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BERICHT/008: Otto Köhler zur "großen Enteignung" der DDR durch die Treuhand (SB)


Die ultimative Feststunde zum Tag der Deutschen Einheit

Lesung im Polittbüro in Hamburg am 3. Oktober 2011

Veranstaltungsplakat - Foto: © 2011 by Schattenblick

Am 3. Oktober begingen Hunderttausende in Bonn den deutschen Nationalfeiertag im Gepränge eines durch starke Sicherheitsmaßnahmen abgeschotteten Volksfests. Am Abend desselben Tages kamen im Polittbüro am Hamburger Steindamm drei Dutzend Zuhörer zusammen, um mit Otto Köhler in die Abgründe des DDR-Anschlusses zu blicken. Eine erstaunliche Diskrepanz, herrscht doch an guten Gründen kein Mangel, die handstreichartige Einverleibung des Ostens angesichts der verheerenden Folgen für Millionen von Menschen keinesfalls zu vergessen. Daß dieses Vergessen geradezu endemische Ausmaße angenommen hat, mußte der Journalist und Publizist im Kontext seines Buches "Die große Enteignung - Wie die Treuhand eine Volkswirtschaft liquidierte" allenthalben erleben. Da seine Recherche bemerkenswerte Details zu Tage förderte, die er allgemein zugänglichen Quellen entnehmen konnte, drängt sich der Verdacht auf, daß er auf Fundstücke stieß, von denen schlichtweg niemand wissen wollte oder sollte. Zug um Zug nimmt der monströse Coup, die Ostdeutschen über den Tisch zu ziehen, Gestalt an. Dabei tappt der Autor keineswegs im Nebel bloßer Spekulationen, sondern nennt Roß und Reiter beim Namen:

Die Berliner Mauer war noch keine zwanzig Stunden auf, da machten sich zwei Beamte des Bonner Finanzministeriums ans Werk - sie wußten, was zu tun ist. Der Spezialist für die Freisetzung von Arbeit und der Fachmann für die Berechnung von Sklavenrentabilität: Horst Köhler und Thilo Sarrazin. Sie sorgten dafür, daß das Volksvermögen der DDR "unter Außerachtlassung einfachster und naheliegendster Überlegungen" (Bundesfinanzminister Theo Waigel) weggeräumt wurde. [1]

So tief Otto Köhler ins Eingemachte der Liquidierung des anderen Deutschland greift, so leichtfüßig versteht er davon zu erzählen. Weder belehrend noch moralisierend überzeugt er durch die Verknüpfung seiner journalistischen Forschungsergebnisse mit deren höchst unterhaltsamer Präsentation. Er weiß, wovon er spricht, wenn er die maßgeblichen Akteure in ihren Motiven und Winkelzügen enttarnt. Und er verfügt zugleich über eine Sprachkompetenz, die anregt und ermuntert, sich mit ihm auf die Spurensuche zu machen und eigene Schlüsse zu ziehen. Köhlers Kenntnisreichtum, der sich aus jahrzehntelanger Präsenz an maßgeblichen Schnittstellen bundesdeutschen Medienschaffens speist, steht außer Frage. Noch wichtiger aber ist, daß er seine Überzeugungen konsequent vertritt und nicht der Biermannschen Transformationslogik folgt, daß sich gerade derjenige treu bleibe, der sein Fähnchen in den Wind vorherrschender Interessen hängt. Im Unterschied zu jenen, die Erfolgsmenschentum mit Substanz verwechseln, hat er etwas zu sagen.

Otto Köhler - Foto: © 2011 by Schattenblick

Otto Köhler
Foto: © 2011 by Schattenblick

Der 1935 geborene Journalist und Publizist Otto Köhler studierte von 1953 bis 1963 Philosophie, Germanistik, Geschichte und Volkswirtschaftslehre in Würzburg und Berlin. In den folgenden Jahren war er Medien-Kolumnist beim Spiegel, Redakteur bei Pardon und konkret. Er arbeitete für den WDR, den Deutschlandfunk, den Stern und die Zeit sowie für die Gewerkschaftszeitung Metall. Später schrieb er für die Tageszeitungen junge Welt und Neues Deutschland sowie die Wochenzeitung Freitag, außerdem für die Zweiwochenschrift Ossietzky, die er mit herausgibt. Er ist Mitglied des deutschen P.E.N.-Zentrums und wurde 1963 und 1983 mit dem Deutschen Journalistenpreis sowie im Jahr 2007 für sein Lebenswerk zusammen mit Lothar Kusche mit dem Kurt-Tucholsky-Preis ausgezeichnet.

