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INTERVIEW/041: Links, links, links - Jede Hand und jeder Kopf ...    Alexander Neupert-Doppler im Gespräch (SB)


"Es kommt darauf an, was die Leute wollen und tun ..."

20. Linke Literaturmesse in Nürnberg


Wenn drei Menschen zur Klärung der Frage nach den Wesensmerkmalen der Utopie zusammenkommen, könnte die Verwirrung nicht größer sein, weil jeder eine andere Vorstellung dessen, was Utopie sein soll, ins Gespräch bringt. Dabei ist die Frage nach dem Nexus utopischer Vorstellungen aus Sicht Alexander Neupert-Dopplers angesichts weltweiter Krisen und Umwälzungen von geradezu unvermeidlicher Aktualität. In seinem Vortrag "Utopie. Vom Roman zur Denkfigur" [1] zur Vorstellung seines gleichnamigen, kürzlich erschienenen Buchs während der Linken Literaturmesse in Nürnberg ging es ihm vordergründig darum, die Erscheinungsformen von Utopien, wie sie sich seit dem 16. Jahrhundert im europäischen Kulturraum entwickelt haben, ideengeschichtlich aufzuarbeiten. Eigentlicher Referenzpunkt war jedoch die Frage nach der Funktion utopischen Denkens für das Emanzipationsstreben der radikalen Linken heute.

Thomas Morus hatte bei seinem Buch Utopia keineswegs nur die Zukunftsprojektion einer gerechteren Gesellschaft im Auge. Vielmehr ging es ihm darum, die Mißstände im feudalen England des frühen 16. Jahrhunderts in der konterkarierenden Erzählung von einer fernen Insel, auf der die Menschen nicht hungern, Bildung genießen und ihre Regierung selbst wählen, subversiv zu attackieren. Morus' Kritik richtete sich gegen die staatlichen Institutionen, die nicht in der Lage waren, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen und dem Streben nach persönlicher Freiheit und Erfüllung geeignete Rahmenbedingungen zu stellen. Im Geiste des Renaissance-Humanismus stellte Morus die Forderung auf, daß sich die Menschen ihre Lebens- und Arbeitsverhältnisse selber schaffen müßten. Die in jeder Utopie versteckte Kritik an den bestehenden Verhältnissen müsse dem Referenten zufolge immer im Kontext der sie abbildenden Zeit gesehen werden. Vor diesem Hintergrund definiert Neupert-Doppler die Utopie denn auch als die jeweils historisch wandelbare Vorstellung von individuellem Glück durch eine sinnvolle Einrichtung der Gesellschaft.

In den Utopien späterer Jahrhunderte sei das Element der Politisierung jedoch weit stärker in den Vordergrund getreten, wenngleich der Wille, die literarischen Ketten des Utopischen zu sprengen, weder bei Henri de Saint-Simon, Charles Fourier noch in den Schriften von Robert Owen zu einer bahnbrechenden Theorie eines revolutionären Umbruchs geführt hätten. "Dem unreinen Stand der kapitalistischen Produktion, der unreifen Klassenlage, entsprachen unreife Theorien", zog Friedrich Engels gegen jene Frühsozialisten zu Felde, die zwar mit der Rückkehr zum Gemeineigentum die Abschaffung des Staates insgeheim propagiert und eine Fülle von Kritiken gegen die feudalstaatliche Ausbeutung formuliert hatten, letzten Endes jedoch beim Aufdecken der materiellen und moralischen Misere der bürgerlichen Welt steckengeblieben waren.

Gänzlich unbeabsichtigt hätten Engels und Karl Marx laut Neupert-Doppler dennoch wesentlich dazu beigetragen, den Utopiebegriff zum politischen Kampfbegriff zu verdichten. Ihre Ablehnung der utopistischen Sozialisten richtete sich nicht so sehr gegen die historische Berechtigung ihrer Kritik als vielmehr gegen ihre im Aufklärungspathos ihrer Zeit verwurzelten Methoden. Diese sahen keinen gesamtgesellschaftlichen Sturz des alten Systems vor, sondern beabsichtigten im reformistischen Eifer lediglich, neue Eliten und Institutionen an die Stelle der alten zu setzen. Auch der Siedlungssozialismus von Owen, mit Hilfe von Kooperativen menschenwürdigere Kolonien innerhalb des feudalen Staatswesens zu schaffen, wurde dem Totalitarismus kapitalistischer Gesellschaften nicht gerecht. Mit Engels und Karl Marx schien das Utopische an den Klippen der Geschichte zerschellt zu sein.

