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BERICHT/101: 24. Linke Literaturmesse - Verbotsopportunismus ... (SB)



Bücherlesend begreife ich, wir waren stets eine Minderheit, wir Bücher-Fans, Buch-Narren, lebend lesen lernend, lesend leben lernend, Botschaften gebend und empfangend. Ich wage die Behauptung: Obwohl es viele dumme Bücher gab und gibt, schuf die Summe aller Bücher zusammen mehr Licht als Dunkelheit. Ich sage es mit dem lässigen Patriotismus des Alphabeten, ich habe gelesen, lese, werde lesen, sollte das Buch keine Zukunft haben, dann hat Zukunft keine Zukunft.
Gerhard Zwerenz - Der Kampf ums Buch [1]

Drei Tage lang ließ das Bundesinnenministerium im März 2018 die Geschäftsräume des Mezopotamien Verlages und des Musikvertrieb MIR Multimedia im nordrheinwestfälischen Neuss durchsuchen. Mehrere LKW-Ladungen von Büchern und digitalen Medien wurden beschlagnahmt und abtransportiert. Das Bundesinnenministerium lastete den betroffenen Betrieben in einer Pressemitteilung vom 8. März 2018 an, mit den "von ihnen vertriebenen Produkten den organisatorischen Zusammenhalt der in Deutschland verbotenen PKK zu unterstützen". Beide Firmen seien "dringend verdächtig, sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung gem. Art. 9 Abs. 2 GG zu richten: Ihre gesamte Geschäftstätigkeit unterstützt mit der PKK eine Organisation, die sich ihrerseits gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet." [2]

Das von vielen Seiten als politische Willkür kritisierte und in anderen EU-Staaten längst aufgehobenen PKK-Verbot dient nicht nur dazu, AktivistInnen der kurdischen Freiheitsbewegung in der Bundesrepublik dem politischen Strafrecht nach Paragraph 129 a und b auszusetzen. Mit ihm werden auch weitgehende Eingriffe in die kulturelle Selbstbestimmung und die grundrechtlichen Freiheitsgarantien eines Teiles der Bevölkerung begründet. Nicht nur aus der Türkei stammende KurdInnen mit deutscher Staatsangehörigkeit oder in der Bundesrepublik in politischem Asyl lebende Menschen werden auf diese Weise daran gehindert, in ihrer Muttersprache zu publizieren oder zu lesen. Jeder Mensch, der sich über Hintergründe der Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung in der Türkei und der kriegerischen Auslöschung des Gesellschaftsexperimentes Rojava in Nordsyrien informieren will, wird in seiner Freiheit, dies zu tun, durch ein politisch motiviertes Rechtskonstrukt daran gehindert. Einmal angenommen, es ginge diesem Staat tatsächlich darum, die Völkerverständigung zu fördern, dann hat er mit dieser Verbotsmaßnahme das Gegenteil dessen getan.

Für die Bundesregierung genießt das Bündnis mit dem NATO-Partner Türkei nicht nur aufgrund des vielzitierten Flüchtlingsdeals mit dem AKP/MHP-Regime höchste Priorität. Sie verfolgt, wie die kriegerischen Ambitionen der Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer belegen, eigene, durchaus von US-amerikanischen und russischen Interessen abweichende geostrategische Ambitionen im Nahen und Mittleren Osten. Das deutsche Hegemonialstreben in der EU übersetzt sich quasi fugenlos auf die EU-europäische Peripherie und setzt dabei auf ein Bündnis mit der Türkei, das in der Geschichte des deutschen Imperialismus schon vielen Belastungsproben ausgesetzt war. Diese wurden von den jeweiligen Regierungen in Berlin stets zugunsten einer Option der Stärke entschieden, sprich zu Lasten von der Türkei verfolgter Minderheiten armenischer oder kurdischer Herkunft oder AktivistInnen linker und kommunistischer Gesinnung. Ali Çiçek von Civaka Azad (Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V.) faßt die Position der Bundesregierung in einem aktuellen Text kurz und bündig so zusammen:

