tage im Leben eines Patienten wenigstens so angenehm wie möglich gestalten, dann ist das ein bißchen schiefgelaufen. Nach einem halben Jahr mußte er das Hospiz verlassen, und er hat nun wirklich nicht mehr lang zu leben. Aber man kann nicht sagen, jetzt stirb schnell. Er lebt immer noch seit einem dreiviertel Jahr, obwohl man ihm höchstens eine Woche gegeben hatte.

SB: Michael, vielen Dank für das Gespräch.


Beiträge zur Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern III" im Schattenblick unter:
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6. Juli 2018


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