Doch im 20. Jahrhundert wurde verschiedentlich der Versuch zur Rehabilitierung des Utopischen unternommen. Obgleich sie sich vom Inhalt her scharf widersprachen und die Denkansätze ihrer Protagonisten unterschiedlich gestaltet waren, weist Neupert-Doppler nach, daß sich in den Differenzen ihrer Interpretationen im historischen Rückblick dennoch Verknüpfungspunkte aufzeigen lassen. Übereinstimmendes Kennzeichen dieser Bemühungen sei ihm zufolge, das Utopische als eine Form von Bewußtsein zu begreifen und gleichermaßen von der Ideologie abzugrenzen. Statt die Widersprüche der Wirklichkeit mit segensreichen Verheißungen in Form einer idealen Polis, mythologischer Zerrbilder von verlorenen Paradiesen oder eines im Jenseits verorteten Reich Gottes zu überdecken, stellten Utopien in erster Linie Gegenentwürfe zum Bestehenden dar, in denen das Motiv der Gesellschaftskritik ebenso einen Platz finde wie fortschrittliche Modelle zur Aufhebung der subjektiven Zwänge, die im vergesellschafteten Menschen verankert seien.

Einer der ersten, der sich für einen modernen Utopiebegriff stark machte, war der Anarchist Gustav Landauer, der in der Utopie im wesentlichen ein Bewußtseinsphänomen erkannte. In der Forschung spricht man daher von der intentionalen Wende, die die Utopie in der Vorstellungswelt der Menschen ansiedelt. Der Kulminationspunkt der Erneuerer in der Utopiedebatte des 20. Jahrhunderts ließe sich daher in der Abwehrstellung gegen den historischen Determinismus verorten, wie er sich als spezifische Marx-Interpretation vor allem in der deutschen Sozialdemokratie herausgebildet hatte. Demzufolge wird der immer wieder von Krisen geschüttelte Kapitalismus aus geschichtlicher Notwendigkeit heraus irgendwann in den Sozialismus übergehen. Damit ist die Vorstellung von einer Revolution verbunden, die quasi kraft einer Naturgesetzlichkeit, die sich von historischen Entwicklungsprozessen ableitet, von selber kommen wird. Die Kritiker dieser ideologischen Deutung des Marxismus wandten ein, daß sich die Veränderung der Gesellschaft im Lauf der Geschichte nicht automatisch vollziehe, sondern praktisch herbeigeführt werden müsse und daß erst die zentrale Denkfigur des subjektiven Faktors in der Negation des Bestehenden die konkrete Utopie heranreifen läßt und damit zur Veränderung der Gesellschaft führt.

Den Kommunismus zu machen, anstatt bis auf den Sankt-Nimmerleinstag auf ihn zu warten, könnte als Lektion aus dem Scheitern bisheriger Versuche gezogen werden, die klassenlose Gesellschaft durchzusetzen. Dies gilt sicherlich subjektiv und individuell ebenso wie kollektiv und gesellschaftlich. Die sozialdarwinistische Logik zu bestreiten, daß es sich auf Kosten des anderen am besten leben läßt, stellt die Perspektive gesellschaftlichen Erfolges insgesamt in Frage. Utopisch erscheint das Interesse, Überleben durch Leben zu ersetzen, allein aus dem Kalkül eines individuellen Nutzens, der in seiner gegen den anderen Menschen gerichteten Verallgemeinerung von vornherein in Isolation und Ohnmacht führt. Die bloße Perspektive des Erfolges, welcher Instanz und Institution auch immer, durch das seinen Anspruch wenn nicht einlösende, dann doch nach vorne gerichtet korrigierende Selber-Tun aufzuheben wäre eine Möglichkeit, in jeder Lebens- und Widerspruchslage streitbar aktiv zu werden.


Im Gespräch - Foto: © 2016 by Schattenblick

Alexander Neupert-Doppler
Foto: © 2016 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Alexander, was hat dich dazu veranlaßt, das Buch "Utopie. Vom Roman zur Denkfigur" zu schreiben?

Alexander Neupert-Doppler (AND): Ich hatte dafür zwei Gründe - einen theoretischen und einen praktischen. In meinem vorherigen Buch "Staatsfetischismus" von 2013 hatte ich die Ideengeschichte neomarxistischer Staatskritik untersucht und war währenddessen darauf gestoßen, daß all diese Kritiken an politischen Formen von Staat, Recht, Parlamentarismus et cetera insgeheim immer ein utopisches Moment aufweisen, weil sie voraussetzen, daß Menschen auch anders zusammenleben können. Diese Beziehung von Kritik und Utopie, die immer eine Gesellschaftskritik, und sei es auch schweigsam, impliziert, begründet vor allem, daß es andere Möglichkeiten gibt, wie natürlich auch umgekehrt eine Utopie nur dann sinnvoll fundiert ist, wenn man sie mit Gesellschaftskritik verbindet. Das ist der theoretische Impuls zum Buch gewesen.

