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BERICHT/091: Gegen Häusliche Gewalt in Russland (frauensolidarität)


TERRE DES FEMMES in der frauensolidarität - Nr. 113, 3/10

Gegen Häusliche Gewalt in Russland
Bericht über einen Kooperationsbesuch

Von Serap Altinisik


Seit kurzem kooperiert TERRE DES FEMMES (TDF) im Rahmen des Programms "Building Civil Society through Women's Coalition" mit dem Verein "Projekt Kesher" in Russland. Im Mai 2010 reiste Serap Altinisik, Leiterin des TDF-Referats zum Thema Häusliche Gewalt, nach Russland. Sie war als Expertin zum Thema Häusliche Gewalt eingeladen und berichtete über die Entwicklung und Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland.


Die erste Station führte nach Wolgograd, ehemals Stalingrad, wo TDF-Referentin Serap Altinisik von Aktivistinnen des Projekts Kesher herzlich empfangen wurde. Zum Workshop hatten sich unter anderem Mitarbeiterinnen der örtlichen Stadtverwaltung angemeldet, was die russischen Frauenrechtlerinnen als positives Signal für ihre Aufklärungsarbeit zu Häuslicher Gewalt in Wolgograd verstanden. Insgesamt nahmen am Workshop etwa 20 Frauen und Männer unterschiedlicher Organisationen teil. Es waren sowohl PsychologInnen als auch Rechtsanwältinnen anwesend, aber auch VertreterInnen verschiedener ethnischer Vereine in Wolgograd.


Großes Interesse

Beeindruckend waren die Offenheit und der Wunsch nach Informationen über den Umgang mit Häuslicher Gewalt auf verschiedenen Ebenen, zu Praxis und Umgang von Häuslicher Gewalt in Deutschland. Im Mittelpunkt der Diskussionen nach der ersten Gruppenarbeit stand die Frage, ob eine betroffene Frau in einer gewaltgeladenen Beziehung verbleiben soll oder ob eine Trennung besser wäre. Die Gründe sowohl für eine Trennung als auch für einen Verbleib bei einem gewalttätigen Partner unterschieden sich kaum von den Gründen, die häufig in Deutschland genannt werden. Die meist genannten Argumente lauteten: "Die Kinder brauchen den Vater", "Was sagen die Nachbarn (die Community) zu einer Trennung?", "Was geschieht mit den Kindern?" und "Wie kann sich die Frau finanziell über Wasser halten?" Absolut überzeugt zeigte sich die Workshop-Gruppe davon, dass Häusliche Gewalt ein großes Problem in ihrer Stadt darstellt und dass die negativen Auswirkungen von Häuslicher Gewalt alle in der Gesellschaft betreffen.

Die TeilnehmerInnen zeigten sich sehr beeindruckt vom Gewaltschutzgesetz und der "neuen Rolle" der Polizei in Fällen von Häuslicher Gewalt in Deutschland. Auch hier ähnelten die Beschreibungen über den Umgang der russischen Polizei mit betroffenen Frauen denen vor der Einführung des Gewaltschutzgesetzes und Sensibilisierung der Polizeibeamten in Deutschland.


Keine Privatangelegenheit

Alle TeilnehmerInnen äußerten sich sehr kritisch zum Eingreifen der russischen Polizei bei Fällen von Häuslicher Gewalt. Zu oft stelle sich die russische Polizei auf die Seite der Täter. Manchmal käme sie auch gar nicht. Häusliche Gewalt würde anscheinend immer noch als Privatangelegenheit betrachtet, über die der Deckmantel des Schweigens gebreitet werden sollte. Für die Teilnehmenden war offensichtlich, dass die Zusammenarbeit mit der Polizei enger werden und noch viel Aufklärungsarbeit geleistet werden müsse.

Weitere Themen, die den Teilnehmenden am Herzen lagen, waren der Austausch über die Vorgehensweise der russischen und der deutschen Justiz sowie der MedizinerInnen in Fällen von Häuslicher Gewalt. Auch wie eine gelungene Lobbyarbeit aussehen könnte, wurde diskutiert. Der Workshop endete vor allem mit der Einsicht, dass für ein gewaltfreies Leben von Frauen und Mädchen noch vieles getan werden muss, sich aber der gemeinsame Einsatz sehr lohnt, wenn er am Ende Früchte trägt. Viele Teilnehmende sprachen sich deshalb für eine engere Zusammenarbeit aus, um das Thema Häusliche Gewalt weiter in die Öffentlichkeit zu tragen und die Politik in die Pflicht zu nehmen. Mit der Überreichung der Teilnahmezertifikate und dem Rückblick auf einen ergebnisreichen Austausch endete der Tag. Die Vertreterinnen von TDF und dem Projekt Kesher konnten sich mit einem guten Gefühl auf den Weg nach Orel machen, da sie ihrem Ziel, unterschiedliche Frauenvereine und betroffene Berufsgruppen in Wolgograd im Kampf gegen Häusliche Gewalt zusammenzubringen, ein Stück weit näher gekommen sind.


