Schattenblick →INFOPOOL →BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT

INTERVIEW/039: Flucht der Fremden - Interventionspflicht, Matthäus Weiß im Gespräch (SB)


Interview im Hamburger Museum für Völkerkunde am 20. November 2013



Am 20. November fand im Hamburger Museum für Völkerkunde die Auftaktveranstaltung des Menschenrechtssalons statt, die unter dem Thema "Eines Rechtsstaates nicht würdig - Diskriminierung und Abschiebung der Roma und Sinti" stand. Auf Einladung der Kirchlichen Hilfsstelle für Flüchtlinge "fluchtpunkt", des Ida Ehre Kulturvereins und des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins informierten Experten über den rechtlichen, historischen und politischen Hintergrund der Problematik. Zu den Diskutanten auf dem Podium gehörte auch Matthäus Weiß, der 1. Landesvorsitzende mit Schwerpunkt Europaarbeit beim Verband Deutscher Sinti und Roma e. V. Landesverband Schleswig-Holstein. Nach der Veranstaltung beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen.

Herr und Frau Weiß stehend - Foto: © 2013 by Schattenblick

Matthäus Weiß und Ehefrau
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Herr Weiß, was würden Sie den Menschen in der gegenwärtigen Situation gerne sagen? Was wäre Ihre wichtigste Botschaft an Mitmenschen, die Ihre Geschichte nicht kennen, die vielleicht zum ersten Mal überhaupt in Berührung mit dem Schicksal der Sinti und Roma kommen?

Matthäus Weiß: Mit Blick auf die meisten Menschen, die zum ersten Mal mit der Lebensgeschichte der Sinti und Roma in Berührung kommen, wird es schwierig sein, etwas zu vermitteln. Die letzten zehn Jahre haben im Grunde gezeigt, daß die Mehrheit der Bundesbürger nichts gelernt hat, was die Vergangenheit betrifft. Es mag daran liegen, daß die Eltern, Großeltern, Onkel und Tanten nicht darüber gesprochen haben. Aber wenn man Rundfunk, Fernsehen und Presse tagtäglich hört, sieht oder liest und erfährt, was mit den Menschen in Jugoslawien, Kosovo, Ungarn geschieht - in Bulgarien, wo die Menschen auf der Straße gejagt und auch geschlagen werden, ist es besonders schlimm -, muß man sich doch fragen, warum das so ist und gerade dieser Bevölkerungsgruppe widerfährt. Wenn jeder, der offen durchs Leben geht, auch offen für sein Gegenüber ist, dann haben wir schon ein Stück dessen erreicht, was wir im Grunde anstreben. Daß die Menschen einander in die Augen schauen können, ohne den anderen zu verurteilen, und einfach nur den Menschen sehen, egal wie er aussieht, was er ist und was er hat. Dann sind wir auf dem richtigen Weg.

Eine Empfehlung: Man muß auf sein eigenes Leben schauen, wie es einem selber geht, man muß aber auch über seine Grenzen hinausschauen, wie es den anderen geht. Was kann und was will ich ändern? Wenn wir nur schauen und hören, aber nicht den Willen haben, auch etwas zu ändern an diesen Elendssituationen, die es ja gibt, dann machen wir uns ganz einfach mitschuldig. Wir schieben immer alles auf die Politik, aber nur die Politik allein kann es auch nicht richten. Sie kann dafür sorgen, daß sich das eine oder andere ändert, gerade was die Menschenrechte betrifft. Aber wir als Mehrheitsbevölkerung können unseren Teil dazu beitragen.

SB: Sie haben vorhin in der Diskussion angesprochen, daß da Entwicklungen stattfinden, die nicht nur aus Gleichgültigkeit geschehen, sondern die auch so gewollt sind.

MW: Man kann zu gar keinem anderen Schluß kommen, wenn man in den betreffenden Ländern war. Ich war dort und habe von vielen Menschen gehört, daß diese Verfolgung den Tatsachen entspricht, aber die meisten Leute sagten mir das nur hinter vorgehaltener Hand. Solange die Staaten nicht dafür sorgen, daß dort die Menschenrechte eingehalten werden, solange wird dieses Elend bestehen. Und zu diesen Staaten gehört auch die Bundesrepublik Deutschland. Wenn ein Hartz-IV-Empfänger mit Sanktionen bestraft wird, weil er einmal nicht bei der Arbeitsagentur erschienen ist oder etwas getan hat, was er nicht durfte, dann entzieht man ihm seinen Lebensunterhalt. Warum gibt es keine entsprechenden Sanktionen für diese Länder, in denen die Roma verfolgt werden? Und zwar so drastisch, daß die Regierungen sagen, das haben wir einmal gemacht, zweimal gemacht, das machen wir nicht mehr. Denn letztendlich wollen diese Länder in der EU bleiben oder in sie kommen, doch solange nur Gelder ohne solche Auflagen an diese Länder gezahlt werden, ändert sich nichts. Ich glaube, wir werden auf diese Weise die Zustände nicht verbessern, sondern verschlimmern, weil der Staat dort diese Korruption und die Gleichgültigkeit den Menschen gegenüber duldet.

