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INTERVIEW/035: Lampedusa in Hamburg - und vor der Tür da schreit die Welt, Cornelia Gunßer im Gespräch (SB)


Gespräch mit Cornelia Gunßer vom Flüchtlingsrat Hamburg am 2. November 2013 in Hamburg


Cornelia Gunßer in Großaufnahme - Foto: © 2013 by Schattenblick

Cornelia Gunßer
Foto: © 2013 by Schattenblick

"Lampedusa in Hamburg" ist der Name einer Gruppe von rund 300 Menschen, die vor dem NATO-Krieg gegen Libyen fliehen mußten und ursprünglich zumeist aus westafrikanischen Staaten stammten. Die Aufnahme als schutzwürdige Kriegsflüchtlinge, die sie zunächst in Italien gefunden hatten, hielt nicht, was sie ihnen versprochen hatte. Sie mußten das Aufnahmelager auf der Insel Lampedusa in Richtung Norden verlassen und strandeten buchstäblich auf den Straßen Hamburgs, nachdem ihnen dort im Frühjahr dieses Jahres auch die Türen des Nothilfeprogramms für Obdachlose versperrt worden waren. Seitdem kämpfen diese Menschen, die sich als "Gruppe Lampedusa in Hamburg" zusammengetan haben, um ihre Rechte und einen sicheren Aufenthalt und finden dabei immer mehr Zustimmung, Solidarität und praktische Unterstützung durch die Hamburger Bevölkerung.

Tatsächlich gibt es noch mehr Menschen, die wie die Gruppe Lampedusa durch den Libyenkrieg aus ihrem Leben geworfen wurden und sich heute, über zwei Jahre später, in einer Situation befinden, wie sie katastrophaler und lebensbedrohlicher kaum sein könnte. Von Medien und Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet leben rund 400 von ihnen in Choucha, einem Ende Juni endgültig geschlossenen Flüchtlingslager des UNHCR, in dem den verbliebenen Menschen jede Versorgung gekappt und die Infrastruktur zerstört wurde und das letzte Trinkwasser im Wüstensand versickerte. In einem jüngst veröffentlichten Aufruf appellieren bundesdeutsche Flüchtlingsräte und das Netzwerk Afrique-Europe-Interact an die Innenminister der Länder sowie den Bundesinnenminister, in dieser humanitären Notlage diese Menschen aufzunehmen. [1]

Unmittelbar im Anschluß an die Demonstration zur Anerkennung der Gruppe "Lampedusa in Hamburg", die am 2. November 2013 in der Hamburger Innenstadt stattgefunden und die Einschätzungen und Erwartungen aller Beteiligten bei weitem übertroffen hat [2], ergab sich für den Schattenblick die Gelegenheit, mit Cornelia Gunßer vom Flüchtlingsrat Hamburg über Lampedusa-Flüchtlinge in Hamburg und anderswo zu sprechen.

Demonstrationszug mit Transparenten mit den Aufschriften 'Kein Mensch ist illegal' und 'Bleiberecht für alle' - Foto: © 2013 by Schattenblick

Der Demonstrationszug "Lampedusa in Hamburg" in der Mönckebergstraße
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Die Demo ist gerade zu Ende, "Lampedusa in Hamburg" ist das große Thema. Sie sind in Hamburg in der Flüchtlingssolidarität engagiert. Ihr Ansatz ist es, in der europäisch-afrikanischen Zusammenarbeit eine Vernetzung herzustellen. Könnten Sie diese Idee näher erläutern?

Cornelia Gunßer: Ich bin schon ganz lange im Flüchtlingsrat aktiv, ungefähr seit 2006 im euro-afrikanischen Migrations-Netzwerk und seit 2009 auch im Netzwerk "Afrique-Europe-Interact". Wir haben ganz konkret zum Beispiel in Tunesien im Lager Choucha Leute unterstützt, die dorthin vor dem Krieg in Libyen geflohen waren und haben gefordert, daß zumindest ein Teil von ihnen hier in Deutschland aufgenommen wird. Leider waren das bisher nur 201, in Hamburg ganze 8. Noch immer befinden sich dort von den ursprünglich Zigtausenden 400 in dem eigentlich geschlossenen Camp.