Köhler porträtierte 1980-1982 in seiner konkret-Kolumne "Der häßliche Deutsche" u. a. Uwe Barschel, Hans Henning von Beust, Reinhard Höhn, Elisabeth Noelle-Neumann und Werner Staak. Er hat zahlreiche Bücher zu geschichtlichen und politischen Themen veröffentlicht, aus deren Fülle hier eine kleine Auswahl genannt sei: "... und heute die ganze Welt. Die Geschichte der IG Farben und ihrer Väter" (1986), "Wir Schreibmaschinentäter" (1989), "Unheimliche Publizisten. Die verdrängte Vergangenheit der Medienmacher" (1995), "Rudolf Augstein. Ein Leben für Deutschland" (2002).

Obgleich "Die Große Enteignung" bereits 1994 erstmals erschien, hat der Autor vom damaligen Text nichts zurückzunehmen - leider, wie er hinzufügt. Zudem konnte er damals eine wichtige Quelle noch nicht nutzen, die gleichzeitig auf den Markt kam. In einem Buch mit dem Titel "Tage, die Deutschland und die Welt veränderten", das der damalige Finanzminister Theo Waigel zusammen mit Manfred Schell, einem ehemaligen Chefredakteur der Welt, herausgab, äußerten sich einige der Tatbeteiligten relativ offen. Vom Ministerium als PR-Maßnahme auch an Journalisten verteilt, blieb das Buch weithin unbekannt. Der Spiegel berichtete erst nach eineinhalb Jahren darüber, doch ging er lediglich darauf ein, wieviel die Aktion den Steuerzahler gekostet hat, nicht jedoch auf den Inhalt. Dieser ist noch heute bemerkenswert und findet seinen Niederschlag in Ergänzungen, mit denen Köhler die neue Ausgabe von 2011 angereichert hat.

Eines der zentralen Themen, die bereits in der Erstausgabe erörtert wurden, ist die Kontroverse um die Art und Weise des Zusammenschlusses der beiden deutschen Staaten. Während die Verhandlungen über den Einigungsvertrag liefen, entbrannten unter Verfassungsrechtlern sowie in der Öffentlichkeit heftige Diskussionen über den geeigneten Weg: einen Beitritt nach Artikel 23 Satz 2 GG oder eine Neukonstituierung des deutschen Staates nach Art. 146 GG. Das Wiedervereinigungsgebot war ein Bestandteil der Präambel des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland in der von 1949 bis 1990 geltenden Fassung. Sie endete mit dem Satz: "Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden." Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgte hieraus ein verfassungsgerichtliches, alle Staatsorgane bindendes Gebot, die Wiedererlangung der Einheit Deutschlands anzustreben und auf die Verwirklichung dieses Ziels hinzuwirken.

Auf einer Klausurtagung im Finanzministerium wurde am 30. Januar 1990 in klandestiner Atmosphäre eine Wiedervereinigung nach Artikel 146 Grundgesetz verworfen und der Anschluß der DDR an die BRD nach Artikel 23 beschlossen. Der damalige Finanzstaatssekretär Horst Köhler hatte seinen Mitarbeiter und engen Freund Gert Haller mit der Aufgabe betraut, einen Plan zur sofortigen Einführung der D-Mark in der DDR in der Form der Erweiterung des Währungsgebietes zu erarbeiten. Wie Haller nun warnte, dürfe man "Überlegungen, den Anschluß der DDR über den Artikel 23 des Grundgesetzes herzustellen (...) überhaupt nicht in den Mund nehmen". Schlimmer noch, so Haller: "Das Wort Anschluß war tabu, weil man befürchtete, mit solchen Vokabeln würde die Aufbruchstimmung in der DDR massiv beeinträchtigt." [2]

