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BERICHT/113: 24. Linke Literaturmesse - Bildung und Herrschaft ... (SB)


Europa firmiert als Wiege einer Rationalitätskultur, die heute in vielfacher Gestalt die Welt beherrscht. Insofern ist Rationalität auch als spezielle Machtpraxis zu verstehen. These ist, dass eine wesenhaft bürgerliche Vernunft Voraussetzung für das permanente Fortschreiten von okzidentaler Expansion war und noch immer ist.
Mangroven Verlag zu Michael Wengrafs "Institutionalisierung der Vernunft" [1]


Der Übergang von der Sklavenhaltergesellschaft zum Feudalismus vollzog sich über so große Zeiträume und disparate Entwicklungsverläufe, daß er aus Perspektive des historischen Materialismus zwar prinzipiell, aber kaum im Sinne eines präzisen und konsistenten zeitlichen Rahmens und lokalisierbaren Ortes dargelegt werden kann. Für Marxisten, die sich mit dem Übergang der Formationen beschäftigen, sollte indessen der Formationswechsel vom Feudalismus zum Kapitalismus nicht zuletzt deswegen von Interesse sein, weil er historisch der einzige ist, der konkret nachvollzogen werden kann. Gilt es die Entstehungsgeschichte des europäischen Sonderwegs auszuleuchten, der die kapitalistischen Produktionsverhältnisse samt der kolonialistischen Expansion hervorgebracht und beflügelt hat, fördert die Auseinandersetzung mit der Renaissance des 12. und 13. Jahrhunderts in Westeuropa und Italien wesentliche Umbrüche und Entwicklungsschübe zu Tage.

Wir können von einem Europa ausgehen, das nach der Antike vom Frühmittelalter, also dem 6. bis 8. Jahrhundert, bis zum 11. Jahrhundert einer Mönchskultur verpflichtet war. Bildung spielte sich in wesentlichen Bereichen Europas im Kloster ab, wobei die Maxime der Kontemplativität, also einer Verinnerlichung, vor allem mit einem unkritischen Replizieren sogenannter Autoritäten verbunden war. Demgegenüber setzte die Scholastik mit einer Fragekultur ein, zumal die Wiederentdeckung des Aristoteles zur wieder zugänglich gemachten Beschäftigung mit Empirie führte. Die Außenwelt wurde wieder wahrgenommen, was wissenschaftstheoretisch als Fortschritt zu werten ist.

Die damalige religiöse Welt des Christentums stellte keineswegs eine Einheit dar, da es der Papstkirche nicht gelang, des von ihr als Häresie verdammten Sektenwesens Herr zu werden. Es gab immer wieder innerkirchliche Ansätze eines nicht-orthodoxen Denkens, und da Kirche nicht nur eine geistliche, sondern auch eine ökonomische Macht war, erbitterte Kämpfe um die Pfründe. Die Verschränkung ideologischer Positionen mit materiellen Interessen gewinnt im sogenannten Mendikantenstreit besonders deutlich Kontur. Mitte des 13. Jahrhunderts faßten die Bettelorden der Franziskaner und Dominikaner an der Pariser Universität Fuß, wo sie zwei von drei Lehrstühlen besetzten. Sie übernahmen zugleich das lukrative Geschäft der Seelsorge wie insbesondere die Betreuung der Sterbenden und damit die Erbschaft, so daß der Klerus erhebliche Einbußen hinnehmen mußte. Bei dieser Auseinandersetzung ging es also buchstäblich ums Ganze. Spricht ein marxistischer Ansatz heute von einem ideellen Gesamtkapitalisten, so ließe sich die damalige Katholische Kirche als ideeller Gesamtfeudalist charakterisieren, der immer wieder bestrebt war, die Geschichte im Sinn der herrschenden Klasse auszurichten.


Buchcover 'Institutionalisierung der Vernunft' - Foto: © 2019 by Schattenblick

Foto: © 2019 by Schattenblick


"Institutionalisierung der Vernunft"