Der praktische war, daß ich bis 2014 in der Gruppe No Lager in Osnabrück aktiv gewesen bin, die Solidarität mit Geflüchteten in einem Abschiebelager mit 500 Leuten organisierte. Dort kamen wir oft auf das Thema Utopie zu sprechen, sowohl innerhalb der Gruppe als auch im Kontakt mit den Geflüchteten. Es ist ja nicht so, daß Leute, nur weil sie in einem Lager zusammenleben, sich automatisch solidarisieren und zusammenarbeiten. Für viele von ihnen war es enorm wichtig, sich auch darüber zu unterhalten, wie man sich eine Gesellschaft wünscht, in der es möglich ist, zu migrieren und irgendwo anzukommen. Bei diesen ganz konkreten Auseinandersetzungen und Mißständen habe ich gemerkt, daß die Utopie von einer anderen Gesellschaft ein wichtiges Moment darstellt. In dem Utopie-Buch wollte ich daher näher untersuchen, welche Rolle utopische Vorstellungen in solchen Kämpfen spielen können.

SB: Ist Utopie für dich generell und damit auch historisch begründet eine Frage kollektiver gesellschaftlicher Organisation oder gäbe es rein theoretisch auch die Möglichkeit zu einer Art Individualutopie?

AND: Die Sozialutopie ist auf jeden Fall das älteste Phänomen, auf das ich mich konzentriert habe. Nicht zufällig habe ich das Buch für einen politischen Verlag und ebendaher auch in politischer Absicht geschrieben. Utopie hat also immer mit vielen Menschen zu tun, obgleich es sicherlich auch utopische Funken oder Annäherungen an das Utopische in anderen Bereichen geben kann, wie beispielsweise in der Kunst oder Musik, was dann aber mehr von der Person der Künstlerin bzw. des Künstlers abhängt. Insofern muß es kein kollektiver Prozeß sein, aber mit kollektiven Prozessen habe ich mich im Buch speziell auseinandergesetzt.

SB: Wir leben im Zeitalter des neoliberalen Kapitalismus in Gesellschaften, die sehr stark individualistisch sind und damit auch fremdbestimmte Subjektivierungen im großen Ausmaß hervorbringen. Hat der Begriff der Utopie für dich schon aus sich selbst heraus einen emanzipatorischen Charakter, weil er ausdrückt, daß man in der bestehenden gesellschaftlichen Form nicht leben möchte, oder ist er für dich formal gesehen wertfrei?

AND: Nein, er ist ein Gegenbegriff zum Bestehenden. Auch die neoliberalen Vorstellungen hatten ursprünglich ein Versprechen an die Menschen gerichtet, nämlich, daß sich alles über Markt und Politik regeln ließe. Das klassische individuelle Glücksversprechen des Neoliberalismus lautete: Wenn ihr euch persönlich mehr anstrengt, werdet ihr auch Erfolg haben. Die Sozialutopie ist ein direkter Einwand dagegen. Schon Morus begründet seine literarische Utopie damit, daß Sinn und Zweck des Daseins Freude, Lust und Genuß der Individuen ist. Aber das wird nicht, wie die Neoliberalen predigen, durch persönliche Opfer, Selbstoptimierung und lebenslanges Lernen ermöglicht, sondern hängt nicht unwesentlich von der Einrichtung gesellschaftlicher Institutionen ab. Allein der Gedanke, daß solche Institutionen ausgehandelt, eingerichtet und verändert werden können, wäre heute für eine Rettung von Utopie eine ganz wichtige Grundlage.

SB: Heißt das, daß du von vornherein mit einem konkreten Standpunkt ans Thema gegangen bist und daß dabei kein rein wissenschaftliches Buch auf der Basis eines neutralen Ansatzes herausgekommen ist?

AND: Ich würde sagen, es ist Wissenschaft mit Absicht. Natürlich sind dabei auch eigene Erfahrungen mit eingeflossen. Nach meinem Verständnis dient Theorie ohnehin dem Verarbeiten und Festhalten von eigenen Erfahrungen, gleich, ob es um einen einzelnen oder um Gruppen geht. Außerdem ist das Buch in einer Reihe erschienen, wo Ergebnisse von aktuellen Debatten, aber auch älteren Diskussionen noch einmal in vestärktem Maße aufbereitet und fortgeführt werden. Das merkt man dem Buch auch ganz stark an. Es mußte einen weiten Bogen spannen von den frühesten literarischen Formen von Utopie bis zu den Utopie-Debatten im 20. Jahrhundert, weil es ein theoretisches Handwerkszeug zum Verständnis der Gegenwart liefern möchte. Zumindest war das mein Anspruch.