Der gravierende Unterschied zwischen den beiden Optionen bestand darin, daß der Beitritt nach Art. 23 GG die DDR vollständig den Maßgaben der BRD unterwarf und damit eine wie auch immer geartete Angleichung oder Übergangslösung de facto ausschloß. Es handelte sich also nicht wie seither behauptet um eine Wiedervereinigung, sondern vielmehr um einen Anschluß zu Lasten des damit aufgelösten zweiten deutschen Staats. Im August 1990 votierte die Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik für den Beitritt nach Artikel 23. Mit der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 wurde der Wortlaut der Präambel durch Grundgesetzänderung neu gefaßt, da das Ziel der Einheit Deutschlands erreicht sei.

Der Autor kristallisiert mit Thilo Sarrazin und Horst Köhler jene Akteure im Finanzministerium heraus, die den Plan zur übereilten Wirtschafts- und Währungsunion vorantrieben. Beide hatten in den siebziger Jahren mit ihren Dissertationen Vorarbeit geleistet. Horst Köhler promovierte in Tübingen über die "Freisetzung von Arbeit durch technischen Fortschritt". Als Staatssekretär beauftragte er 1989/90 Thilo Sarrazin, den Leiter der Arbeitsgruppe "Innerdeutsche Beziehungen" im Ministerium, mit der Vorbereitung einer deutschen Währungsunion als "offensiven Lösungsweg" zum Anschluß der DDR.

Sarrazins sozialdarwinistischer Furor, der sein Spätwerk "Deutschland schafft sich ab" auszeichnet, tritt bereits in seiner Doktorarbeit unzweideutig in Erscheinung. Unter dem Thema "Logik der Sozialwissenschaften an den Grenzen der Nationalökonomie und Geschichte: die New Economic History" beschäftigte er sich unter anderem mit der Rentabilität der Sklavenarbeit in den Südstaaten der USA: "Die Negersklavin besaß die Hälfte bis zwei Drittel der Produktivität eines männlichen Sklaven." Andererseits stellte Sarrazin fest: "Jede Negerfrau produzierte während ihres Lebens 5-10 Kinder, welche in der Produktion verwendet oder verkauft werden konnten." Abzuziehen war: "Jede Schwangerschaft kostete drei Monate Arbeitszeit." Dennoch ergaben sich laut Sarrazin "für weibliche Sklaven höhere Kapitalwerte und interne Zinsfüße als bei Männern".

Dank dieses theoretischen Rüstzeugs zur Rentabilität solchermaßen zum Material degradierter Menschen war es Sarrazin ein leichtes, Anfang 1990 auszurechnen, wie viele ostdeutsche Eingeborene gemessen am westdeutschen Vorbild der Arbeitslosigkeit überantwortet werden mußten. Er arbeitete penibel die Kopfzahlen für die notwendige Freisetzung der Ostdeutschen aus, die er als "Freisetzungspotential" bezeichnet: Im DDR-Industriesektor arbeiten 20,9 vom Hundert der Wohnbevölkerung. Die vergleichbare Zahl für die Bundesrepublik beträgt aber 14,2 vom Hundert. Daraus folgert Sarrazin: Für die DDR "... wird und muß es erhebliche Freisetzungen geben. Bei Freisetzungen im Umfang von ca. 35 bis 40 v.H. der Industriebeschäftigten wäre der in der Bundesrepublik übliche Anteil der Industriebeschäftigten an der Wohnbevölkerung erreicht." Es mutet erstaunlich an, daß ungeachtet der heftigen Auseinandersetzungen um Sarrazins spätere sozialrassistische Positionierung als selbsternannter Vorkämpfer gegen Muslime und seines Erachtens unproduktive Teile der Bevölkerung niemand seine Dissertation unter die Lupe nahm, bis sich Otto Köhler ihr widmete.

