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BERICHT/004: Jutta Ditfurth - In Sachen Ulrike Meinhof (SB)


Aufklärungsreise durch Deutschland
Die Nordtour


Daß 23 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung das Buch von Stefan Aust Der Baader Meinhof Komplex, das zum selbsternannten Standardwerk ("alle Fakten, alle Details") avancierte, 2008 neu aufgelegt wurde und sich der von der ARD mitfinanzierte, medial gehypte gleichnamige Film von Bernd Eichinger (Produzent), Uli Edel (Regie) und Stefan Aust (Buch/Vorlage) 2009 Hoffnungen auf einen Oscar und einen Golden Globe machen konnte, zeigt das Interesse von Medienmachern und Kulturschaffenden am Thema. Vor allem aber sind diese Werke ein Beleg dafür, wie aktuell der Bedarf einer genaueren Analyse und Aufarbeitung der Geschichte der RAF mehr als 30 Jahre nach dem 'Deutschen Herbst' ist.

Jutta Ditfurth - Foto: © 2010 by Schattenblick

Jutta Ditfurth
Foto: © 2010 by Schattenblick

Kritiker bescheinigen dem Film mangelnde Qualität, er sei denkbar ungeeignet für die Entwicklung eines Geschichtsbewußtseins und auch die, denen er, versehen mit dem Prädikat: Besonders wertvoll (FBW) ins schulische Pflichtprogramm geschrieben wurde, könnten ihm keinen Aufklärungswert abgewinnen. So nannte beispielsweise die Jugendzeitschrift Fudder, preisgekröntes Online-Magazin für Jugendliche aus dem badischen Raum, den Film eine "temporeiche Nummernrevue ohne große philosophische Ambitionen und Deutungsversuche".

Wirtschaftswoche-Chefreporter Dieter Schnaas, Jahrgang '66 und sicherlich nicht im Ruf eines Sympathisanten, schrieb von einem "Kulturellen Totalverlust":

So verständnisreich und gewaltarm einige Filmemacher von einst die RAF auch ästhetisiert haben mögen, sie versuchten dabei stets, den Motiven der Terroristen auf die Spur zu kommen - sorgten damit für Gesprächsstoff. Nicht so Bernd Eichinger, Uli Edel und Stefan Aust: Sie jagen in ihrem "Baader Meinhof Komplex" verständnisarm und gewaltreich den Fakten hinterher - und machen einen sprachlos. Dass Eichinger, Edel und Aust damit den Zeitgeist ausbeuten, ginge ja noch hin, aber dass sie hinter dem Vorhang ihrer Kriminalgeschichte, Schnitt für Schnitt, ein wichtiges Stück deutscher Zeitgeschichte verschwinden lassen; dass sie mit ihrer detailgenauen Spurensicherung, Szene für Szene, jedes aufklärerische Interesse dementieren; dass sie mit ihrer Ästhetisierung der Terroristen als schießwütige Mördercombo, Bild für Bild, die Gefühle der Angehörigen der Opfer aufwühlen - das ist schlicht unverzeihlich.


Jutta Ditfurth - Foto: © 2010 by Schattenblick

Foto: © 2010 by Schattenblick Kürzer bringt es Jutta Ditfurth auf den Punkt: "Da ist nur Blut und dahinter ist gar nichts". Vorlage und Anlaß genug für die streitbare Autorin, die bereits 2007 mit ihrer Biografie über Ulrike Meinhof versucht hat, dem Mainstream ein differenzierteres Bild ihrer Protagonistin und der Zeit und Umstände, in denen sie gelebt und gehandelt hat, entgegenzusetzen, erneut auf Lesereise zu gehen. "Keine öffentliche Figur in diesem Land ist dermaßen unter Legenden, Mythen und Fälschungen begraben wie Meinhof", meint Jutta Ditfurth. Seit Oktober 2009 und aus Anlaß des 75. Geburtstages will sie mit einer "Szenischen Lesung - Ermittlungen über Ulrike Meinhof" in einer Mischung aus Gelesenem und Erzähltem, unterlegt mit Fotos und Schriftdokumenten aus ihrem in mehr als 6 Jahren Recherche zusammengetragenen Archiv, nachweisen, wo die Öffentlichkeit bewußt getäuscht wird. Am 13. Februar 2010 war sie im Rahmen ihrer Nordtour im Husumer Speicher zu Gast.

