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BERICHT/045: Zukunft, Literatur, Gesellschaft - vom Mut nicht nur zu träumen ... (SB)


Lesen und Schreiben für eine lebenswerte Zukunft

Tagung im Literaturforum im Brecht-Haus in Berlin Mitte


Information sei die wichtigste Ware des "kognitiven Kapitalismus", und immaterielles Wissen habe konventionelle Industrieprodukte aus dem Zentrum der Kapitalakkumulation verdrängt, heißt es allenthalben, wenn nach innovativen Entwicklungen für Wirtschaftswachstum und Wettbewerbsfähigkeit gefragt wird. Literatur, die nicht als digital beschleunigter Content zum gefälligen Verbrauch einlädt, sondern um das geschriebene und gelesene Wort ringt, weil nicht alles miteinander gleichzusetzen und auszutauschen ist, wird um so unentbehrlicher. Wo die dröhnende Sprachlosigkeit des Infotainments und der "Fakten, Fakten, Fakten"-Produzenten das Feld totalen Informiertseins bestellen, kann ein Buch Träumen, Sehnsüchten und Hoffnungen Ausdruck verleihen, nicht nur um Fluchtwege zu eröffnen, sondern um die Leser mit der Materialität gebrochener Verhältnisse zu konfrontieren. Menschen Mut zu machen, aus ihrer Ohnmacht heraus handlungsfähig zu werden, ihnen Ausblicke in eine noch ungeborene Zukunft zu ermöglichen, könnte Fragen aufwerfen, wo handelsübliche Antworten nicht mehr hinreichen.

Fragen dieser Art diskutierten Ingar Solty, Enno Stahl, Thomas Wagner und David Salomon auf dem Abschlußpodium der Berliner Schriftstellertagung "Richtige Literatur im Falschen?". Kritische Literatur in einer von Krisen gehetzten und sozialen Bruchlinien fragmentierten Gesellschaft findet ihren Platz naheliegenderweise in einer Zukunft, in der zu bewältigen wäre, was gegenwärtig unüberwindlich erscheint und so aus der Position seiner Aufhebung heraus untersucht werden kann. Um sich nicht widerstandslos in die nächsthöhere Ordnung paternalistischer Regulation und unhinterfragbarer Indoktrination leiten zu lassen, wurden "Zukunft - Literatur - Gesellschaft" als Leitbegriffe für das Treffen im Berliner Brecht-Haus ausgegeben.


Auf dem Podium - Foto: © 2016 by Schattenblick

Ingar Solty
Foto: © 2016 by Schattenblick

Für den Literaturwissenschaftler Ingar Solty geht es vornehmlich darum, Zukunft zu machen und sich anzueignen, statt sich dem Laufrad der Geschichte mit nihilistischer Lust oder fatalistischer Resignation zu überantworten. In Anbetracht weltweiter Krisen und drohender gesellschaftlicher wie individueller Prekarisierung auf allen Gebieten kultureller und geistiger Aktivität fällt der Autonomie und Handlungsfähigkeit des Subjekts wie auch der kollektiv-emanzipatorischen Befreiung des Menschen seiner Ansicht nach höchste Priorität zu. Daß die Linke nach 35 Jahren Neoliberalismus in den führenden kapitalistischen Staaten vollends in die Defensive geraten ist und sich zusehends in Rückzugsgefechten verliert, könne man beklagen, aber die Ursachen dafür wären zumeist selbstverschuldet. Vor allem habe die Linke nicht verstanden, sich adäquat gegen die ideologische Kernidee des Neoliberalismus, daß der Markt alles regulieren könne, kämpferisch zu positionieren.

Für Solty war der Neoliberalismus in seinen Anfängen im wesentlichen ein Projekt zur Wiederherstellung der Klassenmacht des Kapitals gewesen. Angesichts der Profitklemme der 70er Jahre habe die neoliberale Offensive die Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit in globaler Perspektive dramatisch zu Ungunsten der Arbeit und damit der Beschäftigten verschoben. Daß dies ohne nennenswerten Widerstand der Linken auf höchster politischer Ebene durchgepeitscht werden konnte, hat vielerlei Gründe. Insbesondere die Infiltrierung durch links gewendete Modelle und Theorien, die vorgaben, den Kapitalismus auf dem eigenen Terrain zu bekämpfen, habe sich folgenschwer auf die einstige Progressivität der Linken ausgewirkt.

