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BERICHT/087: Hilfe bei Zwangsheirat.de (frauensolidarität)


Terre des Femmes in der frauensolidarität - Nr. 110, 4/09

Hilfe bei Zwangsheirat.de
Ein Online-Internetportal unterstützt seit Sommer 2009 in der Not

Von Judith Kolbe


Mädchen und junge Frauen, die Angst vor einer Zwangsheirat haben, finden nun online Hilfe bei TERRE DES FEMMES (TDF). Neben Beratung und Information bietet dieses Portal auch ein Forum für BeraterInnen und ExpertInnen.


Seit vielen Jahre arbeitet TDF zum Thema "Gewalt im Namen der Ehre" und zu Zwangsheirat. Mehrere Kampagnen haben dazu beigetragen, das Thema mehr in die öffentliche Diskussion zu rücken und die Brisanz zu unterstreichen. So realisierte TERRE DES FEMMES bereits in den Jahren 2002 und 2003 die einjährige Kampagne "Stoppt Zwangsheirat", die unter anderem die Schaffung spezialisierter Beratungs- und anonymer Schutzeinrichtungen für betroffene Mädchen und Frauen, MultiplikatorInnenschulungen für LehrerInnen, MitarbeiterInnen des Jugendamtes und der Polizei sowie verbesserte Integrationsmaßnahmen für Migrantinnen und Migranten forderte und erreichte. Im Zuge der Kampagne startete TDF eine "Präventionsoffensive gegen Zwangsheirat" an Schulen und produzierte in diesem Zusammenhang Materialien wie die "Unterrichtsmappe gegen Zwangsheirat" für PädagogInnen sowie verschiedene Plakat- und Postkartenmotive, die im ganzen Bundesgebiet verteilt wurden.


Sensibilisierung und Opferschutz

Die in den folgenden Jahren 2004 bis 2006 durchgeführte Kampagne trug den Titel "NEIN zu Verbrechen im Namen der Ehre" und hatte unter anderem das Ziel, die (Fach-)Öffentlichkeit für "Gewalt im Namen der Ehre" in Deutschland zu sensibilisieren und verbesserte Opferschutz- und Integrationsmaßnahmen zu schaffen. Immer wieder wird in den Medien von Fällen berichtet, bei denen nicht mehr geholfen werden kann, weil die Opfer tot sind. Doch dies ist nur die Spitze des Eisbergs: Jährlich melden sich immer mehr Mädchen und junge Frauen bei TDF und anderen Beratungsstellen, die von ihren Familien bedroht, geschlagen werden und in Gefahr leben, verschleppt zu werden. Sie wenden sich an uns, da sie Hilfe bei der Suche nach passenden Beratungsstellen benötigen. Sie möchten über Möglichkeiten beraten werden und brauchen häufig Hilfe bei der Flucht aus ihrer Familie.


Verbreitetes Phänomen

Gewalt "im Namen der Ehre" ist eine Form von Gewalt gegen Frauen und Mädchen, die innerhalb stark patriarchalisch strukturierter Familien und Gesellschaften vorkommt. Die Gewalt wird mit dem Erhalt bzw. der Wiederherstellung der "Ehre" gerechtfertigt und meist von nahen männlichen Verwandten ausgeübt. Mädchen und Frauen, die in solchen Strukturen leben, sind gezwungen, sich "ehrenhaft" zu verhalten, da von ihrem Verhalten Erhalt und Verlust der "Familienehre" abhängig sind.

So müssen die Mädchen unter allen Umständen jungfräulich in die Ehe gehen. Um zu verhindern, dass sie eine voreheliche Beziehung eingehen, werden sie möglichst früh verheiratet. Später wird von ihnen erwartet, eine gute Ehefrau und Mutter zu sein, die sich dem Willen ihres Mannes beugt. Häufig werden Mädchen und Frauen in ihrer freien Lebensgestaltung eingeschränkt: So dürfen sie etwa nicht selbst entscheiden, wen und wann sie heiraten oder ob sie eine Ausbildung beginnen wollen. Verstöße werden mit physischer und psychischer Gewalt bis hin zum "Ehrenmord" bestraft. Zu den Herkunftsländern der Betroffenen von Gewalt bzw. Verbrechen im Namen der Ehre gehören vor allem islamisch geprägte Länder wie Türkei, Irak, Iran, Afghanistan, Kosovo/Albanien, Libanon, Syrien, Pakistan und Jordanien. Dennoch kann Gewalt im Namen der Ehre nicht als explizit religiöses Phänomen betrachtet werden und kommt auch in anderen Kulturkreisen vor. Die weltweiten Migrationsbewegungen machen "Gewalt im Namen der Ehre" auch in Deutschland zu einer Problematik, mit der sich viele Migrantinnen und beratende Dritte konfrontiert sehen und Beratungs- und Unterstützungsbedarf haben.


Prävention und Information

Der Umgang mit dieser Problematik, mit der sich vor allem minderjährige oder noch sehr junge Migrantinnen konfrontiert sehen, ist in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt und zu einem sehr wichtigen Thema innerhalb der Integrationsdebatte geworden. Vielfach beginnen sich staatliche wie nicht-staatliche AkteurInnen mit der Thematik auseinander zu setzen und schaffen Initiativen, die es direkt betroffenen und gefährdeten Mädchen und Frauen ermöglichen, Hilfen in Anspruch zu nehmen. Auch in der Integrationsarbeit tätige Personen nehmen verstärkt Informationsangebote wahr, um Verbrechen im Namen der Ehre präventiv bekämpfen zu können. Um alle Informationen und die damit beschäftigten Personen miteinander zu vernetzen, hat TDF ein Internetportal geschaffen, das seit Mitte Juli online ist. Unter der Adresse www.zwangsheirat.de finden sowohl Betroffene, als auch BeraterInnen und Interessierte wie Schülerinnen und Schüler Informationen.

