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INTERVIEW/063: Aufbruchtage - Mut zum großen Wandel ...    Hans Thie im Gespräch (SB)


Bruch des Wachstumskonsenses mehrheitsfähig?

Interview am 4. September 2014 in Leipzig



Dr. Hans Thie ist Wirtschaftsreferent der Fraktion Die Linke im Bundestag. In seinem Buch "Rotes Grün. Pioniere und Prinzipien einer ökologischen Gesellschaft" plädiert er für eine Verbindung sozialer und ökologischer Fragen, die nichts Geringeres als eine Veränderung der Wirtschaftsordnung erfordert, um soziale Gerechtigkeit ohne die Zerstörung der Lebensgrundlagen von Mensch und Natur zu realisieren. Nach der Vorstellung seines von der Rosa Luxemburg Stiftung veröffentlichten Buches im Rahmen der Internationalen Degrowth-Konferenz in Leipzig beantwortete Hans Thie dem Schattenblick einige Fragen zur Positionierung der Partei Die Linke im Spektrum der Postwachstumsdebatte.

Beim Vortrag in der Volkshochschule Leipzig - Foto: © 2014 by Schattenblick

Hans Thie
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Herr Thie, inwiefern ist die Partei Die Linke mit dem Konzept des Postwachstums und der damit einhergehenden Notwendigkeit einer ökologisch sinnvollen Einhegung der industriellen Produktivität befaßt?

Hans Thie: Wir haben in der Bundestagsfraktion Die Linke vor drei Jahren eine ressortübergreifende Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, die sich Plan B nennt und im Prinzip ein rotes Projekt für einen sozialökologischen Umbau darstellt. Mit einer Reihe von Kollegen, aber auch Bundestagsabgeordneten haben wir ein halbes Jahr daran gearbeitet, zunächst einige Grundsätze aufzustellen wie beispielsweise mehr Kooperation, weniger Konkurrenz im Wirtschaftsleben, eine größere Rolle der öffentlichen Hand und eine stärkere Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von oben nach unten wie auch eine konsequente Arbeitszeitreduzierung. Das Ziel all dieser Punkte ist, für Angstfreiheit im Wandel zu sorgen. Das heißt, wir haben auf Bundesebene angeregt, den Menschen mehr Existenzsicherheit zu geben, um damit die Bereitschaft zu erhöhen, neue Pfade der gesellschaftlichen Veränderung zu gehen. Für die vier wichtigen Sektoren Industrie, Energie, Verkehr und Agrar, die besonders ressourcen- und energieintensiv sind, haben wir eine Perspektive 2050 aufgestellt, wie die Entwicklungstendenzen sein müßten, um zu einem drastisch reduzierten Energie- und Ressourcenverbrauch zu kommen. Das Wort Postwachstum stand in diesem Papier nicht explizit drin, aber faktisch handelt es sich um eine Postwachstumsperspektive.

SB: Die Linkspartei steht unter dem Druck, im sozialdemokratischen Modell Sorge dafür zu tragen, daß genügend Staatseinkünfte eingenommen werden, um die Sozialleistungen aufrechtzuerhalten. Ist sie damit in ihrer politischen Handlungsfähigkeit nicht im Grunde genommen an die Wachstumsdoktrin gebunden?

HT: Mehrheitlich wird in der Partei die Auffassung vertreten, auf der Grundlage einer funktionierenden und florierenden, gewissermaßen auf Hochtouren laufenden Wirtschaft dafür zu sorgen, daß eine infrastrukturell gut ausgebaute Sozialpolitik, aber auch der Umbau in dem einen oder anderen Bereich möglich ist. Aber diese notwendigen Veränderungsprozesse, sei es in der Infrastruktur oder in der Ausrichtung privatwirtschaftlicher Strukturen, werden sozusagen als abhängige Variablen zu einem Wirtschaftswachstum gesehen. Zu dieser Mehrheitsauffassung gibt es mittlerweile eine beträchtliche und auch relevante Minderheit, die davon ausgeht, daß man die Veränderung von Verteilungsstrukturen, ob nun bei den Einkommen oder beim Vermögen, von vornherein organisch mit dem Umbau derselben verbinden muß.

SB: Glauben Sie, eine solche Transformation so attraktiv gestalten zu können, um auch im Sinne erforderlicher Mehrheiten Wählerstimmen anzuziehen?