Im Rahmen der 24. Linken Literaturmesse in Nürnberg stellte Michael Wengraf sein Buch "Institutionalisierung der Vernunft. Zur Genese der europäischen Universitäten" [2] vor, das im Mangroven Verlag erscheint. Der Historiker, Wissenschaftstheoretiker, Journalist und Lektor an der Universität Wien hat sich insbesondere mit der Mediävistik, also mittelalterlichen Ideengeschichte, speziell mit dem Averroismus und dessen Einfluß auf Europa und das europäische Denken beschäftigt. Im vorliegenden Band geht es um Geschichte, um Ideengeschichte, aber auch um wesentliche Aspekte des historischen Materialismus. Es geht um Formationsgeschichtliches, um den Wechsel von feudalen Verhältnissen hin zu vorkapitalistischen und bürgerlichen Verhältnissen und wie sich das auf der Ebene der Ideengeschichte und des Denkens widergespiegelt hat. Der Autor nimmt eingangs Bezug auf Samir Amin, der in seinem Buch "Eurozentrismus" die Eröffnung der Moderne mit der Aufklärung des 17./18. Jahrhunderts ansetzt. Er sieht darin den eigentlichen Bruch mit den überkommenen Verhältnissen, mit der Herrschaft Gottes und seiner Verantwortlichkeit für Gesetz, Welt und Schöpfung. Als Mittel dieser Emanzipation gilt die Vernunft, die Rationalität, die durch die Aufklärung als eine wesenhaft bürgerliche befestigt wird. Amin sieht die Aussöhnung von Glauben und Vernunft als ein Relikt der Vergangenheit, des Konservatismus, des theologisch-mediävistischen Zeitalters an.

Wengraf würdigt dies als bedeutsam für weiterführende historisch-materialistische Ansätze, beharrt aber auf einer aus seiner Sicht unverzichtbaren Ergänzung. Seinen Analysen zufolge hat diese europäische Moderne schon wesentlich früher begonnen, da ihr richtungsweisendes Vorspiel in der Renaissance des 12. und 13. Jahrhunderts anzusiedeln sei. Schon damals setzt die Säkularisierung mit dem Import vor allem der arabisch-averroistischen Aristotelik ein und wird durch einen völlig neuen Schultyp, der zu dieser Zeit entsteht, nämlich die europäische Universität, damals freilich noch in statu nascendi, entscheidend befördert. Hinter dieser Entwicklung stehen gesellschaftliche Ereignisse wie das Aufkommen der städtischen Kommune und eines Bürgertums neuen Typs, das sich neben der gewerblichen Produktion vor allem auf den Handel und beginnenden Fernhandel stützt. Das Zusammenspiel dieser Kräfte ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Befestigung des Paradigmas der Rationalität, das unser Denken heute weitgehend beherrscht, für die Moderne und auch, was häufig unterschätzt wird, für die darauf folgende europäische Expansion.

Die diesem Prozeß eingeschriebene Vernunft mußte für einige Jahrhunderte in Form des Thomismus einen Kompromiß mit dem Glauben eingehen. Der Autor sieht darin nicht etwas Rückwärtsgewandtes, sondern macht auch einen nach vorne weisenden Aspekt aus, da diese Synthese seines Erachtens kein Relikt der Vergangenheit darstellt, sondern einen Weg in die Zukunft weist. Die "Institutionalisierung der Vernunft" beschäftigt sich daher ebenso mit der Emanzipation einer wesenhaft bürgerlichen Rationalität wie mit der Synthese, die diese Rationalität mit dem herrschenden christlichen Dogma eingegangen ist, ja eingehen mußte, um überleben zu können und ihre Position zu festigen. Diese Synthese ist demnach wesentliche Voraussetzung des europäischen Sonderwegs, wobei schon Marx auf die Bedeutung der christlichen Ideologie für die Entwicklung des Kapitalismus hingewiesen hat.

Aus der Synthese von Glauben und Vernunft entsteht eine Haltung, die in einer Gesellschaft, in der diese beiden Pole mehr oder weniger austariert sind, akzeptable Verhältnisse entstehen läßt, die man gemeinsam nutzen und vorwärtstreiben kann. Das war die Voraussetzung, daß eine in wesentlichen Teilen politisch noch feudal dominierte Welt mit einer sich herausbildenden bürgerlichen Gesellschaft gemeinsam ein Projekt, das man mit europäischer Expansion beschreiben könnte, forcieren konnte. Die bürgerliche Zweckrationalität ist verbunden mit einer Quantifizierung, Meßbarkeit und Kategorisierbarkeit von Welt und die Herausbildung eines solchen Denkens Voraussetzung für einen erfolgreichen kapitalistischen Weg.