SB: Sehen Sie in der deutschen Bevölkerung so etwas wie ein Umdenken in der Weise, daß unter den jüngeren Generationen allmählich eine andere Einstellung Fuß faßt?

MW: In den letzten fünfzehn, zwanzig Jahren hat sich in der Bundesrepublik in dieser Hinsicht doch so einiges getan. Natürlich gibt es immer noch die NPD und die Neonazis, was ja das gleiche ist, aber der überwiegende Teil der Menschen hat sich eines Besseren besonnen. Sie schauen und hören tatsächlich mehr hin und tun auch etwas für ihren Nachbarn, eben weil es ihr Nachbar ist. Es gibt jedoch auch andere, die sagen, nein, wir wollen mit denen nichts zu tun haben. Insgesamt gesehen hat sich aber in dieser Richtung einiges getan, gerade in der Bundesrepublik Deutschland.

SB: Sie selbst haben in Schleswig-Holstein einiges erreicht, wie wir vorhin gehört haben [1]. Nun kommt es natürlich darauf an, wie das umgesetzt wird. Könnte man in dieser Hinsicht von einer beispielhaften Entwicklung für Deutschland insgesamt sprechen?

MW: Es handelt sich um eine Entwicklung, an der ich seit nunmehr 22 Jahren beteiligt bin. Die Zweidrittelmehrheit für eine Änderung der Landesverfassung war lange Zeit nicht gegeben, weil CDU und FDP - einer von beiden war immer dagegen - stets eine solche Mehrheit verhindert haben. Ich habe von Björn Engholm angefangen ein, zwei, drei, vier Ministerpräsidenten erlebt, und nun hat uns der vierte endlich in den Rang der Landesverfassung gehoben. Mein Erstaunen war groß, daß der Beschluß einstimmig erfolgte. Alle waren dafür, weil sich diesmal keiner mehr entziehen konnte. Denn hätte sich eine Partei entzogen, obwohl die Zweidrittelmehrheit diesmal gegeben war, hätte das ein überaus schlechtes Licht auf die Politik geworfen. Wäre das der Fall gewesen, hätte man tatsächlich sagen können, daß die Diskriminierung offensichtlich in der Politik anfängt. Da man diesen Eindruck vermeiden wollte, erreichte die Zustimmung 100 Prozent. Uns hat es natürlich gefreut, da es für uns in erster Linie eine moralische Wiedergutmachung auch unseren Toten gegenüber war. Wir hoffen jetzt, die Landesverfassung mit Leben füllen zu können, und daß sie das hält, was uns versprochen wurde.

SB: Ich möchte Sie gern abschließend fragen, wie Ihnen die Veranstaltung heute abend gefallen hat.

MW: Die Veranstaltung hat mir sehr gut gefallen. Es waren sehr viele offene Menschen hier, es waren auch sehr viele Menschen hier, die genau wie ich dort Kritik geübt haben, wo sie hingehört. Wir haben aber auch gesehen, daß einige erschrocken waren, und diese Erschrockenheit wird weitergegeben an den Nachbarn, wenn man sich begegnet. Dann kann sich durch solche Veranstaltungen, von denen es leider viel zu wenige gibt, tatsächlich etwas ändern.

SB: Herr Weiß, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnote:

[1] Am 14. November 2012 wurde in der Plenarsitzung des Landtages Schleswig-Holstein nach 22 Jahren und im sechsten Anlauf der Beschluß über folgende Änderung einstimmig gefaßt. In Artikel 5 der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein heißt es nun: "Die nationale dänische Minderheit, die Minderheit der deutschen Sinti und Roma und die friesische Volksgruppe haben Anspruch auf Schutz und Förderung."

http://www.sinti-roma-sh.de/index.php/politisch


Bisherige Beiträge zu "Flucht der Fremden" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT:

BERICHT/024: Flucht der Fremden - Mitverschuldet, fortverdrängt (SB)
INTERVIEW/038: Flucht der Fremden - Ratschlag ohne Folgen, Peggy Parnass im Gespräch (SB)

27. Dezember 2013