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LÄNDERBERICHT/121: "Fehlende Mädchen" in Chinas Bevölkerung


Menschenrechte für die Frau 3/2007
Die Zeitschrift von Terre des Femmes

"Fehlende Mädchen" in Chinas Bevölkerung
Buddhistische Nonne nimmt Mädchen auf

Von Astrid Lipinsky


Nur wenige Regionen sind so menschenleer wie diese hier in der Provinz Gansu. An den Berghang klammern sich zwei schäbige Hütten. Eine Behausung am Berghang, mitten in der Wildnis, - da kann es sich nur um einen Tempel handeln. Und tatsächlich, im ersten Morgengrauen klingt von den Hütten ein dünnes Läuten und gleich darauf springt die Tür der kleineren Hütte auf, und ein Dutzend Mädchen stürmen den Berghang hinunter. Die Mädchen sieht man hier jeden Tag. Die Nonne, die in der Hütte wohnt, hat sie im wahrsten Sinne des Wortes "aufgesammelt".


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Als sie ihr erstes Mädchen bekam, lebte Meisterin Changlian, die Nonne, gerade einen Monat in ihrer Klosterhütte. In China hatte die Reformphase begonnen, und damals, Ende der 1980er Jahre, war es wieder möglich, ins Kloster zu gehen. Doch selbst im ärmsten Dorf war es zunehmend unmöglich, entgegen den staatlichen Vorschriften mehr als zwei Kinder zu haben. Hier in den Bergen von Gansu ist der Boden karg, und außerhalb der Landwirtschaft gibt es so gut wie keine Einkommensalternativen. Die Familien brauchen gesunde, kräftige Söhne für die Arbeit auf dem Feld, denn es wird alles von Hand gemacht. Niemand kann sich einen Trecker oder eine Erntemaschine leisten. Außerdem kann auch nur ein Sohn den Ahnenaltar versorgen, und das ist den Menschen wichtig, obwohl Mao den Ahnenkult verboten hat. Eines Abends jedenfalls fand Changlian auf dem winzigen Grasfleck neben ihrer Hütte ein neugeborenes Mädchen. Was tun? Der Mönch, ihr Vorgesetzter in der größeren Hütte, hielt ihr einen Vortrag über die Kinderlosigkeit des buddhistischen Klerus und seiner Klöster und verlangte, sie solle das Kind weggeben. Die Notwendigkeit, das Kind zu füttern, lenke sie von ihren religiösen Pflichten ab.

Am nächsten Morgen schneite es, und es war zu kalt für die Kletterei hinunter ins Dorf mit dem Baby. Die Nonne fütterte das Kind mit weichgekauten Bissen von ihrem Dampfkloß. Am zweiten Tag brachte sie das kleine Mädchen ins Dorf. Aber dort wollte es niemand haben. Schlimmer noch, der Dorfvorsteher forderte die Nonne auf, mit dem Kind zu verschwinden, denn man erwarte jeden Moment die staatlichen Kontrolleure, die alle Kinder im Dorf zählen und jedes Überschreiten der Quote bestrafen würden.

Bei einer freundlichen Bäuerin und gläubigen Buddhistin bekam die Nonne Reisbrei für das Baby und ein Gemüsegericht für sich selbst. Die Bauersfrau bestätigte ihre Vermutung, dass die Eltern das Kind ausgesetzt hatten. Immer noch besser, meinte sie, als es gleich im Bettlaken ersticken. Über die möglichen Eltern wisse sie nichts, von den Nachbarn seien es keine gewesen.


Frauen fehlen schon lange in der Statistik

Nach einer ersten Erhebung von 1877 kamen schon damals in China auf 119 junge Männer nur jeweils 100 gleichaltrige Frauen, bei einem natürlichen Geschlechterverhältnis von 106 Jungen auf 100 Mädchen bei der Geburt. Die fehlenden jungen Frauen, so die Untersuchung, starben meist schon in früher Kindheit: Selten wurden sie gleich nach der Geburt getötet. Eher wurden sie ausgesetzt oder verkauft, schlechter ernährt als ihre Brüder und bei Krankheit nicht behandelt. In der Aufnahme ausgesetzter weiblicher Säuglinge fanden im 19. Jahrhundert die christlichen MissionarInnen in China ihr Hauptbetätigungsfeld. Die misstrauisch beobachteten Ordensschwestern kümmerten sich um Essen, warme Kleidung und sogar um Schulbildung für ihre Schützlinge, die damals für die meisten Mädchen unerreichbar war. Die MissionarInnen wurden nach 1949 aus China vertrieben.


Mädchen werden abgeschoben

Die Nonne Changlian in Gansu macht heute dieselbe Erfahrung wie die Missionsschwestern von damals: Es ist, als hätten die Eltern nur auf ihre Aufnahmestelle für unerwünschte Mädchen gewartet. Als die Nonne mit ihrem ersten Baby zurück zur Klosterhütte kam, lag vor ihrer Tür ein weiteres, wenige Monate altes Mädchen. Als Buddhistin darf sie nicht einmal einen Wurm zertreten - und schon gar nicht ein Kind draußen vor ihrer Tür erfrieren lassen.

In den folgenden zehn Jahren "adoptierte" Changlian über 70 Mädchen und gab jedem von ihnen einen Namen, in dem das Zeichen für "Buddha" vorkommt: "Buddhas Geschenk", "Buddhas Tochter" oder "Buddhas Schatz". Die Zeitungen berichteten über sie und Pilger spendeten für die Mädchen. Es reichte gerade für ihr Essen und die nötige Kleidung. Im einzigen Raum der Hütte stehen Changlians Altar und das große Ofenbett, auf dem alle schlafen. Als die ersten Mädchen sechs Jahre alt wurden, konnte Changlian durchsetzen, dass ihre Adoptivtöchter die Dorfschule ohne Schulgebühren besuchen können.