Daß sich die hauptverantwortlichen Technokraten im Zuge ihrer Liquidierung der DDR-Volkswirtschaft völlig im klaren darüber waren, welche sozialen Grausamkeiten sie planten und exekutierten, zeigt ihr Bestreben, sich schon auf dem Vorwege jeder Verantwortung zu entziehen. Horst Köhler, der nach dem Anschluß der DDR an die Bundesrepublik dem Verwaltungsrat der Treuhandanstalt angehörte, schrieb als Stellvertreter Waigels am 12. Juli 1991 der Treuhandpräsidentin Birgit Breuel, daß sie die bislang gewährte Freistellung von grober Fahrlässigkeit nicht länger in Anspruch nehmen könne. Breuel wandte sich jedoch an Minister Waigel und beharrte darauf, daß sie und alle Entscheidungsträger der Treuhand "einfachste und nächstliegende Überlegungen" außer acht lassen dürfen - das ist die juristische Definition dieser Freistellung von grober Fahrlässigkeit.

Otto Köhler - Foto: © 2011 by Schattenblick

Im Dialog mit dem Publikum
Foto: © 2011 by Schattenblick

Des Autors spitze Feder sticht, wozu es weder bitterer Klage noch trockener Faktenklauberei bedarf. Wenn er Revue passieren läßt, wie die Öffnung der Mauer am 9. November 1989 Bundeskanzler Helmut Kohl beim Staatsbesuch in Warschau überraschte und am nächsten Nachmittag auf einer Kundgebung in Westberlin seine Rede in einem stürmischen Pfeifkonzert unterging, "dem eine bezaubernde und mitreißende Kakophonie jenes Deutschlandliedes folgte, das auch heute noch als Nationalhymne benutzt wird", wird es ebenso spannend wie amüsant:

Solche Töne machten den alten Kampfgaul Helmut Kohl wieder munter. Und er beschloß: Ich will der Kanzler der Einheit werden. Aber wie? (...) Kohl ließ sich nicht bange machen. Er wußte einen Trick, wie man die Brüder im Osten für seine Partei ködern kann: die harte DM. Und das schnell. Es durfte nur keiner merken, solange sich noch die falschen Leute auf den ostdeutschen Straßen und Plätzen herumtrieben. So legte Helmut Kohl am 28. November erst einmal ein gemäßigt erscheinendes "Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas" vor. Darin stand kein Wort von der Übernahme der DDR durch die Bundesrepublik, vom Anschluß, wie er dann erfolgte, sondern viel von Hilfe und von einer Konföderation beider deutscher Staaten. Das war die Tarnkappe für die "Offensive" (...), die einem Ziel diente: Modrow ausschalten, Allianz für Deutschland schmieden mit der D-Mark als einzigem und wahrem Gott.

Dresden, das Tal der Ahnungslosen, war der ideale Ausgangspunkt für Kohls Offensive. (...) Nach Dresden flog der Kanzler angeblich nur, um sich dort mit dem DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow zu treffen. Indes: "Tausende von Menschen erwarten uns auf dem Flughafen, ein Meer von schwarzrotgoldenen Fahnen wehte in der kalten Dezemberluft." Westdeutsche Fahnen, die nicht von Hammer und Zirkel kontaminiert sind. Woher flutete so schnell dieses Meer von schwarzrotgoldenen Fahnen in den letzten Winkel der notleidenden DDR? (...) Kohl ist angekommen und schon glücklich: "Als die Maschine ausgerollt war, stieg ich die Rolltreppe hinab und sah Modrow, der mich etwa zehn Meter davon entfernt mit versteinerter Miene erwartete. Da drehte ich mich zu Kanzleramtsminister Rudolf Seiters um und sagte: "Die Sache ist gelaufen".

Man täusche sich nicht: Otto Köhler hat hieb- und stichfest recherchiert, doch insoweit das Schwerarbeit war, kann es nicht fruchten, den Leser mit solcher journalistischen Mühsal zu belasten. Als Publizist versteht es der Autor, sein Publikum zu erreichen: Er holt es ab und nimmt es mit auf eine unterhaltsame Reise durch die Geschichte, was der Entschiedenheit seiner Argumente nichts von ihrer Schärfe nimmt. Im Gegenteil: Wo der Zuhörer keinen Anlaß zur Betroffenheitsattitüde und Trauermiene findet, kann ihm das befreite Lachen zum eigenen Nutzen im Halse steckenbleiben. Als es Otto Köhler zuguterletzt nicht mehr am Stehpult hielt und er die Bühne auf und ab schritt, krönte er seinen Vortrag mit einem makabren Abstecher ins brandenburgische Guben.