SB: Du hattest im Vortrag auch davon gesprochen, daß sich bestimmte utopische Entwürfe oder Konzepte vom Utopieverständnis einer sozialdemokratischen Geschichtsphilosophie, die von einem selbsttätigen Verlauf zum Sozialismus ausgeht, abgegrenzt hätten. Wie erklärst du dir, daß sich diese Art von passiver Einstellung zum Geschichtsverlauf ausgerechnet im Bereich der Sozialdemokratie entwickelt hat?

AND: Das ist eine spannende Frage, und ich habe auch eine spannende Antwort darauf. Die Rezeption des Marxismus oder besser noch der Marxschen Schriften ist innerhalb der Sozialdemokratie vor allem während der Zeit des Sozialistengesetzes vorgenommen worden, wo die Partei zwar noch wählbar war, aber die Aktivitäten an der Parteibasis im Grunde verboten waren. In diesem Zusammenhang gibt es die nicht nur von mir, sondern auch aus anderen Quellen getroffene Einschätzung, daß sie am Ende ohnehin gewinnen werden, weil Marx als Wissenschaftler die Zukunft gesehen hat. Das hat durchaus eine tröstende Funktion innerhalb der Sozialdemokratie gehabt, mit der man die Anhängerinnen und Anhänger bei der Stange halten konnte, auch wenn es seinerzeit nicht danach ausgesehen hat, da sie von Bismarck verfolgt wurden. Sie konnten trotzdem gewiß sein, da der Ausgang des Ganzen wissenschaftlich verbürgt zu sein schien.

Zu einer großen Gefahr ist dieser Gewißheitsglaube dann spätestens im 20. Jahrhundert geworden. Das merkt man auch an der Diskussion um den Ersten Weltkrieg, wo in der SPD in der Weise spekuliert wird: Wenn wir von Marx wissen, daß die Geschichte den notwendigen Gang geht, dann könnte auch dieser Weltkrieg zu den notwendigen Stufen dazugehören, durch die wir hindurch müssen, und daher dürfen wir jetzt nicht unsere Organisation gefährden, indem wir uns gegen den Ausbruch des Krieges auflehnen. In solchen Gedanken wird das Zukunftsvertrauen fatal und eben auch zur Ideologie für das Abwarten. Die ersten dagegen gerichteten philosophisch-theoretischen Ansätze kamen von Ernst Bloch mit seinem Geist der Utopie, die ganz stark vom Versuch leben, das Moment des Wollens, Wünschens, Hoffens und Begehrens, aber auch des eigenen Tuns wieder an den Marxismus selber heranzutragen und darauf hinzuweisen, daß man mit dem Geschichtsvertrauen einen ganz wichtigen Punkt übersieht, nämlich, daß es darauf ankommt, was die Leute wollen und tun.

SB: Der Begriff der konkreten Utopie hat heute in Teilen der Linken wieder einen höheren Stellenwert. So werden beispielsweise in sozialökologischen Bewegungen Experimente des Zusammenlebens mit ökologischem Landbau bereits als verwirklichte Form einer künftigen Gesellschaft dargestellt. Haben diese Alternativmodelle einen Haken oder würdest du im Gegenteil sagen, daß sich die Utopie im Sinne der propagierten Transformationslogik von kleinen Zellen ausgehend letztlich global verwirklichen wird?

AND: Wenn es Aufgabe von konkreten Utopien ist, Wirklichkeiten auszumachen, dann kann man das sicherlich nicht nur in theoretischen Schriften tun, sondern könnte natürlich auch versuchen, dies in sozialen Experimenten oder - in den Bereich der Naturwissenschaft hineingehend - in technischen Prototypen umzusetzen. Ich würde all dies jedoch eher als Beitrag zur konkreten Utopie verstehen und noch nicht als Verwirklichung der Utopien. Denn wenn man von verwirklichter Utopie spricht, zerstört man die Spannung.

