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REZENSION/007: Sigrid Damm - Sommerregen der Liebe. Goethe und Frau von Stein (Roman-Essay) (SB)


Sigrid Damm

Sommerregen der Liebe. Goethe und Frau von Stein.

von Christiane Baumann


Ein Jahrzehnt des Irrwegs in der Liebe und im Leben. Sigrid Damms Roman-Essay über Goethe und Charlotte von Stein

Sommerregen der Liebe nennt Sigrid Damm ihren Band, der einfühlsam dem Verhältnis von Johann Wolfgang von Goethe und Charlotte von Stein nachspürt, und bezieht sich dabei auf den Dichter, der am 22. Juni 1776 der Angebeteten schrieb: "Die Gegenwart ists allein die würckt, tröstet und erbaut! - Wenn sie auch wohl manchmal plagt - und das plagen ist der Sommerregen der Liebe." (S. 72) Das "Plagen" führte Goethe am Ende in eine tiefe Krise, die er nur durch seine Flucht nach Italien überwand, das ihm schließlich zur "Wiedergeburt" verhelfen sollte.

Die aus Gotha stammende Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Sigrid Damm hat sich in ihren Arbeiten vor allem der Weimarer Klassik verschrieben. So leuchtete sie in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder unterschiedliche Facetten im Leben Goethes aus. Um nur einiges zu nennen: 1987 erschien ihr Buch Cornelia Goethe, das das Leben der Dichter-Schwester aufrollte und von dem Bestreben gekennzeichnet war, dieser jung verstorbenen, ungewöhnlich begabten Frau Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, eine Gerechtigkeit, die Goethe ihr zu Lebzeiten versagte. Auf "Recherche" ging Damm in Christiane und Goethe (1998), um die Liebe und Ehe dieses ungleichen Paares nachzuzeichnen, wobei es ihr gelang, die Lebensleistung Christiane Vulpius' in dieser Beziehung in berührender Weise herauszustellen. Im gleichen Jahr gab Sigrid Damm eine Auswahl der Ehebriefe Goethes und Christianes heraus und 1999 folgte deren Tagebuch 1816 und Briefe. Daneben erschienen unter anderem Goethes letzte Reise (2010) und Goethes Freunde in Gotha und Weimar (2014). Der nun vorliegende Band über die zehn Jahre andauernde ungewöhnliche Liebe Goethes zu Charlotte von Stein fügt sich wie ein Baustein in dieses Gesamtensemble. Charlotte von Stein steht zwischen Cornelia Goethe und Christiane Vulpius. Wurde sie nach der Schwester zur engen Vertrauten Goethes, so führte nach seiner Rückkehr aus Italien das vor ihr verheimlichte Verhältnis mit Christiane 1789 endgültig zum Bruch. Die Verbindung mit der 23 Jahre jüngeren Frau aus niederem Stand bedeutete eine Demütigung, die die Stein nie verwinden sollte.

Sigrid Damm nähert sich der Beziehung von Goethe und Charlotte von Stein von verschiedenen Seiten. Da sind zum einen die mehr als 1.700 Briefe Goethes an Charlotte, aus denen sie 231 auswählt und die schwer wiegen, da die Briefe der Stein vernichtet wurden. Diesem "Ungleichgewicht" (S. 18) sucht Damm dadurch zu begegnen, dass sie in ihrer Einleitung nicht nur den biographischen und historischen Kontext dieser Beziehung umreißt und zur Editionsgeschichte der Goethe-Briefe ausführt, sondern explizit den Werdegang und die Lebenssituation Charlotte von Steins in den Mittelpunkt rückt. In einem dritten Teil führt Sigrid Damm Authentisches und Fiktives zusammen und verwebt alle Spuren zu einem spannenden Roman-Essay, einer Form, die sie sich in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter erschlossen hat. Dabei spekuliert sie nicht, sondern füllt weiße Flecken mit Sachkenntnis, gesundem Menschenverstand und großer Sensibilität aus.

