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ASIEN/009: Aserbaidschan - Zunehmende Repressionen vor Parlamentswahl im November (ROG)


Reporter ohne Grenzen e.V.
Deutsche Sektion von Reporters sans frontières

Pressemitteilung vom 26. Oktober 2010

Neuer Bericht zur Lage der Medien in Aserbaidschan:
Zunehmende Repressionen vor Parlamentswahl im November


26.10.2010 - Im Vorfeld der Parlamentswahl in Aserbaidschan am 7. November haben Reporter ohne Grenzen (ROG) sowie acht weitere Nichtregierungsorganisationen einen neuen Bericht mit dem Titel "Free Expression under Attack: Azerbaijan's Deteriorating Media Environment" ("Angriffe auf die Meinungsfreiheit: Verschlechterung des Medienumfelds in Aserbaidschan") veröffentlicht. Die in dem Bericht dokumentierten Erkenntnisse wurden im Rahmen einer Untersuchungsmission des NGO-Bündnisses gewonnen. Vertreter der neun Organisationen besuchten das Land vom 7. bis 9. September, um sich über die Lage der Meinungsfreiheit zu informieren. Die Ergebnisse ihrer Recherchen machen deutlich, dass die aserbaidschanische Regierung ihren internationalen Verpflichtungen zur Förderung und zum Schutz der freien Meinungsäußerung nicht nachkommt.

"Diejenigen, die in Aserbaidschan Journalisten angreifen oder schikanieren, tun dies in dem Wissen, dass sie straffrei ausgehen. Die Tatsache, dass die Behörden keine gründlichen Ermittlungen zur Aufklärung der Verbrechen durchführen, trägt erheblich zum derzeit herrschenden Klima der Angst und Einschüchterung bei", erklärte Agnes Callamard, geschäftsführende Direktorin von ARTICLE 19.

Die zunehmende Einschränkung der freien Meinungsäußerung in Aserbaidschan ist die Folge besorgniserregender Entwicklungen, wie etwa die anhaltende Praxis, Journalisten und Blogger aufgrund von kritischen Meinungsäußerungen zu inhaftieren. Mit Sorge beobachten die Organisationen außerdem regelmäßige Übergriffe gegen Journalisten, bei denen die Täter straffrei bleiben sowie den Fortbestand der strafrechtlichen Bestimmungen zu "Verleumdung" und "Beleidigung" im aserbaidschanischen Recht. Die Gesetze sind ein Mittel, um Regierungskritiker einzuschüchtern und zu verfolgen. Diese Entwicklungen sind gerade im Vorfeld der für den 7. November 2010 geplanten Parlamentswahl äußerst beunruhigend.

"Es gibt wenige Anzeichen - wenn überhaupt - für die Entstehung einer freien Presse, die ein wesentliches Fundament einer jeden demokratischen Gesellschaft ist", sagte Rodrigo Bonilla, Koordinator der Mission beim Weltverband der Zeitungen und Nachrichtenmedien (WAN-IFRA). "Stattdessen versucht eine Handvoll unabhängiger Medien, in einem allgegenwärtigen Klima der Einschüchterung und Angst zu überleben, finanziell angeschlagen und mit unbedeutenden Leserzahlen. Es sind dringend drastische Reformen erforderlich", so Bonilla weiter.

Ein Redakteur berichtete gegenüber Vertretern des NGO-Bündnisses, dass er mittlerweile nicht mehr sagen könne, wie oft er schon bedroht oder angegriffen worden sei. Wie ein weiterer Journalist erklärte, ist "das Leben jedes Bürgers oder Journalisten, der Freiheit beansprucht, ständig bedroht". In den Regionen außerhalb der Hauptstadt ist die Situation für Journalisten noch gravierender. Sie sind regelmäßig Gewalt und Drohungen ausgesetzt und die meisten Fälle werden nicht gemeldet.

"Bemühungen um den Aufbau des nötigen Umfeldes für eine glaubwürdige und professionelle journalistische Arbeit werden systematisch untergraben - durch politische Einmischung und Kontrolle über die Medien, katastrophale Arbeitsbedingungen und einen grundsätzlichen Mangel an Wertschätzung für die Rolle eines unabhängigen Journalismus in einer demokratischen Gesellschaft", erklärte Oliver Money-Kyrle, Stellvertretender Generalsekretär der Internationalen Journalisten-Föderation IJF.

