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HINTERGRUND/148: Auf der Flucht - Binnenvertriebene ohne Schutz und Versorgung


die zeitung - terre des hommes, 1. Quartal 2009

Auf der Flucht
Binnenvertriebene: ohne Schutz und Versorgung

Von Athanasios Melissis


Abgekämpft und müde sitzt Saw mit seinem vierjährigen Sohn Eh Tha in einer Hütte. Der 33-Jährige kam am Vorabend im Vertriebenenlager Oh Win Hta im burmesisch-thailändischen Grenzgebiet an. Nach einem einmonatigen Fußmarsch durch den burmesischen Dschungel erreichte er das rettende Lager, gemeinsam mit seinen zwei Kindern, seiner Frau, seiner Mutter und weiteren 250 Menschen. Sie alle gehören zur Volksgruppe der Karen, die - wie viele andere Volksgruppen auch - vom burmesischen Regime brutal unterdrückt wird, da sie den wirtschaftlichen Interessen der Militärs im Wege steht. "Unser Dorf wurde vom Militär umstellt", erzählt er. "Wir wurden aufgefordert, sofort unsere Häuser zu verlassen. Uns blieb nichts anderes übrig, als mit dem Wenigen, was wir so eben greifen konnten, die Flucht zu ergreifen."

Saw ist einer von schätzungsweise 25 Millionen Menschen weltweit, die als sogenannte Binnenvertriebene im eigenen Land auf der Flucht vor Krieg und Gewalt sind. Sie werden aus ihren Dörfern verjagt oder fliehen aus Furcht vor Kampfhandlungen. Vertriebene gibt es derzeit in rund 50 Ländern. Frauen und Kinder machen etwa 70 Prozent der Opfer aus. Allein im Sudan gibt es etwa sechs Millionen, in Kolumbien vier Millionen, in Burma eine halbe Million Menschen, die Opfer gewaltsamer Vertreibung geworden sind. Da Binnenvertriebene die Grenzen ihres Heimatlandes nicht überschreiten, werden sie laut Genfer Flüchtlingskonvention nicht als Flüchtlinge anerkannt. Flüchtlinge haben mit dem UN-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR eine eigene Organisation, die sie versorgt und schützt. Für Binnenvertriebene gibt es kein entsprechendes Organ.


Gründe für gewaltsame Vertreibung

Oft sind sogenannte Entwicklungs- und Infrastrukturprojekte Auslöser gewaltsamer Vertreibungen. In Burma sind beim Bau von Staudämmen Tausende Familien aus ihren Dörfern vertrieben und diese anschließend überflutet worden. In Indien müssen besonders die niedrigen Kasten wirtschaftlichen Interessen ohne angemessene Entschädigung weichen.

Doch in der Regel sind es bewaffnete Konflikte, in deren Folge es zu Vertreibungen kommt. Auf den Philippinen geraten Menschen zwischen die Fronten der Bürgerkriegsparteien und müssen ihre Dörfer verlassen. In Ländern wie Kolumbien, Burma oder Kongo gehören Vertreibungen sogar zur Kriegsstrategie: In Kolumbien entvölkern vor allem paramilitärische Gruppen ganze Siedlungsgebiete und wandeln das Land in Plantagen um. Auch wenn die dort lebenden Menschen Eigentümer des Landes sind, legalisiert die Regierung den Landraub in vielen Fällen nachträglich. In Burma setzt das Militärregime Vertreibungen gezielt ein, um im Land jegliche Opposition und ethnische Minderheiten wie beispielsweise die Karen zu unterdrücken.

Vertriebene müssen auf ihrer Flucht große Strapazen auf sich nehmen. Viele kommen dabei um. Den Kindern, die durch Krieg heimatlos geworden sind, drohen besondere Gefahren: Unterernährung und Krankheit, der Verlust der Familie, die Rekrutierung als Kindersoldat, Vergewaltigung von Frauen und Mädchen. In Burma nehmen viele den beschwerlichen und gefährlichen Weg in das Niemandsland an der Grenze zu Thailand auf sich, wo es zahlreiche Lager gibt, die den Menschen Schutz geben. Im Camp Oh Win Hta, in dem Saw und seine Familie Zuflucht gefunden haben, kümmern sich Mitarbeiter der terre des hommes-Partnerorganisation BMA (Burma Medical Association) um die Menschen. Es gibt Lebensmittel und eine Unterkunft; wer Beschwerden hat, kann einen Arzt aufsuchen. Die Arbeit von Hilfsorganisationen ist hier besonders nötig, weil Thailand die Genfer Flüchtlingskonvention nicht ratifiziert hat und nur wenig Unterstützung leistet.