Bedingungslose Unterstützung für den Krieg gegen die PKK in Nordkurdistan, Schweigen und Lippenbekenntnisse zu grenzüberschreitenden türkischen Militäroperationen in Südkurdistan und dem Krieg in Nordsyrien, Ignoranz gegenüber den Errungenschaften in Rojava, Unterstützung für die kurdische Regionalregierung als Gegengewicht zur kurdischen Freiheitsbewegung sowie Repression gegen die kurdische Freiheitsbewegung und solidarische Kreise in der Bundesrepublik und ihre Kriminalisierung: Das ist die Linie der Bundesregierung in der kurdischen Frage. [3]

Bundesinnenminister Thomas de Maizi`ere bekräftigte die Kriminalisierung des Mezopotamien Verlages am 8. März 2018 mit der martialischen Ansage: "Der Rechtsstaat bietet seinen Feinden die Stirn!" Ein Rechtstaat, in dem die Meinungs- und Publikationsfreiheit so niedrig gehängt wird, daß ein ganzes Büchersortiment beschlagnahmt werden kann, von dem kein einzelnes Werk zuvor strafrechtlich sanktioniert wurde, kann vermutlich nicht anders, als das eigene Ansehen mit ideologischer Rabulistik anhand einer seit 30 Jahren untergegangenen DDR, die sich nicht mehr wehren kann, aufzupolieren.

Folgerichtigerweise wurden im Februar 2019 die Mezopotamien Verlag und Vertrieb GmbH und die MIR Multimedia GmbH unter Berufung auf das Vereinsgesetz als "Teilorganisationen der 1993 in Deutschland verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verboten und aufgelöst". Auch dieses Mal kam es zu umfassenden Durchsuchungs- und Beschlagnahmeaktionen. Angeblich wären mit dem "wirtschaftlichen Ertrag" der beiden Betriebe "die Aktionsmöglichkeiten der Terrororganisation in Deutschland und Europa nachhaltig gestärkt" worden, die "in Deutschland mit ca. 14.500 Anhängern mit Abstand die mitgliederstärkste extremistische Ausländerorganisation" sei. Die in einer Pressemitteilung des nun von Horst Seehofer geführten Bundesinnenministeriums vom 12. Februar 2019 aufgelisteten Zahlen zur politischen Verfolgung der kurdischen Freiheitsbewegung dokumentieren, daß die gegen ihre AktivistInnen und Organisationen gerichteten Verfügungen keine Ausnahmefälle eines ansonsten von politischer Justiz freien Rechtstaates darstellen, sondern integraler Bestandteil der breit angelegten Unterdrückung nicht mit der herrschenden politischen Deutungsmacht kompatibler Positionen sind:

Seit 2004 haben die Strafverfolgungsbehörden der Länder in einer sehr hohen vierstelligen Zahl strafrechtliche Ermittlungsverfahren mit PKK-Bezug eingeleitet.

Der Generalbundesanwalt (GBA) hat bislang 180 Ermittlungsverfahren mit diesem Bezug geführt. Seit 1992 sind auf Anklage des GBA durch die Oberlandesgerichte gegen Funktionsträger der PKK in Deutschland über 70 Urteile ergangen, mit denen mehr als 90 Angeklagte verurteilt wurden.

Darüber hinaus haben die Verbotsbehörden des Bundes und der Länder seit 1993 die PKK selbst und weitere 52 ihr zuzurechnende Organisationen verboten. Das BMI hat zuletzt 2008 den PKK-Fernsehsender Roj-TV mit einem Betätigungsverbot für Deutschland belegt. [4]

Angesichts dieser furchteinflössenden Phalanx staatlicher Zwangsmaßnahmen kann es nicht erstaunen, daß die Berichterstattung bürgerlicher Medien über die Unterdrückung kurdischer Verlagsarbeit weitgehend unterhalb der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle verblieb. In einem Land, in dem das Fanal der Bücherverbrennung des Sommers 1933 durch die NS-Studentenschaft immer wieder als warnendes Beispiel für die zerstörerischen Folgen der Einschränkung politischer Freiheit heranzitiert wird und dessen Kultureliten Zensurmaßnahmen autoritärer Regimes mit dementsprechender Schärfe verurteilen, blieben aufrüttelnde Reaktionen und kritische Kommentare in großen Medien fast vollständig aus.