Die missbräuchliche Anwendung des Strafrechts in Aserbaidschan, um kritische Medienschaffende zum Schweigen zu bringen, zeigt sich in dem Fall des inhaftierten Journalisten Eynulla Fatullajew besonders drastisch. Fatullajew wurde im Jahr 2007 aufgrund verschiedener Veröffentlichungen zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. ROG hat sich an den Anwaltskosten von Fatullajew beteiligt und dessen Familie finanziell unterstützt.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) forderte die aserbaidschanische Regierung ausdrücklich auf, Fatullajew freizulassen. In einem gemeinsamen Brief vom 22. Oktober an den Staatspräsidenten des vorderasiatischen Landes Ilham Alijew forderte das NGO-Bündnis die aserbaidschanische Regierung auf, das Urteil des EGMR umzusetzen.

Die Organisationen appellieren zudem für die Freilassung der beiden inhaftierten Blogger Emin Milli und Adnan Hajisade. Die beiden Internetaktivisten wurden zu 30 beziehungsweise 24 Monaten Haft verurteilt und werden derzeit ebenfalls von ROG unterstützt: "Blogger stehen zusammen mit Journalisten im Kampf für Meinungsfreiheit in Aserbaidschan ganz vorne. Sie geben Ihr Bestes, um ihre Mitbürger mit Informationen zu versorgen und Missstände ans Licht zu bringen", sagt Lucie Morillon, Leiterin des Referates "Neue Medien" bei Reporter ohne Grenzen. Milli und Hajisade seien wegen falscher Anschuldigungen verurteilt worden und müssten umgehend freigelassen werden.

Der Bericht schließt mit Empfehlungen des NGO-Bündnisses an die aserbaidschanischen Behörden für konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Meinungsfreiheit. Dazu zählt die Untersuchung und Verfolgung aller Gewaltakte gegen Journalisten, die sofortige und bedingungslose Freilassung aller derzeit inhaftierten Journalisten und Blogger sowie die Entkriminalisierung von Delikten wie "Verleumdung" und "Beleidigung".

"Die Regierung sollte in Kooperation mit internationalen Organisationen, zwischenstaatlichen Einrichtungen, örtlichen Medien und Bürgerrechtsgruppen sofortige Maßnahmen einleiten, um unabhängige Medien zu stärken, das Klima der Selbstzensur zu beenden und den Dialog zu fördern", erklärte Rovshan Bagirov vom Open Society Institute Azerbaijan.

Die neun an dem Bericht beteiligten Organisationen haben sich vor einigen Monaten zur "Internationalen Partnerschaftsgruppe für Aserbaidschan" zusammengeschlossen, um internationale Aufmerksamkeit auf die Verstöße gegen Presse- und Meinungsfreiheit in dem vorderasiatischen Land zu lenken. Bei ihrem Besuch im September in Aserbaidschan trafen die NGO-Vertreter mit Journalisten und anderen Medienvertretern zusammen, sprachen mit Opfern von gewalttätigen Übergriffen und Familienangehörigen inhaftierter Journalisten und kamen mit Bürgerrechtlern und Regierungsvertretern zusammen. Der Partnerschaftsgruppe gehören folgende Organisationen an: ARTICLE 19; Freedom House; Index on Censorship; Internationale Journalisten-Föderation; Media Diversity Institute; Open Society Foundations; Press Now; Reporter ohne Grenzen sowie der Weltverband der Zeitungen und Nachrichtenmedien (WAN-IFRA).

Lesen Sie hier den 30-seitigen Bericht "Free Expression under Attack: Azerbaijan's Deteriorating Media Environment":
http://bit.ly/ROG_Aserbaidschan

Lesen Sie hier den Brief der Internationalen Partnerschaftsgruppe an den aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew:
http://bit.ly/Brief_Alijew


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Quelle:
Pressemitteilung, 26.10.2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Oktober 2010