Ich nehme hierzu konkret das utopische Modell der Solarwirtschaft, wie sie seit den 70er Jahren als alternative Energiequelle verhandelt wird. Wenn ich mir eine Solaranlage aufs Dach stelle, ist das noch keine verwirklichte Utopie, sondern erst einmal eine persönliche Maßnahme. Wenn dagegen, wie in einzelnen Kleinstädten geschehen, die Menschen sich zusammentun und ihre eigenen Stromversorgungsunternehmen gründen, dann ist das eine noch stärkere Vorwegnahme offener utopischer Vorstellungen, aber die Utopie selber ist notwendig eine gesamtgesellschaftliche und bleibt als Fernziel bestehen. Das heißt nicht, daß jede Utopie für immer ein Fernziel bleiben muß. Sie können im Lauf der Zeit durchaus realisiert werden, aber im Sinne einer Sozialutopie, die sich auf Gesellschaft bezieht, sind einzelne Projekte nur Versuche bzw. Experimente, die in diese Richtung verweisen. Allerdings bedarf es für eine Richtung natürlich des Fernziels.

SB: Momentan kommen viele Menschen in großer Not hierher, aber viele in der Bundesrepublik zeigen sich nicht solidarisch, sondern befürchten, daß ihnen weiterer Mangel droht. Angesichts dieser regressiven Tendenz scheinen kaum noch Schritte in Richtung einer grenzüberschreitenden Solidarität möglich zu sein. Du warst selbst in der Flüchtlingsthematik aktiv, wie würdest du in dieser Situation eine emanzipatorische Perspektive eröffnen?

AND: Ich will Menschen, die häufig rassistisch argumentieren, wegen ihrer Angst nicht komplett entschuldigen, weil sie dies aus der Verantwortung für ihr eigenes Handeln und Denken nehmen würde. Wenn sich Leute in dieser Gesellschaft als die Zukurzgekommenen fühlen und den Eindruck haben, hier in irgendeiner Knappheit zu leben und daher meinen, die wenigen Brocken, die sie sich gesichert haben, verteidigen zu müssen, kann ich zumindest einen Mangel an utopischem Bewußtsein feststellen, denn objektiv gesehen leben wir in einer Gesellschaft, die für alle produzieren kann und Chancen bietet, Menschen aufzunehmen. Umgekehrt habe ich bei Leuten, die sich für die Geflüchteten engagieren, häufig das Gefühl, daß sie ihr Engagement durchaus mit utopischen Vorstellungen verbinden.

Ich erinnere mich da an eine Abschiebeblockade in Osnabrück, an der sich viele unterschiedliche Menschen beteiligt haben. Darunter war eine ältere Frau, die über ihre ortsansässige Gemeinde dazu gekommen war. Nachdem der Abschiebeversuch verhindert worden war und alle noch beisammen standen, sagte sie, daß sie jetzt endlich wieder das Gefühl hätte, das Richtige zu tun und daß der Umgang von Menschen untereinander wieder einen Sinn bekommen hätte und sie sich wünschen würde, daß es immer und überall so wäre. In diesem Moment hat sie einen Schritt vom eigenen Erleben zur Utopie gemacht. Mag sein, daß es bei ihr ein Bedürfnis nach Sinn oder Hoffnung gab. Von daher darf man die emanzipatorische Linke nicht unterschätzen, die sich in noch genaueren Analysen oder schärferen Kritiken austobt, auch wenn sie das utopische Moment häufig nicht bespielt, was natürlich die große Gefahr birgt, daß dies dann von irgendwelchen Ideologien besetzt wird. Insofern ist das eine sehr notwendige und nicht nur eine zusätzliche Angelegenheit.

SB: Wir sind hier auf der Linken Literaturmesse, auf der ein breites Spektrum linker Strömungen vertreten ist. Wo würdest du eine Schnittmenge sehen, aus der heraus eine gemeinsame Handlungsfähigkeit erwachsen könnte?

AND: Ich hoffe, daß es sie geben kann, aber dazu muß ich erst einen Schritt von der Utopiefrage weggehen. Denn ich glaube, daß das Setzen von Zwischenzielen auch eine Kunst ist, die gerade eine so stark zersplitterte Linke verlernt hat. Angesichts dessen, daß sich die unterschiedlichen Strömungen in ihren eingefahrenen Praxen, ihren globalen Gesellschaftskritiken oder Alternativentwürfen zumindest noch nicht verständigen können, wäre die Kunst, Zwischenziele in einem erreichbaren Rahmen zu setzen und sie gleichzeitig mit einer utopischen Perspektive zu verbinden, wichtiger denn je. Zu diesen Zwischenzielen gehören Recht auf Stadt, die Möglichkeit freier Migration und vielleicht auch die Postwachstumsdebatte mit hinein, um darüber Handlungsoptionen zu finden, damit man nicht gegeneinander, sondern zusammen kämpft und so auch neue Lernerfahrungen macht.

SB: Alexander, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnote:

[1] http://www.schmetterling-verlag.de/page-5_isbn-3-89657-683-6.htm


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8. Januar 2016


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