Im Newsletter des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) 1/2019 wurde die Verbotsmaßnahme ebenfalls damit begründet, daß die geschäftlichen Aktivitäten der Verlagsarbeit "die Aktionsmöglichkeiten der Organisation (PKK) in Deutschland und Europa nachhaltig stärkte". Wer sich im Buchgeschäft auskennt, kann angesichts der Behauptung, daß ein Kleinverlag, der vor allem in kurdischer Sprache publiziert, so viel Geld einbringen soll, daß er eine angeblich terroristische Organisation alimentieren kann, nur staunen. Dafür werden üblicherweise, wie etwa im Fall islamistischer Kampfgruppen in Syrien, Millionenbeträge aus Staatshaushalten in aller Welt eingesetzt oder, wie im Falle des IS, mit Unterstützung der Türkei Erträge aus dem Ölgeschäft herangezogen.

Insgesamt jedoch zeigte man sich beim BfV zufrieden, daß es außer unter den üblichen Verdächtigen zu keinen nennenswerten, die bundesrepublikanische Öffentlichkeit alarmierenden Reaktionen auf das Vereinsverbot kam. In dem Amt, das mit Sinan Selen seit Januar 2019 über einen in der Türkei geborenen Vizepräsidenten verfügt, dessen Karriereweg über das Amt des Leiters des Referates für Ausländerterrorismus und Ausländerextremismus im Bundesinnenministerium führte [5], scheint man davon überzeugt zu sein, daß politische Interessen bei der staatlichen Bekämpfung der kurdischen Freiheitsbewegung keinerlei Rolle spielen:

Die schnelle Thematisierung des Verbots durch Anhänger und Medien der PKK und dessen Darstellung als weiteres Beispiel für die angebliche "Kriminalisierung" der Kurden in Deutschland und die angebliche Zusammenarbeit zwischen Deutschland und der Türkei zum Nachteil der hier lebenden Kurden entsprach soweit den üblichen Reaktionen der Organisation auf entsprechende staatliche Maßnahmen. Diese Reaktionen hielten aber in der Folgezeit nicht sehr lange an [6].


Programm Herbst 2019 der Edition Mezopotamya - Foto: © 2019 by Schattenblick

Foto: © 2019 by Schattenblick


Solidaritätsprojekt gegen die systematische Unterdrückung kurdischer Stimmen

Um so erfreulicher ist die von drei Verlagen getragene Initiative, mit der Edition Mezopotamya ein Solidaritätsprojekt zugunsten des inkriminierten kurdischen Verlages zu starten. Entstanden war die Idee in Folge einer Solidaritätserklärung, zu der der Inhaber des Antiquariates Walter Markov und kulturpolitische Sprecher der Linksfraktion Bonn, Jürgen Repschläger, im März 2018 aufgerufen hatte [7]. In einer Präsentation des Projektes auf der 24. Linken Literaturmesse in Nürnberg [8] berichtete Esther Winkelmann vom Antiquariat Walter Markov, daß man bei einem Treffen auf der Leipziger Buchmesse 2018 die Idee entwickelte, die Wiederherausgabe einiger Werke des Mezopotamien Verlages nach dem Vorbild des verlegerischen Widerstandes gegen die Beschlagnahmung des Buches Wie alles anfing von Bommi Baumann in die Wege zu leiten.

Das frühere Mitglied der Bewegung 2. Juni hatte mit diesem autobiographischen Bericht ein Buch vorgelegt, auf das der Staat kurz nach seiner Veröffentlichung durch den Trikont Verlag auf der Frankfurter Buchmesse 1975 mit bundesweiten Durchsuchungsaktionen reagierte. Gegen die massive Unterdrückung der Verbreitung des Werkes eines Aktivisten, dessen Ansichten auch innerhalb der radikalen Linken auf Kritik stießen und der, wie sich später herausstellte, umfassend mit dem Staatsschutz zusammenarbeitete [9], protestierten zahlreiche Verlage und Einzelpersonen.

