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BERICHT/085: Gegen Genitalverstümmelung in Sierra Leone (frauensolidarität)


Terre des Femmes in der frauensolidarität - Nr. 109, 3/09

Gegen Genitalverstümmelung in Sierra Leone
TERRE DES FEMMES unterstützt ein umfassendes Aufklärungsprojekt

Von Veronika Kirschner und Steffi Siegle


Seit Anfang Mai hat TERRE DES FEMMES ein neues Förderprojekt in Sierra Leone: Die Nichtregierungsorganisation Amazonian Initiative Movement (AIM) hat sich die Abschaffung der weiblichen Genitalverstümmelung (Female Genital Mutilation, kurz FGM) zum Ziel gemacht.


Heute leben knapp fünf Millionen Menschen im westafrikanischen Sierra Leone, das zu den ärmsten Ländern der Welt zählt. Mädchen und Frauen gehören zu den Hauptleidtragenden des elf Jahre andauernden Krieges, der 2002 für beendet erklärt wurde. Tausende Mädchen wurden als Sexsklavinnen missbraucht, über eine Viertelmillion Frauen wurden zu Vergewaltigungsopfern und zwei Millionen Menschen wurden vertrieben.

Nach Angaben von UNICEF sind 90% aller Frauen im Land genitalverstümmelt. Bis auf die christlichen Krios praktizieren alle Ethnien im Land FGM. Üblich ist in Sierra Leone die "Exzision", wobei den Mädchen Klitoris und kleine Schamlippen teilweise oder vollständig entfernt werden. FGM wird traditionell von Beschneiderinnen vorgenommen, die durch das Ausüben dieser Arbeit hohes Ansehen genießen. Mit Rasierklingen, Scherben oder Steinen werden den Mädchen ohne Betäubung ihre äußeren Genitalien abgeschnitten. Das Ritual steht für den Übergang eines Mädchens ins Leben der Erwachsenen und ist Voraussetzung für eine Heirat. Deshalb wird der Eingriff meist mit einem großen Fest zelebriert. Doch sinkt in letzter Zeit das Alter, in dem die Mädchen FGM unterzogen werden, immer mehr. Trotz enormer Verbreitung bleibt FGM ein absolutes Tabu-Thema.

Bis zu 50.000 Beschneiderinnen sind in Sierra Leone aktiv. Unterstützt und gefördert wird weibliche Genitalverstümmelung in erster Linie von den einflussreichen und im Land sehr aktiven Geheimbünden. Diese nach Geschlecht getrennten Geheimgesellschaften, "Bundu" für die Frauen und "Poro" für die Männer, sind hoch geachtet und Träger der Traditionen. FGM wird als Initiation in den Geheimbund der Frauen angesehen und beharrlich verteidigt. Bis heute müssen die Beschneiderinnen und die Mädchen Verschwiegenheit geloben, sonst droht ihnen der Zorn der Dämonen, wie man sagt. Ihre einflussreiche Stellung in der sierra-leonischen Gesellschaft demonstrierten Anhängerinnen des Bundu-Geheimbundes erst wieder Anfang des Jahres: am 6. Februar 2009, dem internationalen Tag "Null Toleranz gegen weibliche Genitalverstümmelung", als sie Journalistinnen nahe der Hauptstadt Freetown verschleppten, nachdem diese FGM in einem Radiointerview thematisiert hatten.

95% aller auf dem Land lebenden Frauen und bis zu 80% der Frauen in der Hauptstadt sind Mitglieder in Geheimbünden. Nichtmitglieder werden diskriminiert, ausgeschlossen, missachtet und bedroht. Legitimiert wird FGM durch die Tradition der eigenen Vorfahren. Über die gravierenden Folgen der Praktik, vom Verbluten kurz nach dem Eingriff, über lebenslange Entzündungen im Genitalbereich und schwere Komplikationen bei Geschlechtsverkehr und Geburt, wird unter AnhängerInnen kein Wort verloren. Stirbt ein Mädchen während des Eingriffs, dann wird dies als Wille einer höheren Macht interpretiert. Bislang gibt es kein landesweites Gesetz, das FGM verbietet. PolitikerInnen fürchten meist um WählerInnenstimmen und sprechen sich sogar immer wieder für Genitalverstümmelung aus. Kürzlich wurde jedoch das so genannte "Child Rights Act" überarbeitet. Nach bislang unbestätigten Berichten sieht es vor, FGM bei Mädchen unter 18 Jahren zu verbieten.


Die Arbeit von AIM

Nach ihrer Rückkehr aus dem Kriegsexil im Nachbarland Guinea gründete die Frauenrechtlerin Rugiatu Neneh Turay zusammen mit Gleichgesinnten im Jahre 2003 die Organisation AIM. Durch ihre engagierte Arbeit und ihr politisches Engagement ist Rugiatu mittlerweile eine bekannte Frau im Umkreis der sierra-leonischen Kleinstadt Lunsar (80 Kilometer östlich der Hauptstadt Freetown), in der AIM ihren Hauptsitz hat. Rund 30 Frauen und Männer arbeiten in Teil- und Vollzeitbeschäftigung für die Organisation in mittlerweile fünf Büros in der Region. Das Team im Hauptbüro in Lunsar setzt sich aus rund einem Dutzend MitarbeiterInnen zusammen. Im Laufe des letzten Jahres hat AIM drei weitere Büros eröffnet. Außerdem engagieren sich zahlreiche ehrenamtliche HelferInnen bei AIM. Als die Organisation 2003 die Arbeit aufnahm, brach sie ein Tabu, weil sie öffentlich über weibliche Genitalverstümmelung sprach. Mittlerweile ist das Wissen um die negativen Folgen in der Bevölkerung deutlich gestiegen. Der Name Amazonian Initiative Movement bleibt dennoch aktuell, denn ein Engagement der "Amazonen" erfordert nach wie vor Mut und Durchhaltevermögen. MitarbeiterInnen von AIM werden immer wieder von FGM-BefürworterInnen massiv unter Druck gesetzt oder bedroht.