Nach Bilddokumenten und Anmerkungen zum Tod von Ulrike Meinhof, die Zweifel an den dazu offiziell getroffenen Feststellungen aufkommen, Fragen nach den genauen Todesumständen aber offen lassen müssen, wurde zunächst ausführlich dokumentiert, daß die Familie Meinhof keineswegs ein Hort von Nazigegnern und christlich motivierten Widerstandskämpfern war, sondern sich eher dem Nationalsozialismus angedient hat, nicht allerdings ohne die Schläue und Geschicklichkeit, sich nach Ende des Krieges mit einer weißen Weste oder gar dem Mäntelchen des Widerstands zu tarnen. Besonders der Ziehmutter Renate Riemeck sei es gelungen, von ihrer Beteiligung abzulenken und sich als fortschrittliche, linksorientierte und friedensbewegte Frau zu präsentieren.

Man mochte sich angesichts der engagiert vorgetragenen Detailakribie fragen, was die Familiengeschichte zur Aufklärung über Ulrike Meinhof beizutragen hat, wären als Triebkraft für deren späteren Weg - wie in vielen Biografien jener Zeit - sowohl eine selbst erfahrene Tradition von Widerstand als auch die Auflehnung gegen ein reaktionäres Elternhaus denkbar. Man konnte diesen Teil des Abends aber auch als den Versuch werten, exemplarisch und am Beispiel dieser Familie noch einmal vor Augen zu führen, wie bundesrepublikanische Geschichts- und Geschichtenschreiber mit der braunen Vergangenheit umgehen.

Allerdings trüge der Versuch, die politische Bewegung der sogenannten 68er allein oder auch nur vorwiegend und um der Überschaubarkeit und Entladung von psychologischen Befindlichkeiten willen aus dem Generationenkonflikt der Nachkriegsgeneration mit ihren Nazi-Eltern zu erklären, die Gefahr mit sich - und dies durchaus im Sinne der Herrschenden -den Nationalsozialismus als eine historisch einmalige und darum unvergleichliche Phase fehlgeleiteten Machtstrebens und menschlicher Grausamkeit zu brandmarken und damit auszugrenzen. Dabei sind aggressiv-expansiver Totalitarismus, pervertiertes Nationalgefühl, Rassismus und Völkermord keineswegs deutsche Erfindungen des frühen 20. Jahrhunderts, Kolonialismus und Imperialismus nicht nur älter und universeller, sondern sichtbar und grausam aktuell.

Jutta Ditfurth - Foto: © 2010 by Schattenblick

Foto: © 2010 by Schattenblick Vier "Giftquellen" sind nach Meinung Jutta Ditfurths für das herrschende Bild von Ulrike Meinhof verantwortlich:

- ihre Ziehmutter Renate Riemeck
- ihr ehemaliger Mann Klaus Rainer Röhl
- der langjährige Spiegel-Chefredakteur und frühere Kollege bei Konkret
  Stefan Aust und
- das BKA.
Dabei werde durch den Umstand, daß eine Quelle sich auf die andere beziehe und aus ihr schöpfe vice versa der Eindruck von Faktizität und Beweiskraft erzeugt.

Ulrike, so die Autorin, habe unter Renate Riemeck, die nach dem Tod der Mutter die Erziehung für sie und ihre Schwester übernahm, sehr gelitten. Schon früh läßt sich ihr rebellischer Geist verorten. Immer mit kritischem Blick auf die offizielle Darstellung beleuchtet Ditfurth einzelne Stationen ihres Weges. Die begleitenden Fotos zeugen von der auch äußerlich sichtbaren Entwicklung. Als Mädchen interessiert sich Ulrike für das Schicksal der Zwangsarbeiter in Jena, steckt ihnen Brot zu, fragt nach der Vergangenheit. Auch trägt sie Hosen, raucht, zu jener Zeit zumindest äußere Zeichen von Rebellion. Die Aufforderung an einen Lehrer, den Schülern mehr Respekt entgegenzubringen, trägt ihr einen Schulverweis ein. Als Studentin engagiert sie sich gegen den vorherrschenden Antikommunismus, gegen die Wiederbewaffnung der BRD, gegen Atomwaffen. Ihr Engagement führt sie schnell von der SPD weg hin zur damals bereits verbotenen KPD. Die Entscheidung, das Studium zu beenden oder für die Zeitschrift Konkret in Hamburg zu arbeiten, fällt für die Hansestadt. Sie wird Chefredakteurin, auch das damals höchst ungewöhnlich für eine Frau, das Blatt avanciert unter ihrer Führung und gegen den Willen von Röhl zum Sprachrohr der APO.

Sie recherchiert Arbeitsbedingungen in Großbetrieben und das Schicksal von Heimkindern, die zu Tausenden unter unwürdigen Zuständen leben. Ungewöhnlich für die Zeit sei, daß sie zu den Betroffenen hinfährt, sie selbst befragt. Damit begründete sie eine neue Methode von Berichterstattung und Reportage, die heute ganz geläufig ist. Als Prozeßbeobachterin begleitet sie 1964 das Verfahren gegen den SS-Führer Karl Wolff, der wegen Beihilfe zum Mord an 300.000 Menschen zu 15 Jahren Haft verurteilt und wegen Haftunfähigkeit nach 7 Jahren entlassen wird. Auch das ruft Vergleiche auf den Plan. Als erste (so der Interviewte später selbst) interessiert sie sich für die Erfahrungen von Marcel Reich-Ranicki im Warschauer Ghetto und befragt ihn dazu, Anfang 1968 ist sie eine der Organisator/innen des Anti-Vietnam-Kongresses in Berlin.