Beim Vortrag am Tisch - Foto: © 2019 by Schattenblick

Michael Wengraf
Foto: © 2019 by Schattenblick


Rationalität als eine spezielle Form der Machtpraxis

Die spezielle Perspektive der Entstehungs- und frühen Entwicklungsgeschichte der ersten europäischen Universitäten ergibt sich dabei aus einer Zusammenschau der Genese dieser Universitäten einerseits und der Befestigung des Rationalitätsparadigmas andererseits, die mit dieser Entwicklung einhergeht. Europa ist die Wiege einer Rationalitätskultur, die heute in vielfacher Gestalt die Welt beherrscht. Insofern ist Rationalität nicht nur als wissenschaftliches Phänomen aufzufassen, sondern auch eine spezielle Form der Machtpraxis geworden. Diese europäisch bürgerliche Vernunft ist jenes Vehikel, mit dem ein permanentes Fortschreiten von okzidentaler Expansion und Kolonialismus befördert wird, wenn man etwa den Zusammenhang von Kolonialismus und christlicher Mission betrachtet. Es handelt sich insgesamt gesehen um eine Bewegung, in der sich die Rationalität in zunehmendem Maße zu einer allgemeingültigen Prämisse auswächst und ausbreitet, die heute vor allem in ökonomischen Belangen weithin dominiert. Die europäische Universität war jener Rahmen, in dem die Vernunft gemäß den jeweiligen gesellschaftlichen Erfordernissen, die in ständiger Veränderung begriffen waren, passend modelliert worden ist. Die Durchsetzung des Rationalitätsparadigmas erfolgte also nicht zufällig gleichzeitig mit der Genese von Universität, die beiden hängen relativ eng miteinander zusammen.

Hier geht es in erster Linie um wissenschaftliche Rationalität, die aber nur als ein Bestandteil einer umfassenden Rationalität gesehen werden darf. Man findet zweckrationales Denken auch in vielen anderen Bereichen wie der Naturwissenschaft, Technik, materiellen Produktion, dem Rechtssystem, der Lebensführung und nicht zuletzt der Religion. Daraus ergibt sich in Europa schließlich ein rationaler Prozeß, der an seinem vorläufigen Ende zu einer Totalität bürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse führt. Alle Teilelemente dieser Rationalität basieren auf einer universalen Vernunftfähigkeit des Menschen. Wengraf untersucht die explizit bürgerliche Rationalität, deren Entwicklung eng mit den hohen Schulen in Europa zusammenhängt. Den Ausgangspunkt dieser Betrachtungen fixiert die Überzeugung, daß es unmöglich ist, eine Institution wie die Universität oder ein irgend geartetes gesellschaftliches Phänomen zu begreifen, ohne auch den historischen Prozeß zu verstehen, der diese Erscheinungen hervorgebracht hat. Um die Phänomene zu verstehen, muß man die wesentlichsten Triebkräfte erfassen, die dahinterstehen, unterstreicht der Referent.

Die Entstehung der Universität wie auch des Bürgertums und die Wieder- oder Neuentdeckung der begrifflichen Rationalität verlaufen zeitlich gesehen synchron. Es ist ein Prozeß, der Mitte bis Ende des 11. Jahrhunderts einsetzt und dann im späten 12. und frühen 13. Jahrhundert seinen Höhepunkt erreicht. Wie der Historiker Joachim Ehlers einmal in bezug auf die Renaissance der Wissenschaft im 12. und 13. Jahrhundert sagte, besäßen wir zwar eine Reihe von Arbeiten zur Individualität einzelner Schulen, aber keine befriedigend angelegte Synthese, die von übergeordneten Gesichtspunkten ausgeht. Diese Lücke zu füllen ist Wengrafs Forschungsansatz, der diese Epoche in eine gesamtgesellschaftliche Bewegung einordnet, die damals in Europa eine ganz bestimmte Richtung genommen hat. Prägend ist dabei die Stadtentwicklung, die frühbürgerliche Wirtschaftsform in den Kommunen und damit verbunden eine Rationalisierung des gesamten Lebensprozesses. Wie aber die Zweckrationalität ein allgemeines Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft darstellt, so bezeichnet die Auseinandersetzung, die zu dieser Zeit um die Rationalität geführt wurde, gesamtgesellschaftlich gesehen auch das permanente Voranschreiten des Bürgertums.

Es gilt also den Zusammenhang einer sich verändernden gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit mit jenem Vorgang zu untersuchen, der als geistiger Aufschwung, als Rationalisierung aufgefaßt wird. Mithin lautet die Forschungsfrage: Warum entstand die Universität und die Verwissenschaftlichung des Denkens gerade zu der Zeit an bestimmten Orten? Für einen Marxisten impliziert die Herausbildung von Rationalität natürlich ein tätiges Moment und die Präsenz eines handelnden Subjekts. Dies erfordert, Universität nicht nur dinglich in ihren materiellen Komponenten, sondern vor allem als einen Raum menschlichen Agierens aufzufassen, in dem Wissen, Sinn und Bedeutung gewissermaßen paradigmatische, unter raum-zeitlichen Bedingungen jeweils veränderliche Gestalt annehmen. Der Autor weist seine Arbeit daher vor allem als Ansatz aus, auf marxistischer, historisch-materialistischer Basis einen Beitrag in Richtung der von Ehlers angemahnten Synthese zu leisten. Die bisherige Universitätsgeschichte, so sie von der historischen Zunft betrieben wurde, war im wesentlichen eine Geschichte materieller Institutionen. Weniger Beachtung fand hingegen die Frage, welche geistigen und gesellschaftlichen Bewegungen welche Phänomene, welche Inhalte zu eben dieser Organisationsform Universität gedrängt haben.


