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INTERVIEW/137: Mahlzeit kalt - Wohnflächenschwund ...    Bettina Reuter im Gespräch (SB)


Gespräch am 20. Oktober 2017 in Hamburg


Die Sozialarbeiterin Bettina Reuter ist Vorsitzende der Ambulanten Hilfe Hamburg e.V. [1] und in der Beratungsstelle Altona tätig. Als Sprecherin des Hamburger Aktionsbündnisses gegen Wohnungsnot [2] eröffnete sie das "Cold Dinner" [3] am 20. Oktober auf dem Fischmarkt. Am Rande dieser Zusammenkunft von mehr als 250 größtenteils obdachlosen Menschen beantwortete sie dem Schattenblick einige Fragen zu den Gründen der Wohnungsnot in der Hansestadt und den offensichtlich unzureichenden Maßnahmen der Hamburger Wohnungspolitik.


Mit Megaphon bei der Ansprache - Foto: © 2017 by Schattenblick

Bettina Reuter
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Wie kam die Idee zustande, ein "Cold Dinner" zu organisieren, das sich eines recht ungewöhnlichen Namens bedient?

Bettina Reuter (BR): Die Idee kam uns im Sommer, als diese "White Dinner" beworben wurden. Wir haben uns gesagt, da wir ja immer zu Beginn des Winternotprogramms eine Veranstaltung machen wollen, könnten wir sie doch "Cold Dinner" nennen, weil die Jahreszeit entsprechend ist.

SB: An der Veranstaltung haben sich zahlreiche Träger und Organisationen beteiligt. Wie ist es gelungen, ein derart breites Bündnis auf die Beine zu stellen?

BR: Dieses breite Bündnis gibt es schon seit 2010. Damals haben wir uns zum ersten Mal zusammengetan und als Hamburger Aktionsbündnis gegen Wohnungsnot eine "Nacht der Wohnungsnot" organisiert. Seitdem machen wir das zweimal im Jahr, immer zu Beginn und zum Ende des Winternotprogramms mit verschiedenen Aktionen.

SB: Sie haben in Ihrem Redebeitrag auf die Wohnungsnot in Hamburg hingewiesen. Könnten Sie etwas dazu sagen, wie es gekommen ist, daß im Verhältnis zum wachsenden Bedarf immer weniger Wohnraum für Menschen mit geringem Einkommen zur Verfügung steht?

BR: Es wurden viele Jahre in Hamburg überhaupt keine Neubauwohnungen geschaffen und schon gar keine Sozialwohnungen. Statt dessen gehen die vorhandenen Sozialwohnungen nach zehn oder fünfzehn Jahren aus der Sozialbindung heraus, so daß die Vermieter normale Mieten für ihre Wohnungen nehmen können. Wenn dann keine neuen Sozialwohnungen gebaut werden, wird der Bestand zwangsläufig immer geringer. Jetzt sind wir auf einem absoluten Tiefstand, was diese Sozialwohnungen betrifft. Es sind nur noch etwa 80.000 in Hamburg vorhanden.

SB: Hamburg hat ein Neubauprogramm aufgelegt, das aber offensichtlich nicht ausreicht.

BR: Genau. Es werden ungefähr 10.000 Wohnungen im Jahr neu gebaut, wovon ein Drittel Sozialwohnungen sein sollen. Wir wissen nicht genau, ob diese Vorgabe tatsächlich eingehalten wird, aber ein Drittel wären dann auch nur etwa 3500 Wohnungen, während wir pro Jahr 8000 bis 10.000 Wohnungen für Menschen bräuchten, die ein geringes Einkommen haben und deshalb auf Sozialwohnungen angewiesen sind.

SB: Es gab 2005 ein Bündnis der SAGA mit privaten Anbietern und dem Senat, das eine bestimmte Anzahl von Sozialwohnungen bereitstellen wollte, sein selbstgestecktes Ziel aber nie erreicht hat.

BR: Das ist schon sehr lange her. Seit zwei, drei Jahren gibt es wieder eine Übereinkunft, aus der, wie gesagt, hervorging, daß die Neubauwohnungen zu einem Drittel als Sozialwohnungen ausgewiesen werden sollen.

SB: Bezieht sich dieses Drittel auf die Anzahl der Wohnungen oder auf die Wohnfläche?

BR: Das ist ein gutes Stichwort. Dieses Drittel bezieht sich lediglich auf die Anzahl der Sozialwohnungen. Die Grundfläche der normalen Mietwohnungen ist jedoch viel größer als die Fläche der neuen Sozialwohnungen, die daher einen geringeren Prozentsatz als offiziell ausgewiesen ausmachen.