Wir fordern, daß zumindest diese 400 jetzt in Europa und ein Teil auch in Deutschland aufgenommen werden. Die Verbindung zu der Gruppe "Lampedusa in Hamburg" besteht darin, daß es eben auch Flüchtlinge aus dem Libyen-Krieg sind, der von verschiedenen europäischen Mächten geführt wurde - von Deutschland zwar nicht so direkt, aber indirekt mehr oder weniger auch -, und deshalb denken wir, daß diese Flüchtlinge ein Recht haben, auch als Gruppe anerkannt zu werden. Sie haben schon bestimmte Flüchtlingspapiere aus Italien, die anerkennen, daß sie humanitären Schutz brauchen, bei einigen wurde sogar Asyl anerkannt. Deswegen meinen wir auch, daß es völliger Blödsinn ist, daß sie hier in ein neues Verfahren gehen müssen. Eigentlich müßten sie mit ihren italienischen Papieren hier Rechte haben wie jeder europäische Bürger und jede europäische Bürgerin. Dem ist leider nicht so.

Aber es könnte eine Entscheidung getroffen werden, diese Menschen hier aufzunehmen, beispielsweise nach § 23 Aufenthaltsgesetz oder meinetwegen auch nach anderen Paragraphen. Aber auf jeden Fall muß eine Lösung her, die allen die Möglichkeit gibt, hier zu leben und zu arbeiten und eben nicht in einer Duldung rumzuhängen, wie es das Angebot vom Senat jetzt vorsieht. Denn eine Duldung bedeutet einen absolut prekären Aufenthaltsstatus ohne jegliche Rechte. Die Flüchtlinge müssen ihre italienischen Aufenthaltspapiere abgeben und sich in eine Situation begeben, in der sie jederzeit auch mit einer Abschiebung in ihre Herkunftsländer rechnen müssen, was mit den italienischen Papieren jetzt nicht so wäre. Von daher können wir voll und ganz verstehen, daß die Flüchtlinge dieses Angebot ablehnen, bis auf einige ganz wenige, die wahrscheinlich ihre Gründe haben. Aber auf jeden Fall hat diese Demo heute gezeigt, daß es keine Spaltung gibt und daß die Flüchtlinge und ganz, ganz, ganz viele Unterstützerinnen und Unterstützer dahinterstehen. Es waren auf jeden Fall wohl über 10.000 Leute, die Polizei hat von 9000 geredet, und es gab ein breites Spektrum von SchülerInnen über GewerkschafterInnen bis zu Kirchen und antirassistischen und linken Gruppen.

Zisterne, aus der Wasser in den Wüstensand sprudelt - Foto: 2013/07/01 by choucha protest solidarity - http://chouchaprotest.noblogs.org/

Bei der Stillegung des Lagers Choucha wurde das Trinkwasser in den Wüstensand geleitet
Foto: 2013/07/01 by choucha protest solidarity - http://chouchaprotest.noblogs.org/

SB: Ich möchte einmal nachfragen zur aktuellen Situation im Lager Choucha. Soweit wir das verfolgen konnten, hat das UNHCR bei der offiziellen Schließung den Menschen Strom, Wasser und Nahrung vollständig entzogen. Danach wurde die Berichterstattung sehr dürftig, so daß unklar ist, wo diese Menschen überhaupt geblieben sind. Können Sie uns dazu etwas sagen?