Im Sommer 1977 kam es zu einer Neuherausgabe des Buches, für die über 300 Verlage und Einzelpersonen verantwortlich zeichneten, unter ihnen so prominente Personen wie Jean Paul Sartre, Hans Magnus Enzensberger, Inge Feltrinelli, Giulio Einaudi, Rudi Dutschke, Ossip Flechtheim, Helmut Gollwitzer, Peter Handke, Jan Myrdal, R. Neven Du Mont, Luise Rinser, Volker Schlöndorff, Alice Schwarzer, F.K.Waechter, Peter Weiss und Gerhard Zwerenz. Auch gegen die zweite Auflage erging ein Beschlagnahmebeschluß, und es sollte bis Oktober 1978 dauern, bis das Buch vollständig legalisiert und die VerlegerInnen des Trikont-Verlages, Gisela Erler und Herbert Röttgen, vom Bundesgerichtshof freigesprochen wurden.


Mit Buch über Demokratischen Konföderalismus - Foto: © 2019 by Schattenblick

Esther Winkelmann und Martin Birkner bei der Präsentation des Solidaritätsprojektes
Foto: © 2019 by Schattenblick


Vom Schweigen der Lämmer

Was vor mehr als 40 Jahren ein Politikum ersten Ranges war und in seiner juristischen Aufarbeitung heute als exemplarisches Beispiel für den problematischen Umgang der Justiz mit der Meinungsfreiheit gehandelt wird, rangiert heute unter "ferner liefen". Die geringe Aufmerksamkeit, die ein solch elementarer Bruch mit bürgerlichen Grund- und Freiheitsrechten wie das Verbot des Mezopotamien Verlages heute erhält, läßt nichts Gutes erwarten für den Fall einer diktatorischen Ermächtigung oder anderer gravierender Formen staatlicher Repression.

Nicht nur KurdInnen sind von einer Praxis staatlicher Repression betroffen, die sich direkt gegen den Austausch politischer Gedanken und die Kommunikation unter AktivistInnen richtet. Das Verbot von Indymedia linksunten im August 2017 war ein kurz nach den G20-Protesten in Hamburg und einige Monate vor den Klimaprotesten im Umfeld des Weltklimagipfels in Bonn strategisch gut plazierter Schlag gegen eine wichtige Kommunikationsstruktur der radikalen Linken [10]. Auch in diesem Fall bediente sich das Bundesinnenministerium einer abenteuerlichen Begründung und ließ keinen Zweifel daran, daß der Zweck die Mittel heiligt. Rechtlich ist zwar nichts geklärt, aber der Staat hat auf lange Zeit eine Einrichtung lahmgelegt, die für die Mobilisierung sozialen Widerstands zentral war.

Martin Birkner vom Wiener Mandelbaum Verlag, der neben der Zürcher Edition 8 und dem Unrast Verlag aus Münster für die Neuherausgabe einiger der nicht mehr erhältlichen Bücher im Rahmen der Edition Mezopotamya verantwortlich zeichnet, merkte bei der Vorstellung der Solidaritätsinitiative an, daß mit der Verbotsmaßnahme praktisch die Beweislast umgekehrt und damit der bürgerliche Rechtstaat auf den Kopf gestellt werde. Wo ein Strafurteil normalerweise erst nach erwiesener Schuld vollzogen wird, wurde das Urteil in diesem Falle außergerichtlich verhängt und in Form der Beschlagnahme des Verlagseigentums und einer Verbotsverfügung nach dem Vereinsrecht durchgesetzt. Nun müssen die betroffenen Betriebe vor Gericht den Nachweis antreten, daß sie zu Unrecht als Teilorganisationen der PKK verboten wurden, ohne in dieser Zeit wie zuvor publizieren zu können.

Der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Abgeordneten Simone Barrientos, Petra Sitte und Doris Achelwilm der Linksfraktion im Bundestag an die Bundesregierung [11] ist zu entnehmen, daß der Inhalt der über 50.000 beschlagnahmten Bücher und Medienträger für das Verbot irrelevant sei, weil es sich insgesamt um das "Organisationsvermögen der PKK" handle. Die pauschale Begründung, mit der der Mezopotamien Verlag außer Kraft gesetzt wurde, erinnert daran, daß es auch bei Ermittlungen nach dem Vereinigungsstrafrecht 129 a häufig darum ging, linke Zusammenhänge einzuschüchtern und außer Gefecht zu setzen, kam es im Nachhinein doch nur in seltenen Fällen zu Verurteilungen.