SB: Ich habe gelesen, daß jedes Jahr etwa 10.000 Menschen neu in Hamburg zuziehen. Das würde bedeuten, daß das Hamburger Neubauprogramm gerade eben diesem Zuzug entspricht und damit die bestehende Wohnungsnot gar nicht verringert.

BR: Überhaupt nicht. Und selbst wenn es einige Jahre keinen weiteren Zuzug nach Hamburg gäbe, würde das Wohnungsprogramm hinten und vorne nicht reichen. Die 3500 jährlich geschaffenen Sozialwohnungen sind viel zu wenig. Hinzu kommt der Abriß von alten Häusern, in denen sich bislang Sozialwohnungen befunden haben. An deren Stelle werden dann neue Häuser gebaut, für die wieder diese Drittelregelung gilt. Es fallen also nicht nur durch auslaufende Sozialbindung, sondern auch durch den Abriß viel mehr Sozialwohnungen weg, als neu geschaffen werden.

SB: Politik und Immobilienwirtschaft haben lange die These vorgehalten, daß bei Schaffung neuer Wohnungen eine Art Durchsickern von oben nach unten stattfände, so daß auch Wohnraum für ärmere Menschen frei würde. Was ist von dieser Vorstellung zu halten?

BR: Das ist eine schöne Theorie, von der wir praktisch nichts erleben. Beispielsweise hat die Zahl der Single-Haushalte in den letzten Jahren erheblich zugenommen. Wird eine große Wohnung frei, kann sich jemand, der gut verdient, auch eine solche Wohnfläche leisten. Insofern tritt der Sickereffekt in der Realität auch aus diesem Grund kaum in Erscheinung.

SB: Welche Flächen werden denn in Hamburg überhaupt für den Neubau von Wohnungen freigegeben?

BR: Beispielsweise ist gerade in der Presse berichtet worden, daß sich die Stadt überlegt, an sehr vielen Hauptstraßen die Grünflächen zuzubauen. Wenn ich mir vorstelle, daß die Straßenschluchten zunehmen, weil die Häuser immer dichter und höher gebaut werden, sehe ich neue Probleme für das Klima in der Stadt heraufziehen. Die relativ vielen Grünflächen, für die Hamburg bekannt ist, sind sehr sinnvoll, weil dadurch die Luft gut zirkulieren kann. Ich glaube, daß wir ein großes Umweltproblem bekommen werden, wenn die Bebauung auf diese Weise vorangetrieben wird.

SB: Theoretisch müßte die städtische Wohnungsgesellschaft SAGA eigentlich dafür zuständig sein, den sozialen Wohnungsbau zu tragen und eine ausreichende Versorgung sicherzustellen. Nun ist die SAGA aber offenkundig ein profitorientiertes Unternehmen, das dementsprechende Prioritäten setzt.

BR: Die SAGA wird in der Tat mehr und mehr zu einem reinen Profitunternehmen. Sie hat als städtisches Unternehmen den Auftrag, die Sozialwohnungen in Hamburg zu bauen. Sie hat aber auch den Auftrag, Geld für den Haushalt der Hansestadt zu verdienen, und errichtet dementsprechend Wohnungen für gut verdienende Leute. Das geht natürlich nicht auf. Da müßte die Stadt viel stärker daran arbeiten, daß die SAGA ausschließlich für den Bau von Sozialwohnungen zuständig ist. Andere Wohnungen werden genug gebaut.

SB: Welche Menschen kommen denn vorwiegend bei einer Veranstaltung wie dem heutigen "Cold Dinner" zusammen?

BR: Viele sind obdachlos, viele kommen aus der näheren Umgebung, in der ich mich bewege, so daß ich zahlreiche bekannte Gesichter sehe. Ich finde, es ist eine gute Mischung hier.

SB: Es sind ja trotz des Wetters eine ganze Menge Leute gekommen.

BR: Ja, darüber freuen wir uns, denn wir hatten zwischendurch schon Bedenken, als es zu regnen begann.

SB: Frau Reuter, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnoten:

[1] http://www.wohnungslose.de

[2] https://www.diakonie-hamburg.de/de/presse/pressemitteilungen/COLD-DINNER-Hamburger-Aktionsbuendnis-gegen-Wohnungsnot-protestiert-gegen-fehlende-Wohnungen-und-Unterkuenfte-fuer-Obdachlose

[3] Siehe dazu:
BERICHT/098: Mahlzeit kalt - ein sicherer Platz und ein Bett für jeden ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0098.html
INTERVIEW/138: Mahlzeit kalt - unter Obdachlosen allein ...    Udo im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0138.html

13. November 2017


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