CG: Offiziell wurde ihnen eine sogenannte "lokale Integration" angeboten, aber auch das ist eine ziemliche Verarschung. Zum einen wegen der rechtlichen Lage, weil es in Tunesien überhaupt kein Gesetz gibt, das Flüchtlingen irgendwie einen Rechtsstatus garantiert. In Tunesien geht es im Moment noch ziemlich drunter und drüber, da gibt es noch keine neue Verfassung. Flüchtlingsgesetze oder so etwas haben in einer solchen Situation natürlich keine Priorität. Also rechtlich gesehen ist das sehr unsicher. Bis jetzt haben die meisten Flüchtlinge wohl noch keine Papiere für einen Aufenthalt in Tunesien bekommen. Zum anderen geht es ja auch um ihre finanzielle und soziale Lage. Wie, glaube ich, jeder weiß, ist in Tunesien die Arbeitslosigkeit eh schon total hoch. Daß ausgerechnet diese Flüchtlinge da jetzt Arbeit finden sollen, von der sie leben können, ist sehr unwahrscheinlich. Zum Dritten gibt es in Tunesien - hier zwar auch - sehr viel Rassismus gegen Schwarze. Gerade im Süden Tunesiens werden Schwarze immer noch als Sklaven gesehen. Dort gibt es auch schwarze Tunesier, die sehr diskriminiert werden. Der vierte Grund besteht darin, was hier nicht bekannt ist, daß die Leute, die die "lokale Integration" akzeptieren, ihre Familien nicht nachholen dürfen. Sie sind dann eigentlich in einer Situation wie vorher, in der sie darauf hoffen, endlich irgendwo anzukommen, wo sie wieder als Familie zusammenleben können.

Im Moment ist es so, daß diese 400 Leute, die noch im Choucha-Camp sind, auch dagegen protestieren, daß sie nichts anderes angeboten bekommen. Sie wollen weiterhin Druck auf die europäischen Länder und auf den UNHCR ausüben, damit sie noch in das sogenanntes Resettlement-Verfahren kommen und so eine Chance haben, in ein Land zu kommen - das muß nicht Europa sein, wie viele sagen -, das ihnen ihre Rechte und einen sicheren Aufenthalt garantiert und in dem sie arbeiten und mit ihren Familien leben können.

SB: Borderline Europe versucht schon seit langer Zeit, die Todesfälle im Mittelmeer zu dokumentieren, was sicherlich sehr schwierig ist. Um nachweisen zu können, was da passiert, müßte man vor Ort sein, was die Unterstützer meistens gerade nicht sind, da alles unter Kontrolle von Frontex steht. Haben Sie dazu nähere Informationen?

CG: Die Zahl der Toten ist immer nur eine Schätzung. Ich denke, daß wir vieles wirklich gar nicht mitbekommen und nicht wissen, wieviele Leute im Meer versinken oder, wie jetzt vor kurzem bekannt wurde, auch in der Wüste verdursten und an den Zäunen von Ceuta, Melilla [2] und in Marokko umgebracht werden. Auf jeden Fall sind es Zigtausende in den letzten Jahren, und ich denke, daß jeder einzelne Mensch zählt, und deswegen will ich da auch nicht mit Zahlen jonglieren. Leider hat die EU auf die Toten im Mittelmeer nicht so reagiert, daß sie die Abschottung Europas zurückgenommen hätte. Die EU-Verantwortlichen, zumindest einige von ihnen, haben ein paar Krokodilstränen vergossen, aber im selben Atemzug haben sie beschlossen, daß Frontex weiter ausgebaut und die Überwachung durch das neue System EUROSUR in Kooperation mit den südlichen Mittelmeeranrainerstaaten verstärkt wird, um zu verhindern, daß die Leute überhaupt von dort losfahren können.

