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INTERVIEW/053: Leipzig, das Buch und die Messe - an der Oberfläche ...    Torsten Casimir im Gespräch (SB)


Eindruck, Ausdruck, Buchdruck - Impressionen
Leipziger Buchmesse, 17. bis 20. März 2016

Torsten Casimir über die Chancen, die in Kinderliteratur stecken


"Sich die Welt erlesen. Warum Bücher verbinden und interkulturelles Leben fördern" - zumindest der erste Teil des Titels einer Podiumsdiskussion auf der Leipziger Buchmesse 2016 weckte Erinnerungen an Zeiten, in denen die Buchstabenwelt einen noch als jungen Leser mit auf eine fesselnde Abenteuerreise in ferne Länder und Kulturen nahm, von denen man bis dahin nie zuvor gehört hatte. Heutzutage gibt es durch Fotos, Film, Fernsehen und Internet sehr viel direktere mediale Möglichkeiten, diese Brücke zu schlagen. Fragen wie 'Was könnten Bücher zusätzlich dazu beitragen, warum eignen sie sich auch heutzutage besonders gut dazu?' drängen sich geradezu auf. Es liegt nahe, daß die Buchhändlerin, Verlegerin und Autorin, die auf das Podium geladen waren, über Aspekte debattierten, die nur eine auf diese Weise zusammengesetzte Expertenrunde haben kann. Vor allem ging es um Informationen und Fragen zu den eigenen Problemen mit Marketing und Vertrieb auf dem internationalen Kinder- und Jugendbuchmarkt. Bei der Erwägung der einzelnen Kommunikationsinstrumente wie Mediawerbung, persönliche Kommunikation, Verkaufsförderung, Sponsoring, Public Relations, Direct-Marketing, Messen und Ausstellungen, Event Marketing und Multimedia-Kommunikation, schien die Ausgangsfrage, die diesen Bemühungen zugrunde liegt, möglicherweise als zu selbstverständlich für die Diskussionsteilnehmer in den Hintergrund gedrängt: Was qualifiziert Kinder- und Jugendbücher dazu, "interkulturelles Leben zu fördern"? Auch ein ergiebigeres Verweilen bei der Frage, warum ein Flüchtlingskind überhaupt ein deutsches Buch lesen sollte, hätte das Diskussionsthema erweitern können. Der Schattenblick hatte im Anschluß der Podiumsdiskussion in einem Gespräch mit dem Moderator, dem Börsenblatt-Chefredakteur Torsten Casimir, die Gelegenheit, den etwas zu kurz gekommenen Aspekt noch einmal aufzugreifen.


Torsten Casimir während des Interviews in den Leipziger Buchmessehallen - Foto: © 2016 by Schattenblick

'Ein Kamel, das sich die Sterne vom Himmel holen will, funktioniert in Australien genauso wie in Kanada.' Thorsten Casimir.
Foto: © 2016 by Schattenblick

Schattenblick (SB): In der Podiumsdiskussion zum Thema "Sich die Welt erlesen. Warum Bücher verbinden und interkulturelles Leben fördern" lag der thematische Schwerpunkt auf den Schwierigkeiten des Buchhandels, die Art von Büchern auszusuchen, die wirklich eine Hilfe für die Integration sind. So ging es zum Beispiel um das Problem, daß ein Buch ohne pädagogische Absichten oder von den Betroffenen selbst geschrieben sein sollte. Weitere Punkte waren die interkulturelle Kompatibilität von Manuskripten, die Verbreitungsschwierigkeiten und Informations-Vermittlung für den Verkauf. Unter der Themenstellung hatte ich aber noch mehr Aspekte erwartet, die im Gespräch etwas zu kurz kamen. Welche Chancen für eine interkulturelle Verbindung sehen Sie gerade in der Kinderliteratur?

Torsten Casimir (TC): In Kinderbüchern stecken ganz andere Möglichkeiten als in der Literatur für Erwachsene und zwar deshalb, weil Kinder sich von Geschichten faszinieren lassen, nicht mal so sehr von Büchern. Bücher sind ein Medium, das sich sehr bewährt hat und sich auch weiterhin bewährt. Aber in meinem Umfeld - ich lebe in Frankfurt am Main - gibt es Menschen aus mehr als hundert Nationen, bei uns ist MultiKulti morgens in der U-Bahn der Normalfall. Und ich habe selbst Kinder, in deren Kindergartenzeit mich kein deutsches Kind und kein Kind mit Migrationshintergrund auf ein Buch angesprochen hat, das tun sie nicht, das ist Buchmarkt-Romantik. Die Wahrheit ist, aus meiner Sicht jedenfalls, daß Kinder hellwach werden und einen mit großen Augen anschauen, wenn man eine Geschichte erzählt. Deswegen gebe ich Ihnen völlig recht, hat die Kinderliteratur, oder sagen wir mal das Kindergeschichtenerzählen, enorme Chancen. Das ist, jedenfalls zu guten Teilen, universal. Ich glaube, daß es auch Geschichtenstoffe gibt, die das nicht sind, aber ein Kamel, das sich die Sterne vom Himmel holen will, funktioniert in Australien genauso wie in Kanada.

SB: Sie sprachen auch davon, daß man auf die Kraft des Erzählens vertrauen kann.

TC: Das ist so. Die Kinder haben ein viel besseres Sensorium dafür als Erwachsene, daß man nicht immer nur das Hier und Jetzt für den Maßstab aller Dinge nimmt. Sondern sie interessieren sich für die unterschiedlichsten Möglichkeiten, Träume, alternativen Entwürfe. Irgendwann mit fortschreitendem Alter sind wir dann im betonierten Flußbett gelandet und es geht nur noch in eine Richtung. Bei Kindern ist das noch nicht so, deswegen sind Geschichten so chancenreich.