Er trug eine Passage aus dem neuen Nachwort des Buches vor, die zeige, wohin die DDR geraten ist. Als Horst Köhler noch Präsident war, unternahm er hie und da Expeditionen in das Anschlußgebiet. Er machte Station in Görlitz, wo es das "wandernde Sofa" gibt. So nennt sich eine Einrichtung, die westdeutsche Rentner einlädt, eine Woche oder einen Monat umsonst in Görlitz zu wohnen, um zu prüfen, ob sie sich dort ansiedeln wollen, weil die Stadt immer leerer wird. Das habe ihm zu der Überlegung Anlaß gegeben, so der Autor, warum Horst Köhler nicht auch im nahegelegenen Guben war. Die Kleinstadt hatte einst 40.000 Einwohner, während es inzwischen allenfalls halb so viele sind.

"Guben ist nicht nur eine deindustrialisierte Stadt, Guben ist auch eine entstädterte Stadt", schrieb 2006 die FAZ. Guben ist auf dem Rückbau. Rückbau ist eine neue deutsche Sprachschöpfung. (...) Seit die D-Mark in den Osten gekommen ist, wird unentwegt rückgebaut. Zurück in unsere Zeit. (...) Der Rückbau in Guben verlief vorbildlich. "Stadtumbau kommt voran. Tausendste Wohnung in Guben abgerissen", freute sich schon 2003 das Ministerium für Infrastruktur und würdigte, Guben ist vorn im Stadtumbau in Brandenburg. Es habe schon fast die Hälfte der notwendigen Abrisse realisiert, um so schnell den Wohnungsmarkt zu stabilisieren. (...) "Den lokalen Akteuren ist es gelungen, ihre Interessen unter einen Hut zu bringen." (...) Der Bürgermeister hatte die Gabe des zweiten Gesichts, denn der Hut kam erst ein paar Jahre später.

Der Hut ist ein breiter Schlapphut, er ist das dem Joseph Beuys gestohlene Markenzeichen des Dr. Tod. Denn siehe: Nach der D-Mark 1990 kam im Jahr 2006 noch einmal Erlösung aus dem Westen. Klaus-Dieter Fuhrmann, der weitsichtige Stadtverordnetenvorsitzende von der Christlich Demokratischen Union in Guben hat die Epiphanie so formuliert: "Kommt von Hagens nach Guben, kommt auch Arbeit." Da hat dann wohl viel Gubener Volk auf einer mächtigen Kundgebung dem Erlöser das schöne Volkslied gesungen, "Kommt von Hagens, bleiben wir!". Und von Hagens kam. Die Stadt nahm den Dr. Tod mit offenen Armen auf, weil er ihr Zukunft brachte, die bisher vergangen schien. Der Heidelberger Gunther von Hagens (...) kam gerade aus Polen. Dort hatte er vergebens versucht, eine Fabrik zur Herstellung von Dauerleichen und Dauerleichenteilen - Plastination ist das - zu errichten. Die Polen hatten Erfahrung mit solchen Deutschen und deren Handwerk und haben ihn davongejagt.

Doch Deutschland ist, das wußte Bundespräsident Horst Köhler als Schirmherr gut, das "Land der Ideen". Seit der Wende, seit Cobra Ostdeutschland übernahm, stand gleich an der Neiße das 17.000 Quadratmeter große Fabrikgelände der Gubener Wolle leer, ein Textilbetrieb, der zuvor als volkseigener Betrieb Tausenden von Familien Lohn und Brot gegeben hat. Da war Rückbau geboten. Eine große Fabrikhalle blieb noch stehen, dort blüht jetzt perfekt plastiniert das neue Leben aus den Ruinen. Bundeswehrsoldaten dürfen, so gehört es sich, für ermäßigten Eintritt ins Plastinarium, ein Museum für konservierte Leichen und Leichenteile. "Mein Ziel ist es, Anatomie zu demokratisieren und menschliche Präparate an Menschen zu verkaufen", sagt Gunther von Hagens. Die plastinierte Volksscheibe vom Menschen zum erschwinglichen Preis sichert die Arbeitsplätze in Guben. Gunther von Hagens blickt, so versichert er, optimistisch in die Zukunft. Er plant bauliche Investitionen in Höhe von einer Million Euro. Eine weitere Million will er für die Herstellung von Körperscheiben von Mensch und Tier aufwenden (...) Gunther von Hagens ist ein Großinvestor. Langfristig strebt der Plastinator die Herstellung von 500.000 Menschenscheiben pro Jahr an.

