Schattenblick →INFOPOOL →BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT

BERICHT/030: Aufbruchtage - Umkehr marsch ... (SB)


Es gibt keine Patentrezepte

Einführungsveranstaltung zur Wachstumskritik am 5.9.2014 auf der Degrowth-Konferenz in Leipzig


Konferenzteilnehmende im Innenhof, im Hintergrund Unigebäude - Foto: © 2014 by Schattenblick

Eine solidarische Welt schaffen - Kernthema der Degrowth-Konferenz in Leipzig
Foto: © 2014 by Schattenblick

Degrowth? Wer dieses Wort zum ersten Mal hört und dessen englische Bestandteile ("de-" als Vorsilbe für "Ent-" und "growth" für "Wachstum") als Ent- oder Rückwachstum zu übersetzen versucht, wird sich fragen, worum es den wachstumskritischen Initiativen, Organisationen und wissenschaftlichen Netzwerken geht, die sich unter diesem Begriff zu dieser - nach Ansicht vieler ihrer Mitstreiterinnen und Mitstreiter - im Entstehen begriffenen internationalen Bewegung zusammengefunden haben. Degrowth kann als Wachstumskritik verstanden werden, die der ökologischen bzw. Umweltfrage denselben Stellenwert einräumt wie der sozialen. Solche Ansätze stoßen auf ein anwachsendes Interesse, scheint doch vielen Menschen das ewige Mantra, wirtschaftliches Wachstum würde zu Wohlstand führen, nicht mehr einzuleuchten. Sie stehen Großereignissen wie dem Weltklimagipfel skeptisch bis desillusioniert gegenüber, wie sich an den rund 300.000 Demonstrantinnen und Demonstranten zeigte, die am 23. September in New York auf die Straße gingen.

Die Degrowth-Bewegung bezieht angesichts drückendster und noch ungelöster Menschheitsprobleme und -bedrohungen, die von der menschengemachten Klimakatastrophe und ihren ökologischen wie sozialen Folgewirkungen über Umweltzerstörungen bis hin zum Wasser-, Nahrungs- und Ressourcenmangel reichen, kritisch Stellung. Althergebrachte Überzeugungen in Frage zu stellen und wissenschaftliche bzw. wissenschaftskritische Forschungsansätze voranzutreiben, um dem "Weiter so wie bisher" konkrete Alternativen entgegenzuhalten, könnte als charakteristisch für Degrowth bezeichnet werden. Basisorientiert und dezentral organisiert, verfügt die noch junge Bewegung weder über einen klar strukturierten Apparat noch über vorformulierte Grundsatzerklärungen. Ist Degrowth links oder politisch indifferent? Beinhaltet ihre Wachstumskritik zwangsläufig auch eine Kapitalismuskritik oder gehen die Meinungen und Auffassungen der Beteiligten in dieser Frage auseinander? Verstehen sich die Degrowtherinnen und Degrowther als integraler Bestandteil oder vielleicht sogar auch partieller Kontrapunkt anderer Bewegungen zu Umwelt und Globalisierungskritik?

Auf der Vierten Internationalen Degrowth-Konferenz, die vom 2. bis 6. September 2014 an der Universität Leipzig stattfand, waren Fragen dieser Art, aber auch die Definition des Begriffs, seine umwelt- wie sozialpolitischen Implikationen sowie die Präzisierung oder auch Radikalisierung dieses Konzepts Kernbestandteile eines offenen Diskussions- und Entwicklungsprozesses. Die über 500 Referentinnen und Referenten sowie rund dreitausend Teilnehmenden entfalteten in den Hörsälen und Seminarräumen, auf den Gängen und Fluren, im Foyer und Audimax, aber auch auf den vielen zum Sitzen, Verweilen und weiteren Diskutieren einladenden Sitzbänken im Innenhof des Universitätsgeländes eine ebenso gelöste wie engagiert-lebhafte, zeitweise beinahe festival-ähnliche Atmosphäre. Wer wollte, vermochte darin den Hauch einer anderen, zukünftigen Gesellschaft zu erblicken - einer Postwachstumsgesellschaft, wie es die Konferenzbeteiligten mehrheitlich wohl formuliert hätten.