Die Arbeit der Organisation ist sehr breit angelegt. Möglichst alle an Genitalverstümmelung beteiligten AkteurInnen sollen in die Sensibilisierungs- und Aufklärungsarbeit einbezogen werden. Dies bedeutet, dass AIM sowohl Beschneiderinnen als auch Kinder und Jugendliche, deren Eltern sowie auch LehrerInnen, Gesundheitspersonal, politische und administrative AmtsträgerInnen und religiöse FührerInnen als Zielgruppe berücksichtigt.


Was sind die Erfolge?

Ende 2007 startete AIM gemeinsam mit PLAN Sierra Leone und Deutschland und einer anderen lokalen NGO das dreijährige Sensibilisierungsprogramm "Breaking the Silence", bei dem in 40 so genannten Chiefdoms Sensibilisierungs- und Aufklärungskampagnen zum Tabuthema FGM durchgeführt wurden. Ein weiteres Projekt war an ehemalige Beschneiderinnen gerichtet. AIM bot Beschneiderinnen, die bereit sind, ihr Handwerk niederzulegen und der Praxis öffentlich abgeschworen haben, eine Einkommensalternative durch Bildung. Die Frauen, die sich verpflichteten, FGM aufzugeben, nahmen an Alphabetisierungs- und Landwirtschaftskursen der örtlichen Berufsschule teil und bekamen nach Abschluss der sechsmonatigen Ausbildung Lebendvieh überreicht, um sich eine neue Existenz aufzubauen. Es gab bereits zwei Kurse, bei denen insgesamt etwa 40 Ex-Beschneiderinnen geschult wurden. Viele engagieren sich heute als Aktivistinnen für AIM und nehmen an Sensiblisierungsveranstaltungen teil. AIM plant, das Projekt weiterzuführen, wenn die entsprechende Finanzierung zur Verfügung steht.Für Kinder und Jugendliche konzipierte AIM ein Menschenrechtsseminar, das zunächst in zwei Sekundarschulen in Lunsar und dann auch in anderen Schulen durchgeführt wurde. Vor allem junge Menschen sind wichtige AkteurInnen des sozialen Wandels und müssen über ihre Rechte aufgeklärt werden. Dennoch reicht das Wissen um die eigenen Rechte gerade in einer Gesellschaft wie der Sierra Leones nicht aus als Schutz vor einer tief verwurzelten Praxis wie FGM. Die aufgeklärten Jugendlichen können sich meist dem Druck ihrer Familien nicht widersetzen und sich nicht gegen die eigene Beschneidung wehren.

Ein wichtiges Projekt, das AIM nun mit Unterstützung von TERRE DES FEMMES ansteuert, ist daher die Errichtung eines "Safe House". Hier sollen Mädchen und Frauen, denen FGM droht, einen sicheren Zufluchtsort finden.


Unterstützen Sie AIM

Mit Ihrer Spende an das TERRE-DES-FEMMES-Projekt AIM in Sierra Leone unterstützen Sie die Finanzierung eines "Safe House". Die Zufluchtsstätte soll im Dorf Masetheleh gebaut werden, rund zwei Kilometer von Lunsar entfernt. Masetheleh war eines der ersten Dörfer, in dem Beschneiderinnen nach AIM-Initiativen FGM öffentlich abschworen. Ziel dieses "Safe House" ist es, Mädchen und Frauen, die aufgrund drohender Genitalverstümmelung vor ihren Familien geflohen sind, einen sicheren Ort zu bieten, an dem sie unversehrt aufwachsen können. Betreut werden sollen sie dort durch qualifizierte SozialarbeiterInnen. In diesem Safe House soll auch Rechtsberatung und psychologische Betreuung angeboten werden. Auch sollen Treffen zum Austausch der Mädchen mit ehemaligen Beschneiderinnen stattfinden, um einen Dialog zum Thema FGM zu ermöglichen. Weiters werden Workshops und Seminare durchgeführt. Zudem soll auch der Dialog mit den Eltern gesucht werden, damit die Mädchen in der Obhut ihrer Familien unversehrt aufwachsen können. Über Fortschritte und Neuigkeiten der AIM-Projekte können Sie sich jederzeit auf unserer Homepage unter www.frauenrechte. de informieren.


Veronika Kirschner hat Politik und Verwaltungswissenschaft studiert und war mit dem Nachwuchsförderprogramm des DED ein Jahr in Äthiopien. Zusammen mit Dörte Rompel ist sie ehrenamtliche Projektkoordinatorin für AIM.
Steffi Siegle hat einen Masterabschluss im Bereich "action humanitaire" gemacht und war von Januar bis Juni 2009 Praktikantin im Referat "Genitalverstümmelung" von TDF.

Terre des Femmes
Menschenrechte für die Frau e. V.
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Quelle:
Terre des Femmes in der Frauensolidarität Nr. 109, 3/2009, S. 22-23
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
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Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
Einzelpreis: 5,- Euro;
Jahresabo: Inland 20,- Euro; Ausland 25,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. November 2009