Das vom Europäischen Integrationsfonds und von der Body Shop Foundation kofinanzierte Projekt bündelt auf den Informationsseiten die Definitionen und die kulturellen Hintergründe von Gewalt im Namen der Ehre und Zwangsheirat. Verlinkt wurde zu verschiedenen Studien, die in den Bundesländern Hamburg, Baden-Württemberg und Berlin das Ausmaß an Zwangsheirat feststellten. Weiterhin wird die Rechtslage in Deutschland dargestellt und ein Blick auf die Situation von Männern bei Zwangsheiraten geworfen. Die Informationsseiten zu Ehrenmord beantworten die Fragen nach den Hintergründen und stellen eine Studie aus Großbritannien zur Verfügung, die erstmalig einen Einblick in den Komplex der Ehrenmorde bietet. Zusätzlich bietet die Seite eine Vielzahl von Literaturempfehlungen und Materialien zum Download.


Vernetzung, Forum, Beratung

Weiterhin versucht die Seite die Defizite in der Zusammenarbeit und Vernetzung von unterschiedlichen Maßnahmen über Landesgrenzen hinaus zu verbessern. Die Internetplattform bietet die Möglichkeit des Austausches zwischen ExpertInnen, BeraterInnen und Interessierten. Für die ExpertInnen steht ein Forum zur Verfügung, das die Möglichkeit hat, sich über die mit dem Thema in Zusammenhang stehenden Probleme in der Beratungsarbeit auszutauschen. Ein weiterer Bestandteil des Internetportals sind die Seiten für Betroffene. Auf einer Deutschlandkarte sind viele spezialisierte Beratungsstellen vermerkt, an die sich die Mädchen und jungen Frauen wenden können. Für alle Beratungsstellen stehen Kontaktdaten zur Verfügung, so dass den Betroffenen schnell und effektiv geholfen werden kann. Durch die Verlinkung zur Frauenhauskoordinierung und zu einer europaweiten Seite soll das Angebot vervollständigt werden. Weiterhin wird auch auf die Onlineberatungsstellen verwiesen, sodass eine anonyme Beratung gewährleistet ist.


Unkompliziert und anonym

Ein so genannter Notausgang ermöglicht es den Betroffenen, in einer brenzligen Situation die Seite zu verlassen, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen. In den ersten Monaten nach der Freischaltung von www.zwangsheirat.de waren diese Informationsseiten am häufigsten besucht. Dies zeigt einen hohen Bedarf an Beratung zum Thema Zwangsheirat in Deutschland - sowohl vonseiten der Betroffenen als auch als Hilfestellung für die BeraterInnen, die so einen Überblick über alle Beratungsstellen mit Schwerpunkten und Öffnungszeiten etc. haben.

Neben Veranstaltungshinweisen gibt es auch die Möglichkeit, einen Newsletter zu bestellen, der in regelmäßigen Abständen über neue Entwicklungen in Bezug auf Gewalt im Namen der Ehre und Zwangsheirat informiert, Bücher bespricht und Interviews mit Expertinnen und Experten zeigt. Sowohl die Rückmeldungen von Menschen, die beruflich mit diesem Thema zu tun haben, als auch das Feedback, das durch die auf der Seite installierte Umfrage zurückkam, zeigt den Erfolg der Seite. Immer mehr Beratungsstellen und ExpertInnen melden sich bei TDF, um auf der Deutschlandkarte bzw. in das Fachnetzwerk aufgenommen zu werden. Zusätzlich soll ein ExpertInnenpool der Vermittlung von Fachkundigen - etwa für Schulungen und Podiumsdiskussionen oder ähnliche Informationsveranstaltungen - dienen.

So hat TDF eine Internetseite geschaffen, die sowohl präventiv arbeitet als auch Mädchen und jungen Frauen Hilfestellungen für ein selbstbestimmtes Leben gibt. Für die Zukunft ist der Aufbau eines Forums für Betroffene angedacht und die Ausarbeitung von MultiplikatorInnenschulungen. Dadurch erhofft sich TERRE DES FEMMES, die Situation von Mädchen und jungen Frauen noch nachhaltiger zu verbessern.


Zur Autorin:
Judith Kolbe hat Politikwissenschaft, Soziologie und öffentliches Recht in Frankfurt studiert. Zwischen Oktober 2008 und März 2009 war sie Praktikantin in der Geschäftsführung von TDF. Seit Juni 2009 leitet sie bei TDF das Referat "Gewalt im Namen der Ehre". Sie lebt in Tübingen.

Terre des Femmes
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Quelle:
Terre des Femmes in der Frauensolidarität Nr. 110, 4/2009, S. 22-23
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
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Telefax: 0043-(0)1/317 40 20-406
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http://www.frauensolidaritaet.org

Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
Einzelpreis: 5,- Euro;
Jahresabo: Österreich und Deutschland 20,- Euro;
andere Länder 25,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. März 2010