Die zentrale Frage "Was verstehen wir unter Degrowth?" war von der Organisationsgruppe der Konferenz wie folgt beantwortet worden:

Unter "Degrowth" wird eine Verringerung von Produktion und Konsum in den frühindustrialisierten Staaten verstanden, die menschliches Wohlergehen und die ökologischen Bedingungen und die Gleichheit auf diesem Planeten fördert. Ziel ist eine Gesellschaft, in der Menschen mit Rücksicht auf ökologische Grenzen in offenen, vernetzten und regional verankerten Ökonomien leben. Degrowth stellt nicht nur das Bruttoinlandsprodukt als zentralen Maßstab der Politik in Frage, sondern beschreibt darüber hinaus Wege für einen radikalen Wandel unseres Wirtschaftssystems.
(degrowth Presseinformationen, S. 3)

Nach den vorherigen internationalen Konferenzen - 2008 in Paris, 2010 in Barcelona und 2012 in Venedig und Montreal - war nun Leipzig an fünf spätsommerlichen Tagen Schauplatz eines Veranstaltungsmammuts, bestehend aus Vorträgen, Workshops und vielen weiteren, auch praktischen Beteiligungs- und Aktionsformaten, bei denen rund um das Thema Degrowth gesprochen, referiert und diskutiert wurde. Einen leicht verständlichen und deshalb auch für Neueinsteigerinnen und -einsteiger gut geeigneten Auftakt bot die "Einführungsveranstaltung zur Wachstumskritik" am 5. September mit Dagmar Paternoga und Hermann Mahler, zwei in der bundesweiten AG "Jenseits des Wachstums" aktiven Attac-Ratsmitgliedern, wie sich angesichts des lebhaften Interesses und der engagierten Diskussionsbeteiligung der rund 60 Teilnehmenden vermuten ließ.

Die Attac-Aktivisten während des Workshops am Podium stehend - Foto: © 2014 by Schattenblick

Dagmar Paternoga und Hermann Mahler
Foto: © 2014 by Schattenblick

Auf unserem endlichen Planeten mit seinen begrenzten Ressourcen, so begann Dagmar Paternoga, ist Wachstum ohne Ende nicht möglich. In vielen Bereichen ist die ökologische Tragfähigkeit der Erde bereits überschritten, der Klimawandel schreitet voran. Wirtschaftswachstum geht mit wachsendem Ressourcenverbrauch und Schadstoffausstoß einher. Auf ein "grünes" Wachstum zu hoffen, diene dem Zweck, weder die vorherrschende Produktions- noch unsere Lebensweise in Frage zu stellen. Eine ökologisch-nachhaltige und sozial gerechte Gesellschaft könne nur durch eine Abkehr vom Wachstumswahn möglich werden. Ein solcher Prozeß müsse in den kommenden Jahren solidarisch organisiert werden, wobei in einer demokratischen Debatte zu regeln sei, welche konkreten Produkte und Dienstleistungen benötigt werden, um die Bedürfnisse der Menschen mit einem möglichst geringen Naturverbrauch zu erfüllen.

Hermann Mahler wies in seinem Eingangsreferat darauf hin, daß in weiten Teilen von Politik und Gesellschaft - und in der Wirtschaft sowieso - am Wachstum als einer vermeintlichen Grundbedingung für ein gutes Leben festgehalten werde. Ohne Wachstum, so habe auch die Bundeskanzlerin behauptet, gäbe es keine Investitionen, keine Arbeitsplätze, keine Gelder für Bildung und keine Hilfen für die Schwachen. Mit Wachstum sei all dies mehr oder weniger garantiert, was gleichermaßen ein Versprechen wie auch eine Drohung sei. Wem die wachstumsbetriebene Wirtschaft tatsächlich nützt und welche Probleme durch Wachstum (mit)verursacht werden, lasse sich jedoch schnell feststellen. Eines der von der UN-Vollversammlung 2001 verabschiedeten Milleniumsentwicklungsziele hatte gelautet, bis 2015 Hunger und extreme Armut zu halbieren, doch ein Jahr vor Ablauf dieser Frist hungert eine Milliarde Menschen, Tag für Tag sterben 20.000 Menschen an Unterernährung.

Auf der anderen Seite beläuft sich die Reichtumskonzentration beispielsweise in Deutschland darauf, daß ein Prozent der Bevölkerung über 45 Prozent des Geldvermögens verfügt. Die Verteilung des Volkseinkommens habe sich in den letzten zehn Jahren zuungunsten der Lohnabhängigen noch weiter verschoben. Laut Mahler sind Reichtumskonzentration und Lohneinbußen wesentliche Aspekte der Euro-Krise, die zu Arbeitslosigkeit und Armut vor allem in den südeuropäischen Ländern geführt habe. Das Rote Kreuz spricht mit Blick auf Länder wie Griechenland und Portugal bereits von der größten humanitären Katastrophe seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Eine Jugendarbeitslosigkeit von über 60 Prozent, eine halbe Million Menschen, die in Spanien ihre Wohnung verloren haben oder Menschen, die wie in Griechenland nicht mehr zum Arzt gehen können, kennzeichnen eine soziale Realität, die zu der Wachstumskritik der beiden Attac-Referenten genauso dazu gehört wie die ökologischen Wachstumsfolgen.