Nicht in allen Kriegsgebieten finden Menschen Zuflucht in Notunterkünften. Oft retten sie sich in die Wildnis oder fliehen in die Slums der Großstädte. Manchmal sind dies Zwischenstationen auf einer jahrelangen Odyssee, doch in vielen Fällen auch Endstation. So sind die Slums an den Rändern der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá in den letzten Jahrzehnten explosionsartig gewachsen. Egal ob Lager oder Slum: Die Situation ist auch hier alles andere als einfach. Meist herrschen katastrophale hygienische Verhältnisse; Unterernährung und mangelbedingte Krankheiten sind weit verbreitet, die Sterblichkeitsrate ist hoch, es gibt kaum Arbeit. Die Kinder bekommen nur selten eine Ausbildung, und so bleiben nur wenige Alternativen: Manche schließen sich den bewaffneten Gruppen an, andere wählen die Kriminalität; vielen Frauen und Mädchen scheint Prostitution der einzige Ausweg. Besondere Probleme haben Kinder, die ethnischen Minderheiten angehören. Sie verlieren mit der Vertreibung oft auch ihre kulturelle und sprachliche Identität.


Rückkehr oder Ansiedlung?

Wenn die Kampfhandlungen eingestellt worden sind, stellt sich vielen Familien die Frage nach einer Rückkehr in die Heimat. Doch nicht alle möchten zurückkehren. In der ursprünglichen Heimat erwarten die Rückkehrer zerstörte Gebiete, in denen Schulen, Krankenhäuser und Arbeit fehlen. Oder das Land ist von anderen in Besitz genommen worden. Wegen dieser schlechten Aussichten ziehen es viele Vertriebene vor, in den Slums oder den Auffanglagern zu bleiben.

An eine Rückkehr ist für Saw und seine Familie jedenfalls nicht zu denken. Sie würden gerne wieder in ihrem Dorf leben. Doch Saw weiß, dass das mit dieser burmesischen Regierung ausgeschlossen sein wird. Wie es weitergehen wird, ist ungewiss. Vorerst ist er froh, dass er und seine Familie in Sicherheit sind.


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VERTREIBUNG STOPPEN!
Kinder brauchen ein Zuhause.

Binnenvertriebene haben keine Lobby. Ihr Problem, heimatlos im eigenen Land zu sein, ist der Öffentlichkeit kaum bekannt. Obwohl sie ebenso wie Flüchtling aus ihren Dörfern vertrieben werden, nur das Notwendigste mitnehmen können und dieselben Strapazen wie Flüchtlinge auf sich nehmen, haben sie nicht den Anspruch auf eine Grundversorgung und Schutz. Denn Binnenvertriebene überschreiten keine Grenze, sondern bleiben im eigenen land. Mit der Kampagne "Vertreibung stoppen! Kinder brauchen ein Zuhause." wird auf die dramatische Lage der weltweit rund 25 Millionen Binnenvertriebenen aufmerksam gemacht, die auf der Flucht vor Krieg und Gewalt sind. Gerade weil das Schicksal dieser Menschen von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wird, ist es für die jeweiligen Regierungen leicht, das Problem zu ignorieren. Daher klärt terre des hommes mit Veranstaltungen und Aktionen über das Problem auf. In mehreren Projekten weltweit hilft terre des hommes Binnenvertriebenen, in einer neuen Umgebung zurechtzukommen oder unterstützt die Rückkehr in die alte Heimat.

Während des gesamten Jahres engagiert sich terre des hommes mit verschiedenen Aktionen für Vertreibungsopfer. Dafür wurden Materialien vorbereitet, beispielsweise ein Film und eine Ausstellung von Bildern, die vertriebene Kinder gemalt haben. Die Plakate sind über terre des hommes erhältlich.

Mehr: www.tdh.de/vertreibung


Vertreibungsopfer...
... bleibt innerhalb der Staatsgrenzen
... überquert eine internationale Grenze
BINNENVERTRIEBENER
FLÜCHTLING
- kein Status als Flüchtling         
- keine Schutzorganisation,          
  meist keine Hilfe oder Versorgung
- Status laut Genfer Flüchtlingskonvention
- UNHCR vertritt die Interessen,         
   bietet Schutz/Versorgung

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Quelle:
die zeitung, 1. Quartal 2009, S. 4
Herausgeber: terre des hommes Deutschland e.V.
Hilfe für Kinder in Not
Ruppenkampstraße 11a, 49084 Osnabrück,
Tel.: 0541/71 01-0, Fax: 05 41/70 72 33
E-Mail: info@tdh.de
Internet: www.tdh.de

die zeitung - terre des hommes erscheint
4 Mal jährlich. Der Verkaufspreis wird durch Spenden
abgegolten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Juni 2009