Auf der Tagung vorgestellte Konzepte des Akzelerationismus, der Transformation, der Kollaboration oder des Futuring stimmten, so ihr Co-Kurator Solty, zumindest in der Aufgabe einer sozialökologischen Zukunftsperspektive überein, weil sie von der Krisenhaftigkeit des gegenwärtigen Zustands ausgehen. Die globalen Gesellschaften durchleben nicht nur eine Finanz- und Kapitalismuskrise, sondern maßgeblich auch eine Zivilisationskrise durch die unabsehbaren Folgen des Klimawandels. Solty zufolge müsse die Linke versuchen, wieder vorwärts zu denken und in Hinsicht auf einen gesellschaftlichen Umbruch eine Perspektive über den Horizont des Kapitalismus hinaus in den Blick nehmen.

Realpolitische Ansätze etwa gegen die Austeritätspolitik der EU-Eliten würden von der Linken in der Hoffnung, es handle sich um Einstiegs- oder Übergangsprojekte in eine klassenlose Gesellschaft, fast kritiklos mitgetragen, versprechen sie doch die Position der Beschäftigten wieder zu stärken und so das Terrain für eine offensivere Zukunftspolitik zu bereiten. Prinzipiell müsse die Linke jedoch aus ihrer defensiven Haltung heraustreten und nicht länger nur Positionen verteidigen, die einmal errungen wurden. Nur wenn sie bereit sei, den Blick über den Rand ideologisch verfestigter Theorien hinaus zu wagen, könne sie Zukunft effektiv gestalten. So kritisiert Solty an der linken Bewegung nicht nur den verlorengegangenen Anspruch, den Kapitalismus langfristig überwinden zu wollen, sondern vor allem, daß sie in ihren Grundmaximen reformistisch geworden sei. Insbesondere beim etablierten Teil der links-akademischen Intellektuellen habe sich der Eindruck festgesetzt, daß horizontal-anarchistische Bewegungen wie auch die Vorstellung einer alternativen Ökonomie jenseits der Marktstrukturen wie zum Beispiel in Form lokaler Genossenschaften in eine Sackgasse münden würden.

In die Irre führe jedoch, daß stets so getan werde, als gebe es einen Mangel an politischen Utopiekonzepten. Was vielmehr fehlt, ist die Macht zu ihrer Umsetzung. Einen Sozialismus 2.0 ins Schaufenster eines politischen Diskurses zu stellen, damit sich darüber eine breite Bewegung entwickelt, ist nach Soltys Ansicht eine verkürzte Vorstellung davon, wie transformatorische Politik funktioniert. Noch schwerwiegender sei allerdings das Leugnen der Erkenntnis, daß in den Nebeldünsten postmoderner und digitalisierter Gesellschaften das revolutionäre Subjekt kaum noch auffindbar ist. So konnte selbst ein massenhafter Protest auf den Straßen Griechenlands nicht verhindern, daß sich das Land der EU-Austeritätspolitik beugen mußte.

Die Vorstellung, man müsse lediglich das Geldmonopol beseitigen und die störenden Verknüpfungen zwischen politischer und ökonomischer Macht kappen, damit das System an sich selbst kollabiert, bewegt sich auf dem Boden durchaus marktgesteuerter Modelle zur Funktionsweise von kapitalistischer Entwicklung und Innovation. Diese nur dem Scheine nach radikale Kapitalismuskritik sei indes Wasser auf die Mühlen der Rechten in einem antietatistischen Sinne.


Auf dem Podium - Foto: © 2016 by Schattenblick

Enno Stahl
Foto: © 2016 by Schattenblick

Möglicherweise auf das Verzagen moderner Literaten aufmerksam zu machen, die in Reaktion auf gesellschaftliche Umbrüche schnell das Kind mit dem Bade ausschütten oder in einem Anfall lamentierender Selbstzweifel ihren eigenen Wert untergraben, wartete Co-Kurator Enno Stahl mit 17 Thesen zur Literatur der Zukunft bzw. zur Zukunft der Literatur auf, die er unter die Kategorien "Literatur im luftleeren Raum" und "Literatur im gesellschaftlichen Kontext" aufteilte. In einem zuweilen halbironischen, in der Sache jedoch ernsten Tonfall zeigte der Referent Stimmungsschwankungen von Literaten auf, die im luftleeren Raum, also nicht immer sachlich begründet, impulsiv und zugleich ein wenig resignativ, die Entwicklungstendenzen im Literaturbetrieb reflektieren.