Martin Birkner legte in Nürnberg Wert auf die Feststellung, daß man mit dem Projekt der Edition Mezopotamya nicht nur ein Zeichen gegen Zensur setzen, sondern auch dafür sorgen wolle, daß nicht mehr verfügbare Bücher wieder zu lesen seien. So werden im Rahmen der Edition Mezopotamya 12 von den 17 im Mezopotamien Verlag auf deutsch erschienenen Bücher wieder herausgebracht. Darunter befinden sich theoretisch ausgerichtete Beiträge aus der Feder Abdullah Öcalans, ein Roman, mehrere Lebensgeschichten von KämpferInnen und ein kurdisch-deutsches Wörterbuch. Das ist zwar nur ein kleiner Teil der über 400 veröffentlichten Bücher des Mezopotamien Verlages, aber doch der für ein deutschsprachiges Publikum relevanteste.

Esther Winkelmann lenkte die Aufmerksamkeit des Publikums auf einen Band über die Demokratische Autonomie in Nordkurdistan, die von internationalistischen AktivistInnen erstellt und zuvor bereits als Broschüre vertrieben wurde. Darin wird beschrieben, wie in der Türkei auf Gemeindeebene versucht wird, basisdemokratische, geschlechtergerechte und ökologische Strukturen zu schaffen, um den Demokratischen Konföderalismus trotz der in den mehrheitlich kurdischen Gebieten massiven Repression des türkischen Staates zu verwirklichen.

Bei dem Solidaritätsprojekt gehe es nicht um kurdischen Linksnationalismus, sondern die Verteidigung des Mezopotamien Verlages als multiethnisches und multilinguales Projekt, so Martin Birkner. Bücher aller Art, darunter auch viele Klassiker der Weltliteratur, wurden in diversen, regional unterschiedlichen Varietäten des Kurdischen herausgebeben als auch in Türkisch, Farsi und anderen Sprachen publiziert. Als besonders empörend empfindet es der Wiener Verleger, daß der Nachfolgestaat jenes Regimes, das vor nicht allzulanger Zeit öffentlich Bücher verbrannt hat, mit der Beschlagnahmung der wenigen im deutschen Sprachraum verfügbaren Lehrbücher und Wörterbücher der kurdischen Sprache, die auch für Übersetzungen vom Kurdischen ins Deutsche und umgekehrt benötigt werden, im Grunde genommen die antikurdische Sprachpolitik der Türkei hierzulande reproduziere.


Original und Neuherausgabe im Vergleich - Fotos: © 2019 by Schattenblick Original und Neuherausgabe im Vergleich - Fotos: © 2019 by Schattenblick

Zwei Werke des Mezopotamien Verlages neu aufgelegt für die Edition Mezopotamya
Fotos: © 2019 by Schattenblick


Vom kolonialistischen Charakter deutscher Verbotspolitik

Einer Bevölkerung die Sprache zu entziehen ist eine Herrschaftstechnik und Machtdemonstration ersten Ranges, weshalb türkische Regierungen die kurdische Sprache jahrzehntelang verboten und unterdrückt haben. Ein wichtiger Teil ihrer nationalchauvinistischen Politik besteht darin, den Menschen ihre Kultur und Geschichte zu nehmen, um zu verhindern, daß sich womöglich widerständige Formen kultureller Identität im alltäglichen Leben herausbildeten. Kulturzerstörung sei immer ein Herrschaftsinstrument des Kolonialismus gewesen, so Esther Winkelmann, die daran erinnerte, daß direkt nach dem Einfall türkischer Truppen im nordsyrischen Afrin ein wichtiges Symbol kurdischer Identität, die Statue des Schmiedes Kava, zerstört wurde. Heute würden in Rojava auch Kirchen syrischer ChristInnen durch die türkischen Streitkräfte zerstört, was die Frage aufwirft, wo eigentlich der vernehmliche Einspruch der Amtskirchen bleibt, wenn ein NATO-Staat christliche Gemeinden angreift, die zu den ältesten dieser Religion gehören.