Wer war Charlotte von Stein, diese Frau, die in Goethes Briefen eher "skizzen- oder schemenhaft" (S. 18) bleibt und die als Grabschrift für sich formulierte: "Sie konnte nichts begreifen, die hier im Boden liegt, Nun hat sie's wohl begriffen, da sie sich so vertieft"(S. 13)? Als Charlotte von Schardt 1742 in Eisenach als Tochter eines schlechtbezahlten Reisemarschalls geboren, kam sie nach Weimar, als die sachsen-ernestinische Nebenlinie an das Herzogtum Sachsen-Weimar fiel und ihr Vater dort das Amt eines Haus- und Hofmarschalls annahm. Da er das Vermögen seiner Frau in seinem Drang nach Repräsentation verschleuderte, sah sich die Familie bald in finanzieller Not. Zudem wurde er frühzeitig, mit noch nicht einmal 50 Jahren, von der Herzogin Anna Amalia in Rente geschickt. Charlotte wuchs somit keineswegs in rosigen Verhältnissen auf. Mit 16 Jahren wurde sie Hoffräulein bei Anna Amalia, lernte dort vermutlich ihren späteren Mann kennen, den sie 21-jährig heiratete. In neun Ehejahren kommen sieben Kinder zur Welt. Als der 26-jährige Goethe, berühmt als Autor des Romans Die Leiden des jungen Werther, der sieben Jahre älteren Charlotte 1775 in Weimar begegnet, ist sie eine gereifte und erfahrene Frau, zudem gesundheitlich angeschlagen. Vier ihrer Kinder versterben kurz nach der Geburt. Sie trägt Verantwortung für das ländliche Anwesen der Familie. Goethes Temperament und vereinnahmendes Wesen ziehen sie in Bann und bringen sie in Konflikt mit ihrer religiösen, puritanischen und am höfischen Werte- und Normenkodex ausgerichteten Erziehung. Sie wird zur "Bildnerin und Erzieherin des in ihren Augen ungebärdigen und anmaßenden jungen Bürgerlichen" (S. 19), dem das Leben am Hof fremd ist. Damit offenbart diese Geschlechter-Konstellation eine für die Zeit ungewöhnliche Rollenverteilung, indem eine Frau in einer Beziehung den "Ton" angab. Zugleich wurde Goethe für sie zu einer ungeheuren Möglichkeit, der Tristesse des Lebens am Weimarer Hof und in ihrer Ehe zu entkommen. Dass sie dabei an Grenzen ihres in höfischen Konventionen befangenen Denkens stieß, die sie nicht überwinden konnte, verwundert nicht. Sigrid Damm skizziert das und zeigt in der Trennung Goethes von Charlotte Parallelen auf zum Bruch mit der Schwester Cornelia. Es ist ein ebenso scharfer Schnitt "an einem Wendepunkt" (S. 22) in seinem Leben, doch diesmal weist er die Schuld nicht so eindeutig von sich.

Sigrid Damm hat eine prägnante Auswahl aus Goethes Briefen, die erstmals 1848-1851, nach dem Tod von Charlottes Sohn Fritz publiziert wurden, getroffen. Inzwischen sind sie, dank der Klassik Stiftung Weimar, digital verfügbar. Neben ausführlichen Briefen tauschten Goethe und Charlotte oft mehrmals täglich "Zettelgen" aus, kurze Nachrichten, heutigen SMS ähnlich. Es wurden Verabredungen getroffen, Alltägliches mitgeteilt, man übermittelte einen kurzen Morgen- oder Abendgruß. Goethes Liebesbriefe offenbaren seine Leidenschaftlichkeit, sein Werben um Charlotte und sein Hadern mit sich und der höfischen Welt. Seine innere Zerrissenheit wird spürbar, sein körperliches Begehren ebenso wie der Versuch, dieses der "Seelenliebe" unterzuordnen. "Your lover for ever" unterzeichnet er einen Brief, seine Anreden für Charlotte sind voller Fantasie und Originalität, sind "Wortliebkosungen" (S. 245). Sie zeigen den in Europa gefeierten Dichter, das Mitglied der Weimarer Regierung als kopflos Verliebten, der "am Straßenrand im Gebüsch" (S. 260) hockte, um die Geliebte in der Kutsche vorbeifahren zu sehen.

Zugleich sind die Briefe ein bedeutendes Zeugnis zu Goethes Weg zum "zweitwichtigste(n) Mann im Herzogtum" (S. 290). Innerhalb weniger Jahre absolvierte er eine beispiellose politische Karriere, wurde Geheimer Rat, erhielt das Adelsdiplom und bekleidete zahlreiche bedeutende Regierungsämter im Herzogtum. Die Zerrissenheit in der Liebe korrespondierte mit dem Konflikt zwischen Dichter und Politiker, der in Weimar sozial wirken wollte und schließlich vor der politischen Realität kapitulierte. So schrieb er am 12. November 1881 über Herzog Carl August, dieser habe "eine enge Vorstellungs Art" und es fehle ihm an "Ideen und an wahrer Standhaftigkeit" (S. 112). Aber erst mit seiner Flucht 1886 nach Italien gelang es ihm, den Konflikt zwischen Politiker und Dichter zu lösen. Desillusioniert zog er Bilanz über sein politisches Wirken: "wer sich mit der Administration abgiebt, ohne regierender Herr zu seyn, der muß entweder ein Philister oder ein Schelm oder ein Narr seyn." (S. 349) Rückzug, Flucht, Befreiungsschlag, Wiedergeburt. In dieser Überschau wird begreifbar, warum in Goethes Erinnerungen zwischen "Dichtung und Wahrheit" und der "Italienischen Reise" eine zeitliche "Leerstelle" (S. 46) klafft. Es ist dieses erste Weimarer Jahrzehnt, das er ausspart, weil es ein Jahrzehnt des "Irrwegs" - in der Liebe wie im gesellschaftspolitischen Engagement" (S. 45) war. Dass es zugleich ein Jahrzehnt des Reifens war, eine Zeit, in der sich Goethes Persönlichkeit formte, er zu seiner Identität als Künstler fand und wichtige Voraussetzungen für sein späteres Werk geschaffen wurden, belegen die Briefe eindrücklich, so wie sie in diesem Prozess des Werdens Charlotte von Stein eine Schlüsselrolle zuweisen. Sigrid Damms Buch macht einmal mehr deutlich, dass die Beziehung von Goethe und Frau von Stein ohne das Wissen um Goethes politische Karriere in Weimar in diesem Jahrzehnt unverständlich bleiben muss.