Hierunter fällt die Befürchtung, die Vielfalt auf dem Buchmarkt könnte aufgrund von Monopolinteressen wegbrechen, da nur noch publiziert würde, was den Massengeschmack träfe. Dem entgegen würden jedoch Vertreter aus dem Verlags- und Zeitungswesen die Zukunft betont optimistisch sehen, sei es, daß sie auf neue Geschäftsmodelle oder die Schärfung des literarischen Profils setzten. Weil über die Zukunft der Literatur vor allem in den Köpfen befunden werde, sei es erst einmal wichtig, daß man überhaupt liest, egal, welchen Mediums sich die Leser bedienen. Dabei sei es für die Literatur sekundär, ob Verlage und Zeitungen weiterhin oder in anderer Form existierten, weil das geschriebene Wort historisch gesehen immer wandlungsfähig gewesen sei und notfalls den zeitgenössischen Resonanzkörper wechseln würde. Generell sei der Literatur die Fähigkeit zu eigen, sich auf wechselnde Umstände und mediale Erscheinungsformen einzustellen. Schon heute sei ein Buch oftmals ein Konstrukt aus Blog, YouTube-Video, Facebook-Auftritt und anderen Inszenierungsstrategien. Als komplexes semiotisches Gefüge werde sich das Buch seine Zukunft schon zu sichern wissen.

Daß reine Netzliteratur bislang kläglich gescheitert sei, verweist in erster Linie auf die ungenutzte Möglichkeit, über bloßen Text hinaus in die Substanz des Quellcodes vorzudringen, um ihn in kreativer wie subversiver Form umzudefinieren. Voraussetzung dafür sei allerdings eine garantierte Verwertungsbasis. Ohnehin sei nicht davon auszugehen, daß sich die Gattungen Gedicht, Drama, Roman in ihren erkennbaren klassischen Formen wandeln werden, zumal der bewährte Intertextualitäts- und Konnotationsapparat über eine lange Tradition tiefe Spuren in der Gesellschaft hinterlassen habe, die zu verwischen die Totalität eines Umbruchs erforderlich machen würde. So sei, sich den Roman anders als in gedruckter Buchform vorzustellen, einfach unrealistisch, zumal das Buchgewerbe trotz aller Internet-Konkurrenz und des bescheidenen Aufschwungs im e-Book-Segment alles in allem schwarze Zahlen schreibt.

Daran schließt sich auch die Erkenntnis an, daß ein neues Medium noch nie ein altes verdrängt habe - die Fotografie nicht die Malerei, das Fernsehen nicht das Kino, das Internet nicht das Fernsehen. Man dürfe jedoch auch nicht unterschlagen, daß die erhöhte Konkurrenz um Aufmerksamkeit auf dem Medienmarkt auch Vorteile für die Literatur bringen könnte. So hätten fortschrittliche Schnittechniken, die über Jahre Kopfschütteln und Abwehr erregten, inzwischen durch die rezeptive Beschleunigung in Film und Internet Einzug in unsere Wahrnehmungsweisen gehalten. Denkbar sei, daß die einzelnen Kommunikationsmedien voneinander lernen und profitieren. So wie die TV-Serie vom realistischen Roman könnte auch die Literatur aus der Ästhetik des Serienformats und den alterierenden Textpfaden des Websurfens Gewinn ziehen. Denkbar sei beispielsweise das Szenario einer fluktuierenden Autorenfigur, die in den eigenen Texten, wenngleich anders als in der historischen Avantgarde, zwischen den Zeilen als Fährtenleger oder Verführer auftaucht. Trotz aller Aufgeregtheit scheint in der Literatur des luftleeren Raumes alles möglich und nichts erzwungen zu sein: Das Innovative wetteifert mit dem Althergebrachten und beide Sphären verbinden sich zu neuen Welten eines literarischen Fortschritts.

Die Literatur im gesellschaftlichen Kontext hingegen scheint laut Stahl keinen eigenständigen Referenzwert zu besitzen, ist sie doch eingebettet im Normativen der gesellschaftlichen Kräfte und Ordnungen. Dies schon deshalb, weil Katastrophen wie Atomkrieg, Klimakollaps oder unkontrollierbare Migrationsströme die Produktion, Distribution und Rezeption von Literatur in einem erheblichen Maße verändern würden. Eingedenk dessen haben Vorhersagen zu ihrer Entwicklung bestenfalls den Wert einer Spekulation.