Eine Nürnberger Aktivistin berichtete davon, daß man im kurdischen Kulturverein der Stadt einen Sprachkurs für Kinder und Jugendliche geplant habe. Nachdem sich dafür aufgrund des Verlagsverbotes keine Bücher auftreiben ließen, habe sich ein kurdischer Aktivist mit dem Auto nach Amed (Diyarbakir) begeben, um dort die erforderlichen Lehrbücher zu erstehen. Eine solche Reise sei durchaus gefährlich, so die Aktivistin, die von fünf KurdInnen allein aus Südbayern weiß, die nicht wieder aus der Türkei nach Deutschland zurückkehren können, weil ein Ausreiseverbot über sie verhängt wurde. In der Türkei selbst sei es bis heute gefährlich, die kurdische Sprache zu benutzen. Sie wisse von einer Frau, die ihren Sohn in der Türkei im Gefängnis besuchte, dort aber ebenfalls verhaftet wurde, weil sie nur kurdisch sprechen konnte.

Aufgerufen wird nun zu Spenden für das Solidaritätsprojekt [12] und die Organisation von Buchpräsentationen, mit der die Edition Mezopotamya bekannt gemacht wird. Politische Verlagsprojekte dieser Art haben heute Seltenheitswert. Die großen Publikumsverlage halten sich - es sei denn, es geht um öffentlichkeitswirksame Aktionen für russische oder chinesische Dissidenten, mit deren Unterstützung auch die Bundesregierung reüssieren kann -, tunlichst bedeckt, wenn aktive Interventionen in die Gesellschaftsmaschine propagiert und vollzogen werden. Wenn sich drei linke Kleinverlage mit der solidarischen Herausgabe unterdrückter Bücher stark machen für die Verteidigung der Meinungs- und Publikationsfreiheit, unterstreicht das die Notwendigkeit und Stärke verlegerischer Unabhängigkeit. Im Idealfall ist Literatur eben weniger Ware für den kapitalistischen Markt denn Waffe der Kritik zu seiner Überwindung.


Kunstwerk auf dem Friedrichsplatz in Kassel - Foto: © 2019 by Schattenblick

"Parthenon der Bücher" von Marta Minujín auf der documenta 14 in Kassel - künstlerisch wertvoller Protest gegen Zensur ...
Foto: © 2017 by Schattenblick


Einzelne verbotene Bücher an Säule in Plastik verpackt - Fotos: © 2019 by Schattenblick Einzelne verbotene Bücher an Säule in Plastik verpackt - Fotos: © 2019 by Schattenblick

... kann aktiven Widerstand gegen staatliche Repression nicht ersetzen
Fotos: © 2019 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] Gerhard Zwerenz: Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte. Sächsische Autobiographie in Fortsetzung. 93. Nachwort
http://www.poetenladen.de/zwerenz-gerhard-sachsen99-93-buch.htm

[2] https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2018/03/durchsuchungen-mezopotamien-verlag.html

[3] http://www.trend.infopartisan.net/trd1119/t121119.html

[4] https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2019/02/verbot-pkk-verlag.html

[5] https://www.verfassungsschutz.de/de/das-bfv/amtsleitung/biografie-vizepraesident-selen

[6] https://www.verfassungsschutz.de/de/oeffentlichkeitsarbeit/newsletter/newsletter-archive/bfv-newsletter-archiv/bfv-newsletter-2019-01-archiv/bfv-newsletter-2019-01-thema-06

[7] https://www.boersenblatt.net/2018-03-19-artikel-solidaritaetsaktion_fuer_mezopotamien_verlag-hausdurchsuchung_in_neuss.1443374.html

[8] http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbrb0098.html

[9] https://www.akweb.de/ak_s/ak620/12.htm

[10] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0298.html
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0299.html

[11] https://kleineanfragen.de/bundestag/19/10594-verbot-kurdischer-medienhaeuser-in-deutschland

[12] https://www.unrast-verlag.de/news/3404-gegen-zensur-fuer-publikationsfreiheit-spendenaufruf-edition-mezopotamya


8. November 2019


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