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BERICHT/090: Einzelfallhilfe in Deutschland 2009 (frauensolidarität)


TERRE DES FEMMES in der frauensolidarität - Nr. 112, 2/10

Einzelfallhilfe 2009
Ein Service von TERRE DES FEMMES

Von Karin Lochner und Friede Mutimba


TERRE DES FEMMES bietet in Deutschland eine Erstberatung per Telefon, E-Mail oder Post an. Ziel ist es, Frauen und Mädchen dabei zu unterstützen, sich aus Gewaltsituationen zu befreien und selbstbestimmt zu leben. Die Mehrheit der Ratsuchenden war im vergangenen Jahr von Zwangsheirat, Gewalt im Namen der Ehre und Häuslicher Gewalt betroffen.


In der Einzelfallberatung erhalten Mädchen und Frauen am Telefon, per E-Mail oder durch Briefkontakt Hilfe. Wichtig ist, dass die Kontaktaufnahme für die Betroffenen niedrigschwellig sein soll.


Wie hilft die Einzelfallhilfe den Betroffenen?

Oft haben die Mädchen oder Frauen keine Gesprächspartner oder Vertrauenspersonen in ihrem Umkreis, und die Einzelfallhilfe bietet den Hilfesuchenden einen anonymen Raum, in dem sie sich offen äußern können und mit ihren Sorgen ernst genommen werden. In den Gesprächen wird dann gemeinsam überlegt, was den Betroffenen in ihrer jeweiligen Situation helfen könnte, und es wird eine Hilfsstrategie erarbeitet. Dabei ist es stets wichtig herauszufinden, was die Ratsuchenden selbst wünschen. Hat das Mädchen oder die Frau eine Entscheidung für sich getroffen, wird sie darin weitergehend begleitet und beraten. Um eine erste Entscheidung zu treffen, ist es oft hilfreich, den Betroffenen verschiedene Hilfsmöglichkeiten aufzuzeigen. Entscheidet sich die Betroffene zur Flucht aus der Familie, wird gemeinsam ein Fluchtplan erarbeitet. Außerdem hilft die Einzelfallhilfe, entsprechende Anlaufstellen vor Ort zu finden und nimmt Kontakt zu den zuständigen Jugendämtern und anderen Behörden auf. Im Jahr 2009 leistete das Referat Einzelfallhilfe bundesweit in Deutschland in insgesamt 368 Fällen Beratung.


Was verstehen wir unter einer Zwangsheirat?

Mit 29% der Fälle war Zwangsheirat der häufigste Grund für eine Kontaktaufnahme mit dem Referat Einzelfallhilfe. Eine Zwangsheirat liegt dann vor, wenn mindestens einer der Ehepartner durch die Ausübung von Gewalt oder durch Drohungen zum Eingehen einer formellen oder informellen (also durch eine religiöse oder soziale Zeremonie geschlossene) Ehe gezwungen wird. Eine Weigerung eines Ehepartners hat entweder kein Gehör gefunden oder der/die Betroffene hat es nicht gewagt, sich zu widersetzen. Auch die Bedrohung der Betroffenen mit existentiellen finanziellen oder ausländerrechtlichen Konsequenzen kann zu einer Zwangsverheiratung führen. Eine klare Abgrenzung zu arrangierten Ehen ist in der Praxis manchmal schwer. Im Zweifel orientieren wir uns an der Perspektive der Betroffenen. Eine arrangierte Heirat liegt dann vor, wenn die Heirat zwar von Verwandten, Bekannten oder von Ehevermittlern bzw. -vermittlerinnen initiiert, aber im vollen Einverständnis der Eheleute geschlossen wird.


Worin unterscheidet sich Häusliche Gewalt von Gewalt im Namen der Ehre?

An zweiter Stelle steht mit 14% Gewalt im Namen der Ehre als Grund zur Kontaktaufnahme mit dem Referat Einzelfallhilfe, Häusliche Gewalt belegt mit 11% den dritten Platz. Sowohl bei Häuslicher Gewalt als auch bei Gewalt im Namen der Ehre wird davon ausgegangen, dass der Täter aufgrund eines patriarchalischen Geschlechterverständnisses Gewalt anwendet oder mit dieser droht. Die Rechtfertigung der Gewalttat hingegen unterscheidet sich jedoch.

So geht der Gewalt im Namen der Ehre häufig eine Planung voraus. Beispielsweise treffen sich Familienmitglieder, um das gemeinsame Vorgehen gegen die Frau zu besprechen. Zwar kann die Gewalttat, wie auch bei der Häuslichen Gewalt, durch einen Einzelnen ausgeführt werden, sie wird jedoch meist im Nachhinein von mehreren Personen gebilligt oder sogar befürwortet. Ausführende der Gewalt sind in den meisten Fällen nahe stehende männliche Verwandte, doch auch Frauen aus der Familie sind oftmals an der Tat beteiligt oder wissen zumindest von dem Vorhaben.

Ehre oder Familienehre wird in vielen Kulturkreisen und Ländern unterschiedlich definiert. In stark patriarchal geprägten Gesellschaften oder Milieus ist die Familienehre abhängig vom "richtigen" Verhalten der weiblichen Familienmitglieder, die quasi als Besitz des Mannes angesehen werden. Verstößt ein weibliches Familienmitglied gegen die vorherrschenden Normen und wird dies bekannt, ist die gesamte Familienehre beschädigt, wenn nicht gar zerstört, und somit auch das gesellschaftliche Ansehen der gesamten Familie.