Gäbe es in einer dystopischen Gesellschaftsformation mit striktester Segregation zwischen Milliarden Armen und einigen hunderttausend Reichen überhaupt noch die Muße zum Lesen, fragt sich der Autor und kommt zu dem Schluß: Vielleicht gerade dann. Selbst wenn die Lebensbedingungen sich nicht derart radikal verändern, ließe sich nicht absehen, welche Funktion und Stellung die Literatur in der Zukunft einnehmen wird. Denn schon heute zeichne sich auf den medialen und sozialen Kanälen durch den Niedergang des Feuilletons und der Literaturkritik, die schwindende Literaturvermittlung in der Schule, den zunehmenden Analphabetismus in Teilen der Gesellschaft und die Konkurrenz der Freizeitangebote innerhalb der Download-Generation ein kultureller Niedergang ab.

Um am Puls der Zeit zu bleiben, müsse Literatur gesellschaftliche Tatsachen konstatieren und Problemlagen diagnostizieren, sich also einbringen in einen Diskurs höherer Ordnung, aber nicht steckenbleiben in der Diskussion um Tagesfragen oder das unmittelbar politische Zeitgeschehen. Nicht der Dialog mit technokratischen Funktionären und Exekutoren des hegemonialen Komplexes sei vordringlich, sondern das Entwerfen eigener, gegebenenfalls auch utopischer Visionen, die über das Jetzt hinausweisen und Perspektiven einer solidarischen Zukunft der Menschheit aufzeigen. Ohne eine schonungslose Kritik des Bestehenden, wie es der analytische Realismus vorzeichnet, wird der literarische Karren im Morast der großen Beliebigkeit steckenbleiben. Weil Entwürfe der Zukunft ihren Stoff immer aus den Widersprüchen und Herrschaftsverhältnissen der Gegenwart ziehen, müßten Autorinnen und Autoren zunächst einmal ihre eigene Position im gesellschaftlichen Gefüge bestimmen und hinterfragen. Dies setze natürlich ein kritisches Interesse an der materiellen Wirklichkeit voraus und müsse zudem gepaart sein mit der Bereitschaft, auch Alternativen und Utopien im literarischen Werk aufscheinen zu lassen.

Die Frage, ob die Literatur diese Aufgabe angesichts der zu erwartenden Marginalisierung ihrer gesellschaftlichen Stellung überhaupt erfüllen kann, ist Solty zufolge einfach zu beantworten: Sie hat keine Wahl, da andere Medien besser zur Unterhaltung beitragen. Pessimismus sei dennoch unangebracht, denn so wie die Idee vom Ende der Geschichte nur ein postmoderner Mythos war, so wenig stünde das Ende der Literatur zu befürchten. An der Schwelle zu einer großformatigen Transformation sei eines trotz alledem sicher: Die Literatur wird dabei sein.


Auf dem Podium - Foto: © 2016 by Schattenblick

Thomas Wagner
Foto: © 2016 by Schattenblick

Der Literaturredakteur der Tageszeitung junge Welt Thomas Wagner plädiert dafür, gemeinsam mit Schriftstellern öffentliche Räume freizukämpfen, die von den privatwirtschaftlichen Interessen der Medienmacht beherrscht werden. Er hat vor allem ein Problem mit Zukunftsvisionen, die im linken Spektrum Furore machen, aber eine klare Abgrenzung zwischen Utopien oder Dystopien vermissen lassen. Sich explizit mit Technikentwicklung auseinanderzusetzen, ist für ihn ein zweischneidiges Schwert. Einesteils bieten die Medienmonopole Google und Facebook infolge einer dichten Vernetzung der Nutzer neue Kommunikationsformen an, aber gleichzeitig werde die Privatsphäre als Relikt von gestern auf die Müllhalde des Unzeitgemäßen geworfen. Wagner zufolge ist das, was vor 30 Jahren als finsterster Alptraum unter Linken diskutiert wurde, heute Teil der Vernetzungsideologie geworden. Gerade aus diesem Grund müsse die Frage nach Utopie oder Dystopie nach allen Seiten offen und nüchtern erörtert werden, nicht nur in kurzatmigen Feuilletonbeiträgen, sondern als klare Stellungnahme in literarischen Texten.

In Zukunftsvisionen wird immer auch das subjektive Selbstverständnis verhandelt. Wenn Literaten eine Zukunft entwerfen, in der das Humane keinen Platz mehr hat, weil der Mensch zu einem untergeordneten Teil eines maschinellen Organismus wird, könnten Thinktanks des Neoliberalismus dies nicht besser ausformulieren. So folgt die Ideologie des Transhumanismus Wagner zufolge der kapitalistischen Fortschrittsdynamik vor allem auf dem Gebiet der Technologie.