Nächste Station

In Orel waren ein Gespräch am Runden Tisch, eine Konferenz und ein Workshop mit unterschiedlichen TeilnehmerInnen und ReferentInnen geplant. Der Runde Tisch mit dem Thema "Gewalt gegen Frauen in unterschiedlichen Facetten" fand am sozialpädagogischen-psychologischen Institut statt, wo vor allem Häusliche Gewalt einen großen Raum einnahm. DozentInnen und Psychologinnen aus dem Bereich und etwa 60 Studierende nahmen an diesem Runden Tisch teil. Es wurden sehr viele Fragen zu den Gesetzen gegen Häusliche Gewalt in Deutschland gestellt: Wie es zu diesen Gesetzen kam und ob sie zu einer Veränderung in der Wahrnehmung von Häuslicher Gewalt in der Gesellschaft geführt haben. Die Institutsleiterin sprach sich am Ende des Runden Tisches dafür aus, ein solches Zusammentreffen unterschiedlicher MultiplikatorInnen in ihrem Institut zu verankern. Projekt Kesher und TDF begrüßten diesen Vorschlag, da zu einer Verbesserung der Situation von Gewalt betroffenen Frauen eine kontinuierliche Arbeit unabdingbar ist.

Am nächsten Tag fand eine große Konferenz am Institut für Wirtschaft in Orel statt. Rednerinnen von Frauenrechtsorganisationen und von der russisch-orthodoxen Kirche stellten sich einem Publikum von über 120 Studierenden und VertreterInnen von Nichtregierungsorganisationen. Die VertreterInnen vom Projekt Kesher und von TDF waren erfreut über das große Interesse an den Aktivitäten gegen Häusliche Gewalt. Für die russischen Kolleginnen war die Teilnahme eines Priesters sehr wichtig, da die russisch-orthodoxe Kirche bei der Ächtung von Gewalt gegen Frauen eine wichtige Rolle spielen kann.


Enttabuisierung erforderlich

Die Erkenntnisse aus der Konferenz zeigen auch hier eindeutig, dass Russland in der Bekämpfung von Häuslicher Gewalt noch am Anfang steht. Resultat der Konferenz war, dass jede und jeder einen Beitrag zur Ächtung von Häuslicher Gewalt leisten kann und muss, wenn Häusliche Gewalt enttabuisiert und Frauen vor der Gewalt des Partners geschützt werden sollen. Sowohl für den Runden Tisch als auch für die Konferenz war es wichtig, dass viele Studierende erstmalig Beiträge zu Häuslicher Gewalt hörten und als MultiplikatorInnen die Veranstaltungen verließen.

Beim Workshop mit den Frauenrechtsorganisationen und einzelnen betroffenen Berufsgruppen nach der Konferenz kam es ebenfalls zu einem intensiven Austausch.

Die Frauen waren vor allem von den deutschen Frauenhäusern als Schutzeinrichtung für Frauen und Kinder begeistert. Denn es gibt in Russland nicht ein einziges Frauenhaus. In Moskau hatte es in der Vergangenheit eines gegeben, das wegen finanziellen Nöten wieder geschlossen wurde. Viele TeilnehmerInnen kannten den Begriff "Frauenhaus" überhaupt nicht. Deshalb wurden sehr viele Fragen zur Finanzierung und Organisation von Frauenhäusern gestellt.

Das Gewaltschutzgesetz und die "neue Aufgabe" der Polizei fanden auch hier reges Interesse und es wurde der Wunsch geäußert, so ein Gesetz müsse auch in Russland Einzug halten. Auch in Orel berichteten die Frauen kritisch über die Polizei und beklagten das Wegschauen und das Verharmlosen von Häuslicher Gewalt seitens der Polizei. In der Diskussion ergab sich, dass viele Vorurteile und Ängste gegenüber diesem Thema in der russischen Gesellschaft vorhanden sind. Die Frauen waren sich auch hier einig, dass der Staat sich unbedingt gegen Häusliche Gewalt positionieren müsse, beispielsweise mit einem Gesetz, damit ein Mentalitätswechsel stattfinden könne. Die Anwesenden beschlossen, gemeinsam am 25. November, dem Internationalen Tag "NEIN zu Gewalt an Frauen", Aktionen und Veranstaltungen in Orel zu organisieren.

Wir freuen uns schon sehr auf weitere Aktionen und Veranstaltungen der teilnehmenden Organisationen und betroffenen Berufsgruppen aus Wolgograd und Orel und sind fest davon überzeugt, dass wir im Dezember - zum zweiten Austausch in Russland - die Früchte ihrer Arbeit bestaunen dürfen.


Anmerkung:

TERRE DES FEMMES und Projekt Kesher danken der Europäischen Kommission und ihrem Programm EuropeAid für die Unterstützung dieses Projekts.


Zur Autorin:

Serap Altinisik ist TERRE DES FEMMES-Referentin zum Thema Häusliche Gewalt. Sie arbeitet im TDF-Büro in Berlin.
(Kontakt: gewaltschutz@frauenrechte.de)


TERRE DES FEMMES
Menschenrechte für die Frau e. V.
Postfach 2565, 72015 Tübingen
Telefon: 07071/79 73-0, Telefax: 07071/79 73-22
E-Mail: info@frauenrechte.de
Internet: www.frauenrechte.de


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 113, 3/2010, S. 20-21
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
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Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
Einzelpreis: 5,- Euro;
Jahresabo: Österreich und Deutschland 20,- Euro;
andere Länder 25,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Dezember 2010