Goethes Verhältnis zu Charlotte von Stein gab sowohl in der Dichtung als auch in der Wissenschaft und Publizistik immer wieder Anlass zur Beschäftigung. Erinnert sei an Peter Hacks 1976 uraufgeführtes Ein- Personen-Stück "Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe", mit dem er einen Weltbestseller landete. In der Publizistik sorgten in jüngster Zeit zwei Publikationen für Aufsehen. 2003 formulierte Ettore Ghibellino in Goethe und Anna Amalia - eine verbotene Liebe seine These, Charlotte von Stein habe lediglich als Komplizin gedient, um die wahre Liebe Goethes zur Herzogin Anna Amalia zu verschleiern. 2014 spekulierte Veit Noll, hier anknüpfend, in seinem Band Goethe im Wahnsinn der Liebe, dass der Dichter eigentlich vor der Liebe Anna Amalias gemeinsam mit Charlotte von Stein und deren Sohn Fritz nach Italien fliehen wollte, um mit beiden dort ein Leben "ohne Stand und Namen" zu führen. Beide Werke werden von Sigrid Damm bewusst nicht benannt, aber sie erörtert diese und belegt, wie spekulativ und "abwegig" (S. 215) solche Hypothesen sind. Sie setzt zudem seriöse wissenschaftliche Studien, wie die von Nicholas Boyle (Goethe. Der Dichter in seiner Zeit, 1995) dagegen und weist diese auch im Anhang aus. Dabei fällt auf, dass wichtige, bereits im 19. Jahrhundert erschienene Publikationen über Charlotte von Stein ausgespart werden. Um zwei Beispiele zu nennen. Bereits 1874 kam das zweibändige Lebensbild Charlotte von Stein, Goethes Freundin des Literaturhistorikers Heinrich Düntzer heraus. Der Literaturwissenschaftler, Wilhelm Scherer-Schüler und Goethe-Forscher Erich Schmidt veröffentlichte 1886 in seinen Charakteristiken eine Studie über Goethes Verhältnis zu Charlotte von Stein, die prägnant die Stadien der Liebe vom stürmischen Beginn bis zur Krankheit und Obsession beschrieb, hierbei eng den Bezug zum literarischen Werk Goethes suchte und auch zum glücklichsten Jahr 1781, dieser "neuen Phase" der Beziehung, bereits anmerkte: "Was für Vorgänge diese Stimmung heraufführten und erhielten, können wir nicht wissen und wollen uns hüten, mit plumper Hand am Schleier des Intimsten zu zerren." [1] Wenn es bei Sigrid Damm dazu heißt: "Wir müssen nicht wissen, welche Formen der Zärtlichkeit und Nähe, welche erotischen Beglückungen, welche Sublimierungen des Begehrens die beiden, Goethe und Frau von Stein, füreinander gefunden haben. Es ist und bleibt ganz allein ihre Sache, für immer ihr Geheimnis" (S. 272), dann weist das auf ein grundsätzliches Problem des Bandes: Aufgrund der Quellenlage, der Vernichtung der Briefe von Charlotte von Stein, ist diesem Kapitel in Goethes Leben nicht viel Neues hinzuzugewinnen und wird vieles im Dunkeln bleiben (müssen). Fehlt einerseits ein Blick auf die Rezeptionsgeschichte, so führt andererseits die gewählte Dreiteilung des Buches zu mancher Wiederholung. Während Damm's kompromisslose Studie über die Schwester Cornelia am Goethe-Sockel rüttelte, die Recherche Christiane und Goethe die Spuren einer zerstörten Frauenexistenz an die Oberfläche beförderte, ist das Schreiben über die Beziehung von Goethe und Charlotte von Stein vom Verständnis für den Genius geprägt, der zehn Jahre brauchte, um den "Egoismus, den sein Werk forderte" (S. 361), zurückzugewinnen.


Anmerkung:

[1] Schmidt, Erich: Frau von Stein. In: Ders.: Charakteristiken. Berlin 1886, S. 308.

Sigrid Damm:
Sommerregen der Liebe. Goethe und Frau von Stein.
Insel Verlag, Berlin, 2015,
405 Seiten,
22,95 Euro,
ISBN: 978-3-458-17644-2

8. März 2016


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