Jutta Ditfurth - Foto: © 2010 by Schattenblick

Foto: © 2010 by Schattenblick Ihre Geschichte, lebendig gemacht durch Stellen aus privaten Briefen, sei der beste Beweis, so Jutta Ditfurth, daß Ulrike Meinhof zwar hoch empfindsam, nicht aber die, wenngleich erfolgreiche, doch unsichere und unter den Eskapaden ihres Mannes leidende Frau gewesen sein kann, als die sie im Film von Bernd Eichinger, gespielt von Martina Gedeck, dargestellt wird. Wie der Film, der im wesentlichen auf dem Buch von Stefan Aust basiert, historische Abläufe, Daten und Fakten verfälscht, demonstriert Jutta Ditfurth am Beispiel einzelner Szenen.

Da blättert Gedeck alias Meinhof gleich zu Anfang - eine Einblendung suggeriert Sylt im Juni 1967 - in einer mit dem iranischen Kaiserpaar zu dessen bevorstehendem Besuch in Berlin betitelten Neuen Revue, die zum Zeitpunkt des Geschehens bereits um Wochen veraltet, nämlich im Mai erschienen war oder sie liest auf einer Hausparty - von ihrem Mann Klaus Rainer Röhl (gespielt von Hans-Werner Meyer) süffisant genötigt - ihren offenen Brief an Farah Diba vor, in dem sie die Verhältnisse im Iran anprangert und der laut Röhl demnächst in Konkret veröffentlicht werden solle, es zu diesem Zeitpunkt aber bereits längst war. Der Brief hatte in Vorbereitung der Anti-Schah-Demonstrationen vom 2. Juni als Flugblatt gedient. Wo der Film, so Ditfurth, etwa bei der Rekonstruktion von Einschußwinkeln, eine fast penible Genauigkeit angestrebt habe, lasse er diese in anderen, wesentlicheren Belangen vermissen.

Mag die freie Darstellung angeführter Details auch einer künstlerischen Filmgestaltung, die mehrere Jahre in wenigen Stunden präsentiert, geschuldet sein, bleibt der Gesamteindruck von der Person, die er vermittelt und offensichtlich vermitteln will. Man habe, schlußfolgert Jutta Ditfurth, Ulrike Meinhof als beschützenswürdig darstellen wollen, um sich ihrer zu entledigen. Dazu gehöre auch die Grass-Äußerung in einem NDR-Interview: Hätte sie, Ulrike Meinhof, mehr mit ihm getanzt, sie hätte keine Bomben geworfen.

Jutta Ditfurth - Foto: © 2010 by Schattenblick

Foto: © 2010 by Schattenblick Der Gang in die Illegalität, im Film als eine eher verwirrte, kopflose und spontane Handlung dargestellt, erwiese sich bei einem genaueren Blick auf die Umstände und politischen Aktionen, an denen Ulrike Meinhof bereits aktiv beteiligt gewesen war, als durchaus überlegt und (ein)kalkuliert. Jutta Ditfurth erinnert an die Anschläge auf 2 im Bau befindliche portugiesische Kriegsschiffe im Hamburger Hafen bei Blohm und Voss, die gegen die Unabhängigkeitsbewegung in der Kolonie Guinea Bisao zum Einsatz kommen sollten. Für diese Aktionen, bei denen kein Mensch zu Schaden kam, habe Ulrike Meinhof das Geld besorgt. Das war 1969, ein Jahr vor der Baader-Befreiung.

Dann die vergeblichen, weil wirkungslosen Demonstrationen, die empfundene Unverhältnismäßigkeit staatlicher Organe bei Verhaftungen jener Zeit, die schließlich dazu führten, daß mehr als 7000 akademische Hoffnungsträger der Republik einsaßen, weshalb selbst amtierende Politiker eine Amnestie forderten, in deren Genuß allerdings nur kommen sollte, wer zu einer Haftstrafe unter 8 Monaten verurteilt war. Gudrun Ensslin und Andreas Baader, die für die Kaufhausbrandstiftung von 1968 drei Jahre Zuchthaus ohne Bewährung erhalten hatten, gehörten nicht dazu, weshalb die Befreiung Baaders nicht nur Ulrike Meinhof, sondern vielen Zeit- und Weggenossen nur recht und billig erschienen wäre und ihr Erfolg mit einer Unzahl von Parties in ganz Berlin abgefeiert wurde.