Längst nicht alle Mädchen blieben so lange. Beispielsweise kamen ein paar Wochen nach ihrem zweiten Fund die Eltern dieses Mädchens. Die Mutter könne nicht mehr schlafen und nichts mehr essen, berichtete der Vater. Sie hätten es sich deshalb überlegt und wollten ihre Tochter zurück. Jahre später wurde ein etwa dreijähriges Mädchen mit entstellender Hasenscharte zu Changlian gebracht. Es dauerte ein Jahr und viele Bettelbesuche bei wohlhabenden Gläubigen, bis sie einen Arzt gefunden hatte, der die Operation kostenlos machte, und bis sie Geld für die weitere Behandlung zusammen hatte. Kaum war das Mädchen aus dem Krankenhaus entlassen worden, standen die Eltern vor der Tempeltür und forderten es zurück. Noch nicht mal eine Spende für den Tempel hatten sie übrig. Da freute sich die Nonne insgeheim, dass das Mädchen nur widerstrebend mit den Eltern ging und lieber bei den neuen Schwestern geblieben wäre.

Vor Fremden warnt sie die Mädchen jedoch. Die "Frau mit dem roten Auto", die ihre hübscheste Adoptivtochter mitnahm, wahr wohl eine Menschenhändlerin, vermutet die Nonne. Sie verständigte die Polizei, aber die fühlt sich für den Schutz der Klostermädchen nicht zuständig.


Staatliche Vorgaben

China ist ein sozialistischer Staat und betrachtet den religiösen Glauben als unvereinbar mit der Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei. Der Staat hat jedoch die Benachteiligung von Mädchen bei Strafe verboten und betreibt eigene Waisenheime. Allerdings leben dort nur etwa zehn Prozent der insgesamt schätzungsweise 570.000 Waisen. Der Großteil der Kinder in den Heimen ist behindert.

Offensichtlich herrscht in China großes Misstrauen gegenüber der staatlichen Aneignung eines Kindes. Einerseits liegt das wohl daran, dass die Waisenheime bekanntermaßen unterfinanziert sind. Entscheidend ist aber, dass die Abgabe eines Kindes an ein Waisenheim unwiederruflich ist. Der Staat kontrolliert zunächst, ob die Eltern tatsächlich verstorben sind, und macht es unmöglich, das Kind erneut zu beanspruchen. Eltern bevorzugen deshalb andere Optionen:

o Nachbarn oder Verwandte nehmen das Kind informell an und ziehen es mit den leiblichen Kindern auf. Die förmliche, legale Adoption ist nur kinderlosen Paaren erlaubt.

o Die Geburt der Tochter wird nicht gemeldet. Offiziell existiert sie nicht, oder die Meldung erfolgt nachträglich. Abgelegene Dörfer liegen oft viele Kilometer von der nächsten Meldestelle entfernt. Zum ersten Schuljahr in der Dorfschule kommen dann häufig Geschwisterpaare: Der Junge ist im Einschulungsalter, und seine Schwester ist schon ein paar Jahre älter. Die Eltern haben nach der Geburt der Tochter einfach abgewartet, ob das zweite erlaubte Kind ein Junge wird. Wenn ja, kann die Tochter bleiben und wird nachträglich gemeldet. Wenn nicht, werden entweder sie oder ihre Schwester ausgesetzt. Häufig trifft es das ältere Kind, denn die Eltern wollen es nicht töten, sondern hoffen, dass es gefunden und von Dritten versorgt wird.

o Die Tochter wird für etwa 430 Euro verkauft. Abnehmer sind Händler, aber auch staatliche Waisenheime, die ausschließlich ausländische Adoptiveltern suchen, von denen sie 4.000 US-Dollar als Spende fordern. Eine chinesische Adoption kostet aktuell die ausländische Endabnehmerin etwa 10.000 US-Dollar, dagegen ist sie für ChinesInnen kostenlos. Im Jahr 2006 haben AmerikanerInnen 6.400 chinesische Kinder adoptiert.

Das Töten, Aussetzen oder Vernachlässigen von Mädchen und weiblichen Säuglingen ist eine Menschenrechtsverletzung, die der chinesische Staat unter Strafe stellt. Allerdings hat er es bisher versäumt, das entsprechende Menschenrechtsbewusstsein bei seinen BürgerInnen zu fördern. Vielmehr leben in der armen Landbevölkerung die geschlechterdiskriminierenden und für Mädchen überlebensgefährdenden Familientraditionen vom Aussetzen bis zum Verkauf der Töchter fort. Die Mädchen werden sogar erfolgreich zur Opferbereitschaft für die Familie erzogen, etwa, sich verkaufen zu lassen, um den Kauf von Saatgut oder die Hochzeit des Bruders zu finanzieren. Aus diesem Blickwinkel muss die Menschen- und Frauenrechtsdiskussion in China neu geführt werden.


Zur Autorin:
Dr. Astrid Lipinsky ist Asienexpertin und langjährige Mitfrau bei TERRE DES FEMMES.


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Quelle:
Menschenrechte für die Frau 3/2007, S. 20-21
Herausgeberin: Bundesverband TERRE DES FEMMES e.V. -
Menschenrechte für die Frau
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Dezember 2007