Ob in Zukunft nicht-menschliche Faktoren den gesellschaftlichen Prozeß wesentlich beeinflussen werden, der Mensch möglicherweise auch in seiner biologischen Ausstattung der Optimierungslogik einer Technokratenherrschaft unterworfen wird und die gesamte menschliche Kultur und Kunst aufhört zu existieren, weil zukünftige Mensch-Maschine-Mischwesen selbst Romane schreiben und lesen, sei ein unfruchtbares Gedankenspiel. Vielmehr sollte vordringliche Aufgabe nicht nur von Schriftstellern sein, in einer demokratischen Öffentlichkeit darüber zu diskutieren, welche Art von Zukunftsentwürfen über Technologieformen in unsere alltäglichen Verrichtungen hineintransportiert werden und Akzeptanzen wecken, die eines Tages vielleicht nicht mehr zu revidieren sind. In diesem Sinne mahnte Wagner an, daß progressive linke Kräfte in Foren eigene Entwürfe zur Diskussion stellen und politische Programmatiken entwickeln müßten, wollten sie dieses wichtige Feld gesellschaftlicher Kämpfe nicht den Verfechtern eines unbedingten Fortschrittsglauben und regressiven Rechtskräften überlassen.


Auf dem Podium - Foto: © 2016 by Schattenblick

David Salomon
Foto: © 2016 by Schattenblick

Für den Politikwissenschaftler und Redakteur der Zeitschrift Z David Salomon steht die Frage nach Sinn oder Unsinn literarischer Versuche, das völlig Andere zu denken, in einem direkten Verhältnis zur realistischen Literatur. Für Brecht beispielsweise war Realismus nicht so sehr eine literarische Stilfrage, sondern definierte ein bestimmtes Verhältnis eines Textes zur Wirklichkeit. Im Gegensatz dazu bildet der Naturalismus Wirklichkeit bloß ab, ohne sie analytisch zu durchdringen. Salomon verwies mit Blick auf die literarischen Debatten der 20er und frühen 30er Jahre darauf, daß sowohl der Soziologe Fritz Sternberg als auch Bert Brecht und Walter Benjamin den Standpunkt vertraten, daß eine bloße Fotografie der AEG- oder der Krupp-Werke nichts über diese Institutionen und die für sie stehenden sozialen Arbeits- und Klassenverhältnisse aussage.

Losgelöst von ästhetischen Überlegungen, die den damaligen Zeitdiskurs bestimmten, bedarf es des konstruktiven Eingriffes ins Bestehende für die analytische Durchdringung von Wirklichkeit. Salomon warb in diesem Zusammenhang für den Begriff der politischen Ästhetik unter Bezug auf das 1977 von Herbert Claas verfaßte Buch "Die politische Ästhetik Brechts vom Baal zum Caesar", in dem zur Ästhetik erklärt wird, sie systematisiere die Vorstellungen von der rezeptiven und produktiven künstlerischen Aneignung der Wirklichkeit. Politisch werde Ästhetik, wenn sie sich der Verhältnisse zwischen Menschen bestimmter Epochen als des Gegenstands künstlerischer Aneignung bewußt werde und diese als Spezialfall gesellschaftlicher Arbeit begreife. Im realistischen Erkennen und Darstellen antagonistischer Verhältnisse leiste die Kunst einen mittelbaren Beitrag zur Entwicklung vernünftigen sozialen Handelns. Insofern Kunst utopische Zukunftsszenarien entwirft, verkörpere sie ein bestimmtes Interesse in der Gegenwart. Im Gegensatz dazu überwiegt in der marxistischen Tradition die Skepsis gegenüber dem Utopischen, auch wenn nach Marx die soziale Revolution ihre Poesie aus der Zukunft und nicht aus der Vergangenheit schöpft.

Allerdings herrsche im Marxismus dezidiert das Selbstverständnis vor, die historische Phase eines utopischen Sozialismus durch das Emporsteigen eines wissenschaftlichen Sozialismus bereits überwunden zu haben. Salomon macht jedoch einen Unterschied zwischen einer Utopie, die bestimmte Zukunftsentwürfe real in der Welt anstrebt, und ihrer Literaturform als gedankliches Spiel mit möglichen Zukunftsentwicklungen. Als Erzählform stellen klassischen Utopien keinen Entwurf der Zukunft dar, sondern bedienen sich vielmehr des Mediums einer zeiträumlichen Entrückung, um bestimmte Mißstände in der Gegenwart zu konstatieren. Daß man in Bahnhofbuchhandlungen insbesondere im Jugendbuchsegment auf eine Flut dystopischer Literatur stoße, habe unübersehbare Parallelen zu Entwicklungen in der Gegenwart.