Aber man muß nicht in Guben bei Dr. Tod arbeiten. Die Webseite IBA der Internationalen Bauausstellung zeigt, was sonst noch bleibt: "Durch die Rückbaumaßnahmen ist eine innerstädtische Freifläche entstanden, die den Gubener Bürgern den Zugang zur Neiße eröffnet." Freier Weg ins Wasser, das kann natürlich auch eine Lösung für die Gubener sein, die keine Arbeit in der Leichenfledderei finden. Guben ist Mittelpunkt eines neuen aufstrebenden Gewerbes geworden, Leichen aus der ganzen Welt werden in die schöne Neiße-Stadt gebracht und gewinnbringend plastiniert. Gubener Männer und Frauen arbeiten sich seither unter der Anleitung von Dr. Tod am Menschen ab. (...) Ach, hätte der damalige Bundespräsident Horst Köhler sich bei seiner Suche nach dem demokratischen Wandel im Osten bis nach Guben vorgewagt, er hätte sich aus seinem IWF-Ersparten ein schönes Stück fürs Schloß Bellevue und nunmehr fürs traute Heim leisten können: Einen echten Ostdeutschen, voll plastiniert, der kniet und dankend die Hände hebt, weil der Staatssekretär Horst Köhler ihm D-Mark und Freisetzung brachte.

Damit schloß Otto Köhler seine Lesung, für die er den verdienten und herzlichen Beifall erhielt. Ein folgenschweres Kapitel deutscher Geschichte, von einem scharfsichtigen Zeitzeugen seiner Mythen entkleidet, dekonstruierte sich zum strategischen Kalkül der brachialen Entsorgung der DDR und Enteignung ihrer Bürger. Wenngleich deren Vereinigungseuphorie wenig später dem Katzenjammer der per Anschluß Abgehängten wich, zeugt der massenhafte Bonner Freudentaumel am jüngsten Einheitstag doch von einer zweckdienlichen Fortschreibung der Legende. Bedarf besteht, hängt die prekäre soziale Frage doch heute als Damoklesschwert im Nacken der allermeisten Bundesbürger. Von der Losung "Wir sind das Volk" im Frühherbst 1989 über das kontaminierte "Wir sind ein Volk" bis zum nationalistisch eingedampften "Wir sind Deutschland" zieht sich ein roter Faden bundesrepublikanischer Staatsräson, hofiert von einer selbstbeschränkten Medienmeute. So wenig die vielbeschworene deutsche Einheit mithin ein Phänomen bloßer Vergangenheit ist, so sehr bedarf es kritischer Stimmen wie der Otto Köhlers, den Taktgebern und Vortrommlern ans Zeug zu flicken.

Fußnoten:

[1] Otto Köhler: Die große Enteignung - Wie die Treuhand eine Volkswirtschaft liquidierte. Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2011, 352 Seiten, 19,95 Euro

[2] http://www.jungewelt.de/2011/08-19/046.php

Zum Showanatomen Gunther von Hagens siehe auch:

BERICHT/025: "Die Untoten" - Im Anatomischen Theater auf der Suche nach dem Leben (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/bildkult/report/bkrb0025.html

KULTUR/0773: "Körperwelten" mit bolivarischer Revolution unvereinbar (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele0773.html

Front des Polittbüros - Foto: © 2011 by Schattenblick

Theater "Polittbüro" am Steindamm 45 in Hamburg-St. Georg
Foto: © 2011 by Schattenblick

5. Oktober 2011