Das kann doch nicht die Lösung sein, denn wer es schon wagt, unter Todesrisiko in so ein Boot zu steigen, wird sich nicht aufhalten lassen. Ich habe am letzten Wochenende mit einem Kameruner gesprochen, der über zwanzigmal versucht hat, mit einem Schlauchboot nach Europa zu kommen. Der hat uns Bilder gezeigt von all seinen Freunden, die inzwischen tot sind. So etwas macht man nicht aus Lust und Dollerei, sondern nur, weil man wirklich keinen anderen Ausweg sieht. Das noch mehr zu erschweren, kann doch nicht die Lösung sein! Die Lösung muß sein, legale Möglichkeiten, nach Europa zu kommen, zu schaffen und dafür zu sorgen, daß die Menschen auch von den Transit- und Herkunftsländern aus einen Zugang zu Europa bekommen - sei es durch erleichterte Visa-Verfahren oder, wie wir eigentlich denken, durch die Abschaffung des Visa-Systems und durch einen Zugang nach Europa für alle, die es möchten.

Aber all das lehnt die EU natürlich ab. Genauso wie sie es ablehnt, die Verteilungsregelungen innerhalb Europas nach dem Dublin-System zurückzunehmen. Da kommt jetzt Dublin III statt Dublin II, bei dem aber weiterhin die Grenzstaaten insbesondere im Süden und Osten zuständig bleiben und die Flüchtlinge zurückgeschickt werden sollen, anstatt es ihnen zum Beispiel zu ermöglichen, dort Asylanträge zu stellen, wo sie das möchten und wo sie vielleicht Verwandte und Freunde haben und sich Arbeitsmöglichkeiten erhoffen. All das wird damit ausgeschaltet. Deutschland als Staat in der Mitte Europas ist damit fein 'raus und blockiert alle Versuche, daran etwas positiv zu ändern. Da stimme ich der Bürgermeisterin von Lampedusa voll zu, die gesagt hat, sie würde am liebsten den Ländern, die jede Veränderung blockieren, die Särge mit den toten Bootsflüchtlingen zuschicken.

SB: Vielen Dank, Frau Gunßer, für dieses Gespräch.

Plakat zeigt einen im Wasser schwimmenden Leichnam mit der Frage 'Why?' - Foto: © 2013 by Schattenblick

Plakat auf der Lampedusa-Demo - Kann es auf diese Frage überhaupt eine Antwort geben?
Foto: © 2013 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] Siehe im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → TICKER:
FLUCHT/042: Kessel Nahost - öffnet die Tore... (Flüchtlingsrat Hamburg)

[2] Siehe einen Bericht zu dieser Demonstration im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT:
BERICHT/022: Lampedusa in Hamburg - Nachlese (SB)

[3] Ceuta und Melilla sind zu Spanien gehörende und von Marokko umgebene Exklaven auf dem nordafrikanischen Festland, die zur Abwehr unerwünschter Flüchtlinge mit hohen EU-Zäunen ausgestattet wurden.


Bisherige Beiträge zu "Lampedusa in Hamburg" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT:

BERICHT/022: Lampedusa in Hamburg - Nachlese (SB)
INTERVIEW/032: Lampedusa in Hamburg - Tor ohne Tür, Flüchtling A. Tchassei im Gespräch (SB)
INTERVIEW/033: Lampedusa in Hamburg - Christenpflicht und Staatsräson, Pastor Sieghard Wilm im Gespräch (SB)
INTERVIEW/034: Lampedusa in Hamburg - das fordert die Geschichte, mit Andreas Gerhold im Gespräch (SB)

www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR:
REPRESSION/1509: Wir sind Deutschland? - Wir sind Lampedusa! (SB)

Siehe auch Beiträge zum Flüchtlingssterben im Mittelmeer:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → EUROPOOL → BRENNPUNKT: SEEGRENZE

http://schattenblick.de/infopool/europool/ip_europool_brenn_seegrenze.shtml

Siehe auch Beiträge zu Flüchtlingsprotesten:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → TICKER: FLUCHT

http://schattenblick.de/infopool/buerger/ip_buerger_ticker_flucht.shtml


19. November 2013