Hinter dem Brecht-Haus - Foto: © 2016 by Schattenblick

Hinterhof vor dem letzten Wohnort von Bertolt Brecht und Helene Weigel
Foto: © 2016 by Schattenblick

Im Diskussionsteil, der aus zeitlichen Gründen knapper ausfiel als ursprünglich geplant, kritisierte eine Zuhörerin, daß in den Vorträgen drei Ebenen der Aktionsweise miteinander vermischt würden, zum einen die Literatur als Propagandamaschine bzw. PR-Schlacht zwischen rechts und links, dann die Frage des Realismus, inwiefern Literatur Gegenwart und Zukunft auf einer technologischen Ebene adäquat reflektiert, und zum anderen die rein technische Frage nach einer Postsubjektivität, wenn Maschinen die Herrschaft übernehmen und das Subjekt als soziales Konstrukt irrelevant wird.

Ein Zuhörer griff die Aussage auf, daß klassische Utopien im Grunde genommen ein wichtiges literarisches Instrument gewesen sind, um über eine Zukunftsprojektion Einfluß auf die zeitgenössische Politik zu nehmen. Der Stoff, aus dem sich Utopien speisen, komme immer aus gesellschaftlichen Verhältnissen, die der Mensch kennt und vorfindet. Das Nichtbekannte oder ganz Andere wäre schon aus formallogischen Gründen nicht erschließbar. Eben weil der Transhumanismus in der konsequenten Weiterführung sozioökonomischer Verhältnisse Zukunft vollzieht, deckt er im Grunde auf, was im Industriekapitalismus immer schon angelegt war: den Menschen selbst verwertbar zu machen. So habe der Taylorismus Arbeitsprozesse forciert, die den Menschen durch die Einführung eines Zeit- und Leistungsdiktats auf eine bloße Funktion innerhalb der Produktivkraftentwicklung herabwürdigen. Dieses im Kern Fremdbestimmung und Automatismen fundierende Verhältnis zum menschlichen Körper wie auch zum Geist in seiner sinnlichen Verwertung werde in den transhumanistischen Visionen durch die Optimierungslogik nochmals übersteigert, aber keineswegs neu erfunden.

Dennoch stecke in diesen Visionen eine Linie bedrohlicher Entfremdungsprozesse von der Gegenwart in die Zukunft. Erhebt man den Anspruch auf Selbstbestimmung, der in der heutigen Zeit mit ihrer lebensfeindlichen Ökonomisierung auf nahezu allen Bereichen gesellschaftlichen Seins früh auf schier unüberwindliche Grenzen stößt, wäre dem Zuhörer zufolge die Auseinandersetzung mit Utopien oder Dystopien gerade für die Entwicklung einer Position wertvoll, die über das Heilsversprechen einer technologischen Produktivkraftentwicklung hinaus sozialökologische Fragestellungen einschließt, zumal Aktivistinnen und Aktivisten auf diesem Gebiet schon heute radikal weiterführende Lebensformen und politische Ziele verfolgen.

Salomon erwiderte darauf, daß die Vorstellung, der Mensch müsse sich von den Maschinen befreien, an der eigentlichen Frage vorbeigehe. Auch sei politische Ästhetik nicht einfach als Propaganda aufzufassen. Vielmehr gehe es um die Aneignung von Wirklichkeit und die Frage des aktiven Umgangs mit Literatur in seiner politischen Funktion und als Medium zum Erkenntnisgewinn. Daher brauche Literatur realistische Gegenwartsromane ebenso wie historische Romane, die auch alternative Chroniken erzählen und damit Historizität greifbar machen. Dazu gehöre ferner das Verfassen von Romanen, die Varianten von Zukunft durchspielen, ohne sogleich den Anspruch einer politischen Utopie zu erheben, die an die Stelle der Wirklichkeit tritt.


Fenster hinter blühender Kastanie - Foto: © 2016 by Schattenblick

Blick auf das Brecht-Haus vom Dorotheenstädtischen Friedhof
Foto: © 2016 by Schattenblick


Berichte und Interviews zur Tagung "Richtige Literatur im Falschen?" im Schattenblick unter
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19. Juni 2016


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