Aufmerksames Publikum in Husum - Foto: © 2010 by Schattenblick

Aufmerksames Publikum in Husum
Foto: © 2010 by Schattenblick
Der Vortrag der Meinhof-Biografin rückt nicht so sehr die Taten in den Vordergrund, sondern die Verhältnisse in der BRD, auf die sie reagierten. Die Schilderung der sogenannten weißen Folter, der Ulrike Meinhof 280 Tage und damit länger als alle anderen Gefangenen, unter ständiger, greller Beleuchtung bei völliger Geräuschisolierung, ausgesetzt war, verfolgt das Publikum mit betroffener Aufmerksamkeit. Bezeichnend für das damalige Klima auch, daß die Bitte von Meinhofschen Verwandten, selbst konservativen Leuten, um Haftprüfung und -erleichterung von Frau Heinemann, Gattin des damaligen Bundespräsidenten, mit der Bemerkung beschieden wurde, das werde schon alles seine Ordnung haben und vom damaligen Justizminister, da könne er nichts machen, das sei Sache der Justiz. Man versteht, warum Jutta Ditfurth auf ihrer Recherchereise in Erstaunen, Entsetzen und in Zorn geriet.

Was sie zu dieser Arbeit motiviert habe, war eine der Publikumsfragen, die sich an den zwei Stunden prall gefüllten, aufschlußreichen und auch unterhaltsamen Vortrag anschlossen. Eher zufällig, so Ditfurth, sei sie dazu gekommen. Ihr sei aufgefallen, daß es über Rudi Dutschke eine ganze Anzahl und guter Veröffentlichungen gäbe, über Ulrike Meinhof außer zwei von Klaus Rainer Röhl herausgegebenen Büchern mit ihren Konkret-Artikeln und dem von ihr verfaßten Buch zur Situation von Fürsorgezöglingen in der BRD "Bambule" gar nichts. Das habe sie veranlaßt, eine Autorin für eine Biografie zu suchen, und sie habe sich dann, nach langen, erfolgslosen Anstrengungen, schließlich selbst ans Werk gemacht.

Jutta Ditfurth signiert Veranstaltungsplakate - Foto: © 2010 by Schattenblick

Jutta Ditfurth signiert Veranstaltungsplakate
Foto: © 2010 by Schattenblick
Inzwischen mißt das im Zuge der Recherchen entstandene Archiv mehr als 60 Regalmeter, Material, das geschützt, gepflegt und verwaltet werden müsse. So etwas kostet Geld, Geld, das Jutta Ditfurth nicht hat. Deshalb lagen auf dem Pult auch "Spendenbriefe" um finanzielle Unterstützung. Es gebe Überlegungen, das Archiv in andere Hände zu geben. Die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung habe sich angeboten, das sei aber keine zuverlässige Adresse, eher schon die Feltrinelli-Stiftung in Italien, gegründet von jenem Verleger, Mäzen und Meinhof-Freund, der 1968 auch den Anti-Vietnam-Kongreß in Berlin unterstützte.

Eine Antwort auf die Frage nach der Zukunft linker Politik, wie auch danach, wer Ulrike Meinhof wirklich war, konnte an diesem Abend selbstverständlich nicht gelingen. Sie hängt ganz entscheidend von der Präferenz des Betrachters ab, Geschichte bleibt immer eine Frage der eigenen Positionierung. Wer verläßliche Anhaltspunkte sucht, tut hier, wie in anderen Fällen, gut daran, nach dem Interesse und den Motiven des Berichterstatters zu fragen.

Für Stefan Aust ließe sich das relativ einfach beantworten. In einem Interview mit dem ZEITmagazin äußert er auf die Frage, welchen Einfluß er auf den Film hätte nehmen wollen:

Ich habe nur ein einziges Recht definiert. Ich habe Bernd Eichinger gesagt: Mein Name steht auf den Plakaten genauso groß wie deiner. Und das ist es dann auch. It's my show anyway.

Auch Jutta Ditfurth kann man persönliche Motive unterstellen, diejenigen nämlich einer langjährigen Verfechterin außerparlamentarischer Opposition aus Überzeugung und Leidenschaft, das Andenken an eine der großen und einflußreichsten bundesrepublikanischen Persönlichkeiten in dieser Tradition - auch vor dem 14. Mai 1970 - wachzuhalten. Denn, so zitiert sie aus einem Brief von Ulrike Meinhof an ihre Freundin Maria: "Wenn wir tot sind, müssen neue Leute sich um die Probleme kümmern."

Kulturzentrum Speicher Husum - Foto: © 2010 by Schattenblick

Kulturzentrum Speicher Husum
Foto: © 2010 by Schattenblick


21. Februar 2010