Hintergrund ist die Kontrolle der weiblichen Sexualität. Sexualität wird nur innerhalb der Ehe toleriert. Dabei reicht in manchen Fällen der Verdacht oder das Gerücht, ein Mädchen sei mit einem fremden Jungen oder Mann gesehen worden, um die Familienehre nachhaltig zu beschädigen. Auch eine Vergewaltigung kann zum Verlust der Familienehre führen. Aufgabe der Männer ist es, die Familienehre zu bewahren bzw. das Verhalten der weiblichen Familienangehörigen daraufhin zu kontrollieren. Gelingt ihnen dies nicht, ziehen sie möglicherweise zur Wiederherstellung der Familienehre die Ermordung (Mord im Namen der Ehre, oder "Ehrenmord") des Mädchens oder der Frau, die für den Ehrverlust verantwortlich ist, in Betracht.


Bei Häuslicher Gewalt entscheidet sich ein Einzelner, meist der Mann oder Lebenspartner, zur Gewalt. Die Gewaltanwendung wird individuell begründet und von einem Einzelnen ausgeführt. Häusliche Gewalt hat viele Erscheinungsformen: physische Misshandlung, sexualisierte Gewalt, psychische Gewalt, soziale Diskriminierung und ökonomische Gewalt können hier genannt werden.

Die genaue Einordnung der Fälle in Häusliche Gewalt oder Gewalt im Namen der Ehre ist in der Praxis oft schwierig. Vor allem wenn Kontaktpersonen die Lebensgeschichte der Betroffenen schildern, bleiben oft Unklarheiten bestehen, zum Beispiel mit welchen Gründen ein Mann die psychische und physische Gewalt gegenüber seiner Frau rechtfertigt. Warum darf sie beispielsweise nicht über ihr verdientes Geld selbst verfügen? Warum darf sie nur in Begleitung ihres Mannes aus dem Haus? In nicht eindeutigen Fällen werden Frauen, die von psychischer und physischer Gewalt in ihrem häuslichen Umfeld betroffen sind, unter Häusliche Gewalt in die Statistik aufgenommen.


Alter und Herkunftsländer der Betroffenen von Gewalt im Namen der Ehre und Zwangsheirat

Erfasst wurden auch die Herkunftsländer der Betroffenen von Gewalt im Namen der Ehre und Zwangsheirat. Die erfassten Länder sind dabei unabhängig vom jeweiligen Aufenthaltsort der Betroffenen zum Zeitpunkt der Kontaktaufnahme. Mit einer überwiegenden Mehrheit von 37% waren die betroffenen Frauen türkischer Herkunft. Einzeln erfasst wurden außerdem alle Länder, aus denen mehr als eine Frau kam. Der Rest wurde unter "Sonstige Länder" zusammengefasst. Der Kosovo mit 10%, Afghanistan mit 8% und Marokko mit ebenfalls 8% sind weitere Länder mit einem hohen Anteil. Allein aufgrund der ethnischen Herkunft der Betroffenen auf Gewalt im Namen der Ehre zu schließen wäre allerdings fahrlässig und stigmatisierend. Ebenso wurde das Alter der Betroffenen von Zwangsheirat und Gewalt im Namen der Ehre erfasst (siehe Diagramm). Ein Großteil der Frauen, welche sich aufgrund von drohender oder bereits vollzogener Zwangsheirat meldete, war älter als 22 Jahre.

34% (117 Fälle) machen "Sonstige Fälle" in der Beratung aus. Sonstige Fälle entsprechen nicht dem Aufgabengebiet von TERRE DES FEMMES. In diesen Fällen leistete die Einzelfallhilfe keine weitergehende beratende Hilfestellung, sondern vermittelte die Betroffenen an entsprechende Beratungsangebote weiter.


In der Statistik 2010 sollen unter anderem die Altersstufen weiter differenziert werden. Auch soll die Art der Kontaktaufnahme erfasst werden, um zu erkennen, bei welcher Art der Kontaktaufnahme die Hemmschwelle bei den Betroffenen am niedrigsten ist. Ferner soll festgehalten werden, wer sich als Erste in der Einzelfallhilfe meldet, also Betroffene oder Kontaktperson, sowie die Art der Beziehung zwischen diesen beiden. Dabei lässt sich gut feststellen, welche Berufsgruppen verstärkt über ein waches Auge und Sensibilisierung zu den Themen Zwangsheirat, Häusliche Gewalt usw. verfügen.

Kontakt zum Referat: beratung@frauenrechte.de


Zu den Autorinnen:

Friede Mutimba ist Leiterin des Referats Einzelfallhilfe und Eilaktionen bei TERRE DES FEMMES.
Karin Lochner war drei Monate lang Praktikantin im Referat


TERRE DES FEMMES
Menschenrechte für die Frau e. V.
Postfach 2565, 72015 Tübingen
Telefon: 07071/79 73-0, Telefax: 07071/79 73-22
E-Mail: info@frauenrechte.de
Internet: www.frauenrechte.de


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 112, 2/2010, S. 22-23
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
Sensengasse 3, 1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
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Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
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Jahresabo: Österreich und Deutschland 20,- Euro;
andere Länder 25,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Juli 2010