Frühbürgerlich-präkapitalistischer Aufbruch

Ansatzpunkt ist dabei die These, daß es vor allem in der Praxis ablaufende Prozesse waren, die an bestimmten Orten im Nordwesten Europas und in Italien, die ökonomisch am weitesten entwickelt waren, zur Herausbildung eines neuen Schultyps geführt haben. Die Lebenswelt und Umstände, mit denen die Menschen konfrontiert waren, prägten die Entwicklung von Universität und nicht umgekehrt. Allerdings darf das nicht als eine Einbahnstraße gesehen werden, da es sich um ein komplexes Beziehungsgeflecht zwischen materieller Basis und geistig-ideellem Überbau handelt, so der Referent. Zusätzlich wirkte ein spezifischer Drang zu einer alternativen Organisation bisherigen und neu gewonnenen Wissens. Es ging um die geeignete Strukturierung und die Einordnung frischer Erkenntnisse in einen nunmehr rationalen Rahmen. Anders gesagt waren es vor allem praktische Bedürfnisse, die nach einer genormten und standardisierten Ausbildung riefen, nach einem Studium generale, wie es damals hieß. Das war beispielsweise der wachsende Bedarf an gebildeten Verwaltungsbeamten, aber auch an im Vertragsrecht geschulten Juristen im Zuge eines wiedererstarkenden Fernhandelslebens oder auch an einer verwissenschaftlichten Theologie als einem sehr wirksamen Instrument der katholischen Orthodoxie gegen die damals wild wuchernden Heräsien, die zum Teil durchaus auch als sozialer Protest verstanden werden dürfen.

Hinter der Herausbildung von Universität in Europa stand also ein Konglomerat von Ursachen, die eingebettet in eine allgemeine gesellschaftliche Bewegung waren. Diese führte etwa ab der Jahrtausendwende vom flachen Land in Richtung der Städte, von einem Monopol des Grundeigentums zum Kaufmannskapital und zu handwerklicher Produktion, von personalen zu dinglichen Beziehungen im Wirtschaftsleben, ja sogar im Grundeigentum selbst bringt dieser Wandel gewisse differenzierende Wirkungen hervor. Es entwickelt sich ein Pachtsystem und partiell sogar Lohnarbeit, die vor allem in England eine Schicht von wohlhabenden Bauern erzeugt, die weiter gesellschaftlich eine Rolle spielen werden. In dem einsetzenden Prozeß werden die damals alles beherrschenden feudalen Verhältnisse allmählich durch frühbürgerliche und präkapitalistische ergänzt. Denn Handel- und Handelskapital trat erheblich früher als die kapitalistischen Produktionsverhältnisse auf den Plan, und das sich im Hochmittelalter in diesem Prozeß herausbildende Handelskapital kann seinerseits als die historisch älteste freie Existenzweise von Kapital betrachtet werden.

Indessen stellt das untersuchte Zeitalter erst ein Vorfeld radikaler Umgestaltungen dar. Teilweise wird unter den herkömmlichen Produktionsverhältnissen auf eine neue Art und Weise gewirtschaftet. Dabei ändert das Erblühen der Städte und des Handels noch nichts an der Dominanz insgesamt feudaler Verhältnisse. Das Kaufmannskapital richtet sich zunächst in der alten grundherrlichen Welt ein und beginnt dort, ein gewisses Eigenleben zu führen. Als Triebkraft und handelndes Subjekt fungiert ein frühes, an rationalen Abläufen interessiertes Bürgertum, das sich ab dem 11. Jahrhundert in den wiederbelebten Städten herausbildet. Hintergrund dieses Szenarios bildet eine Ära des Wandels in Europa, der sowohl die materiell-ökonomische Ebene als auch jene der geistigen Reflexion erfaßt hat. An der Wende von der ersten zur zweiten Feudalzeit entsteht ein gesellschaftliches Bedürfnis nach Rationalität. Voraussetzung dafür war jedoch, daß jene Akteure, die später an der Universität als Scholaren und nachmalige Magister agieren, zunächst durch Intensivierung der agrarischen Ökonomie aus diesem produktiven Bereich freigesetzt wurden, weil die agrarische Produktion eine wachsende städtische Bevölkerung ernähren konnte.