HT: Ich glaube durchaus, daß man mit einer anderen Herangehensweise an die traditionellen Politikfelder Soziales, Steuern, Wirtschaft die nötigen Veränderungsschritte attraktiv machen und dafür auch Stimmen erhalten kann. Für die Umstrukturierung muß die Wirtschaft nicht einmal boomen. Nehmen wir als Beispiel einmal den Automobilsektor, der im Zuge dessen vom individuellen Pkw weg und zu einem ausgebauteren öffentlichen Nahverkehr mit dann hoffentlich insgesamt weniger Verkehr hin orientiert wird. Natürlich muß man dann vor Ort auch konkrete Politikangebote machen. So sind zum Kongreß in Leipzig 3000 vor allem junge Menschen hingekommen, um sich auszutauschen, Ideen auszuprobieren oder einfach Vorträge anzuhören. Die Veränderungsbereitschaft und das Wissen um die Veränderungsnotwendigkeit werden in der Bevölkerung häufig unterschätzt. Nicht selten haben die politischen Parteien, darunter auch Die Linke, eine konservative Auffassung von dem, was den Bürgern durch den Kopf geht. Jedenfalls entspricht sie oft der mentalen Realität breiter Bevölkerungskreise nicht mehr.

SB: Wie gedenken Sie mit der politischen Konkurrenz durch die Grünen umzugehen, die ein grünes Wachstum propagieren, was vielen Menschen erst einmal das gute Gefühl gibt, etwas für die Umwelt und gegen den Klimawandel zu tun?

HT: Wenn man den Gedanken im Kopf hat, daß Grüne, Sozialdemokraten und Linke irgendwann einmal zusammenkommen, um einen ernsthaften Reformversuch in der Gesellschaft anzustoßen, dann wären dazu in allen drei Lagern Veränderungen notwendig. Bei den Linken steht die Ökologisierung unserer Politikvorstellung zwar im Zentrum, aber dennoch hat sie meines Erachtens gerade erst begonnen. Was bei den Grünen in den 80er Jahren noch voll in ihrer Programmatik und auch in ihrem Handeln lag, nämlich daß die ökologische Frage immer auch eine gesellschaftliche Frage ist, haben sie inzwischen weitgehend aufgegeben. Bei den Grünen wäre sozusagen eine Sozialisierung notwendig, während es bei der Linken eine Ökologisierung geben muß. Was für die Linken gilt, gilt in ähnlicher Weise auch für die Sozialdemokraten. Gegenwärtig, aber auch für 2017, ist nicht absehbar, daß daraus eine Konstellation entstehen könnte, die sich für tiefgreifende positive Reformen einsetzt.

SB: Momentan herrscht eine schwerwiegende Krise in den Beziehungen zu Rußland, die nicht zuletzt auch das Wachstumsthema tangiert, weil die Ukraine ein Transitland für wichtige Ressourcen wie zum Beispiel Gas ist. Darüber hinaus besitzt die Ukraine wertvolle Ackerböden und könnte als potentieller Handelspartner für die Ernährungssicherheit Europas eine nicht unwesentliche Rolle spielen. Müßte bei der Propagierung des Postwachstums nicht auch in diese Richtung gedacht werden?

HT: Daß die Situation in der Ukraine mit Wachstumsproblematiken zusammenhängt, ist für mich vollkommen klar. Denn die EU und insbesondere die Amerikaner sind darauf angewiesen, ihre Ressourcenzuflüsse zu sichern, wenn sie bei ihrem gegenwärtigen Wirtschaftsmodell bleiben. Und die Bedeutung der Ukraine für den Westen muß man zum Teil auch unter diesem Gesichtspunkt sehen. Im Vordergrund dürfte momentan jedoch der Versuch stehen, den westlichen Einflußbereich weiter nach Osten zu verschieben und dem Störfaktor Rußland seine Grenzen aufzuzeigen. Es gibt das Argument, daß die Ostukraine vor allen Dingen hinsichtlich des Frackings für den Westen interessant ist, aber daß dies gegenwärtig das handlungsleitende Motiv ist, glaube ich nicht.

SB: Und hinsichtlich der Ernährungsproblematik?

HT: Sicherlich wird der eine oder andere darauf blicken, daß insbesondere in der Westukraine fruchtbare Böden von beträchtlicher Größe vorhanden sind. Die Ukraine wurde früher die Kornkammer Osteuropas genannt. Wie in anderen Regionen der Welt wird auch in der Ukraine versucht, auf die Bodenfruchtbarkeit Zugriff zu bekommen, weil man weiß, daß Biogüter in näherer Zukunft sehr umkämpfte Güter sein werden. Inwieweit das im einzelnen das politische und militärisch-strategische Handeln bestimmt, ist nicht immer so einfach auseinanderzunehmen. Ich warne immer vor der allzu schnellen Verknüpfung: Das ist der Grund A und das ist das Handeln B. Daß das eine unmittelbar aus dem anderen folgt, glaube ich eher nicht.

SB: Herr Thie, vielen Dank für das Gespräch.

Hans Thie bei der Buchvorstellung - Foto: © 2014 by Schattenblick

Nationale Umverteilung als Lösung für ein weltweites Problem?
Foto: © 2014 by Schattenblick

PDF-Version des Buches "Rotes Grün" von Hans Thie:
http://www.rosalux.de/publication/39552/rotes-gruen.html


Bisherige Beiträge zur Degrowth-Konferenz in Leipzig im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT:

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