SB: Sie sagten während des Gesprächs vorhin: Irgendwann brauchen wir mehr Erklärungen für Erwachsenenbücher.

TC: Ich glaube, daß Kinder sehr unverstellt auf erzählte Situationen reagieren. Wenn wir eine Beziehungsgeschichte in einem Erwachsenenroman lesen, dann nehmen wir sie mit den eigenen Mustern wahr, mit denen wir auf Beziehungen schauen oder unsere eigenen leben. Das sind Ordnungs- und Moralvorstellungen. Jedenfalls geht dem eine große Geschichte von Lesesozialisation oder auch überhaupt von Sozialisation voraus. Und deswegen haben wir vielleicht Schwierigkeiten, wenn wir eine Geschichte lesen, die außerhalb unserer Muster spielt und in der Menschen in anderer Weise ihr Zusammenleben gestalten. Wir kommen damit nicht gut klar oder nehmen es als etwas tatsächlich Fremdes, als etwas Exotisches wahr. Exotik hat ja immer schon einen besonderen Thrill in der Literatur gehabt, aber sie war eben nichts, dem man sich öffnete. Sondern man hat sie aus einem ähnlichen Grund besichtigt, weshalb man auch in einen Zoo geht. Kinder sind anders, wenn sie in den Zoo gehen, dann würden die auch mal eben über den Zaun klettern und sich selbst als Pinguin hinstellen. Das ist der große Unterschied.

SB: Haben Sie eine Idee dazu, warum das bei Kindern so ist?

TC: Kinder haben einfach noch keine Fehlprägung. Sie sind sozusagen noch ähnlich unspezialisiert wie Stammzellen [*], ganz am Anfang. In der Biologie nennt man Stammzellen immunologisch naiv. Die können noch alles. Und so ähnlich sind Kinder auch, sagen wir mal, intellektuell und emotional naiv. Die sind von uns bisher nicht verbildet und auf bestimmte Reaktionsmuster geschult, sondern sie können noch alles, sind unverstellt neugierig und sagen nicht: 'Das geht aber nicht, denn erstens, zweitens, drittens ...' und 'Das darfst du aber nicht, dann ist die Mama traurig', sondern sie sagen erstmal: 'Aha, so ist das also.'

SB: Wann fangen Ihrer Meinung nach diese Einschränkungen in der Sozialisation an?

TC: Früh, und ich glaube, die spannendste Zeit, Kinder wirklich mit der Vielfalt der ganzen Welt zu konfrontieren, ist die Zeit vor der Einschulung. Von da ab wird enger geführt.

SB: Diese Vielfalt findet man dann, etwas zugespitzt weitergedacht, als Chance noch in der Kinderliteratur.

TC: Ich meine, daß die Erwachsenenliteratur zum Glück auch enorme Chancen hat, jetzt mal marktwirtschaftlich gesprochen. Sogar Gedichte werden wieder rezensiert und wahrgenommen und bekommen Preise. Und es gibt immer noch Literaturbesprechungen in den Medien, obwohl es den Medien, insbesondere den Zeitungen, nicht besonders gut geht. Da bin ich gar nicht so ein Pessimist. Und es gibt auch Menschen, die reagieren auf Bücher, die eine Geschichte anders erzählen, mit Freude, weil sie plötzlich merken: 'Hey, man kann aufs Leben auch mal anders schauen als ich das immer tue.' Ich würde eher sagen, wir Erwachsenen sind viel bedürftiger als die Kinder. Die Kinder sind noch Poeten, wir Erwachsenen brauchen Dichter, die unser Leben noch poetisch anreichern.

SB: Bei der Podiumsdiskussion gerade eben hatte ich den Eindruck, daß diejenigen, die sich mit Kinder- und Jugendliteratur beschäftigen, von vornherein ganz anders an Bücher herangehen und aus der Kinderperspektive andere Probleme angesprochen werden.

TC: Ich glaube, daß Sie mit Ihrer Vermutung recht haben. Ich habe eine fünfzehnjährige Tochter, die vor anderthalb Jahren in einem Kinderbuchverlag in Frankfurt ein Praktikum gemacht hat. Sie staunte darüber, wie oft die Kolleginnen und Kollegen dort Kinder und Jugendliche gefragt haben: 'Wie lest ihr das eigentlich? Wie findet ihr die Geschichte, wie die Figuren?' Sie waren total gut darin, auch handwerklich, diese Lebenswelt der Kinder erstmal zu erfragen. Wir Älteren sind vielleicht nicht klug genug zu wissen, daß wir selbst diese Welt gar nicht mehr richtig kennen. Wir blicken mit unserem Erwachsenenblick von außen darauf. Die schlauen Kinderbuchverlage schicken ihre neuen Bücher erstmal an die Zielgruppe - an Testleserinnen und Testleser, technisch gesprochen - und bitten: 'Sagt mal was dazu, schreibt uns ein Gutachten.' Dann kriegen die Kinder dafür vielleicht 20 Euro und sind Gutachter, was ihnen total viel Freude macht.

SB: Vielen Dank. Herr Casimir, für dieses Gespräch.


Anmerkungen:

[*] Ein Vergleich aus der Biologie: Stammzellen sind in der Lage, sich in jede beliebige Körperzelle zu entwickeln. Aus ihnen kann ebenso Muskelgewebe werden wie auch Lungengewebe oder Knochen. Das Potential dafür ist in allen Stammzellen gleichermaßen vorhanden.


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1. April 2016


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