Wandel des Geistes- und Wissenschaftslebens

Bevor die Genese der Universität im lateinischen Mittelalter diskutiert werden kann, ist es unerläßlich zu klären, in welcher Verfassung sich das damalige Geistes- und Wissenschaftsleben vor diesem Wandel befand. Alles theoretische und wissenschaftliche Denken geschah im Rahmen des Christentums und seiner Ideologie. Darin lassen sich vor allem zwei relevante Grundmuster unterscheiden. Einerseits wurde die Überzeugung vertreten, daß das Christentum mit der natürlichen philosophischen Vernunft, wie man sie damals gefaßt hat, kompatibel ist. In Opposition dazu gab es eine andere, dominante Haltung, den Glauben, die Offenbarung als eine gewollte Provokation der Vernunft zu sehen, also die Inkompatibilität der beiden zum Dogma zu erklären. Die zweite Einstellung fußt vor allem auf Augustinus, der mit seinen Worten, glaube, damit du erkennst, dem Glauben den Vorzug vor der Vernunft gibt. Ich glaube, und weil ich glaube, wird mir die korrelative Einsicht zuteil, deren Inhalte durch den Glauben natürlich schon präformiert sind. Petrus Abaelardus hat dann einige Zeit später als einer der Begründer moderner Wissenschaftlichkeit diese Haltung in ihr Gegenteil verkehrt. Seines Erachtens ist es lächerlich, wenn einer etwas predigen wolle, was weder er selbst noch seine Zuhörer mit dem Verstand fassen können. Es ist ein Anliegen der rationalen Theologie, daß man bei Menschen, denen die christliche Offenbarung unbekannt ist und die man im Zuge der Mission bekehren will, auf einen Punkt kommen muß, den alle miteinander teilen, nämlich die allgemeine und universelle Vernunftfähigkeit des Menschen, da erst auf dieser Ebene eine Bekehrung möglich sei.

Die alte Augustinische Haltung hat natürlich einen identifizierbaren Hintergrund. Zu einer Zeit, in der die Zersplitterung der Welt, Anarchie, ein auf Zufall aufgebautes Leben und düstere Mächte vorherrschen, sind Schicksalsergebenheit, mystische Spiritualität und Ungewißheit, die als ewiges Gesetz ausgewiesen wird, unabdingbare Voraussetzungen einer herrschaftsadäquaten Ideologie. Darin widerspiegelt sich das Interesse einer herrschenden Schicht der damaligen Epoche. Wenn sich aber Ordnung langsam zu verfestigen beginnt, wenn ein Weg in Richtung Absolutismus beschritten wird, das Bürgertum städtischen Handel und Produktion zu betreiben beginnt, reicht die alte Ratio nicht mehr aus. Dann ist eine konkrete Vorstellung dessen erforderlich, was hier und heute gerade ist und morgen sein wird. Unter solchen gesellschaftlichen Umständen bedarf es eines gewissen Ausmaßes an Planung und Berechenbarkeit der diesseitigen Welt.

Es ist der Prozeß der weltlichen Emanzipation des Bewußtseins, der die Bildungsgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft begleitet hat, wie Thomas Metscher es einmal formuliert hat. So diskontinuierlich und uneinheitlich dieser Prozeß auch verläuft, seine grundlegende Tendenz ist die Verweltlichung, die Verdiesseitigung des Denkens, die Bewegung von der Theologie hin zur Philosophie, und die Kämpfe um diese neue Ausrichtung spielen sich überwiegend an den gerade entstehenden Universitäten ab. Nach den Worten Karl Mannheims ist das bürgerlich-kapitalistische Bewußtsein dadurch charakterisiert, daß es prinzipiell keine Grenzen der Rationalisierung kennt. Es führte zu einer Intellektualisierung, die Max Weber einmal als die Entzauberung der Welt beschrieben hat. Diesen Entwicklungsgang aus marxistischer Perspektive mitzuverfolgen war Michael Wengrafs Forschungsansatz bei der "Institutionalisierung der Vernunft".


Fußnoten:


[1] www.mangroven-verlag.de/institutionalisierung-der-vernunft/

[2] Michael Wengraf: Institutionalisierung der Vernunft. Zur Genese der europäischen Universitäten, Mangroven Verlag Kassel, ca. 410 Seiten, 27,00 EUR, Erscheinungsdatum in Vorbereitung


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8. Dezember 2019


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