Der Klimawandel als Folge des ungebremsten CO2-Anstiegs unterliege, wie Mahler erläuterte, zwei Fehleinschätzungen. So werde das Ausmaß seiner schädlichen Folgen häufig unter-, das seiner technischen Lösungsmöglichkeiten jedoch überschätzt. Vereinfacht ausgedrückt bewirke die Nutzung fossiler Rohstoffe wie Kohle, Erdöl und Erdgas, da bei ihrer Verbrennung CO2 entsteht, den Treibhauseffekt. Um dessen Negativfolgen unter Kontrolle zu halten, wurde bekanntlich vereinbart, den weltweiten Temperaturanstieg bis 2050 auf 2° Celsius zu beschränken. Zu diesem Zweck müßten weltweit 53, in den Ländern des globalen Nordens sogar 90 Prozent des CO2-Ausstoßes reduziert werden, um den Staaten des Südens eine gewisse Nachholentwicklung zu ermöglichen. Tatsächlich haben wir jedoch beim CO2-Ausstoß sogar Steigerungsraten.

Die für das Zwei-Grad-Ziel für noch vertretbar gehaltene Ausstoßmenge würde bereits in 15 Jahren emittiert sein, sollten wir so weitermachen wie bisher. Sind bestimmte Kipp-Punkte erst einmal überschritten, werden sich selbst verstärkende Mechanismen in Gang gesetzt wie beispielsweise das schnelle Auftauen großer Methanmengen im Permafrost Grönlands und Sibiriens. Doch auch wegen des Ressourcenverbrauchs könne Wachstum keine Option mehr sein. Neben den fossilen Brennstoffen werden auch seltene Erden, die für die Herstellung hochtechnologischer Produkte als unverzichtbar gelten, immer knapper. Prognosen zufolge wird bis 2025 das Fördermaximum erreicht sein, was abnehmende Fördermengen bei gleichzeitig steigendem Bedarf zur Folge hätte.

Der Attac-Referent erinnerte daran, daß die Konfliktträchtigkeit dieser hochbrisanten Situation nicht zu unterschätzen sei. Kriege wie der Irak-Krieg hätten ihre eigentliche Ursache in der Sicherung des Öls gehabt. NATO-Strategien sind darauf ausgerichtet, den Zugang ihrer Mitgliedsstaaten zu den Rohstoffen militärisch zu sichern. Es gäbe bereits eine weltweite Kartierung aller Konflikte, bei denen es um die Ausbeutung der Rohstoffe geht. Die Bevölkerungen vieler Staaten wurden dabei als potentielle Konfliktparteien eingestuft und 1200 Orte bzw. Regionen erfaßt, in denen sich lokale Menschengruppen dem Zugriff multinationaler Unternehmen entgegenstellen, weil diese ihre Lebensweise, ihre Böden oder das Trinkwasser gefährden.

Unter dem Stichwort Gerechtigkeitsfrage problematisierte Mahler die Vormachtstellung des globalen Nordens, der seine Entwicklung in 500 Jahren Kolonialgeschichte zu Lasten des Südens durchgesetzt hat. Die Ausbeutung der Bodenschätze wie auch die Hauptverantwortung für den Klimawandel gingen auf das Konto des Nordens, weshalb es eigentlich selbstverständlich sein müßte, daß "wir" auch für die Folgen aufkämen. Tatsächlich ist es jedoch so, daß Afrika, der Kontinent mit dem geringsten Pro-Kopf-Verbrauch und niedrigsten CO2-Ausstoß, am stärksten unter den Auswirkungen des Klimawandels - Dürren, Überschwemmungen, Hungersnöte - zu leiden hat. Wie sehr die Länder des Südens heute schon betroffen sind und vom Norden allein gelassen werden, zeige das Beispiel des Taifuns Haiyan, der im Herbst vergangenen Jahres auf den Philippinen und in weiteren Ländern Asiens wütete. 6.400 Menschen fanden den Tod, vier Millionen wurden aus ihren Behausungen vertrieben.

Trümmer und Zerstörungen in Tacloban City nach dem Taifun Haiyan - Foto: By Trocaire from Ireland (DSC_0974) [CC-BY-2.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/2.0)], via Wikimedia Commons

Millionen Menschen obdachlos - Verwüstungen in Tacloban City auf der philippinischen Insel Leyte nach dem Taifun Haiyan
Foto: By Trocaire from Ireland (DSC_0974) [CC-BY-2.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/2.0)], via Wikimedia Commons

Doch noch immer seien wir Menschen des Nordens als Hauptverursacher des Klimawandels nicht bereit, unseren Lebenswandel so grundlegend zu ändern, daß derartige Folgewirkungen nicht mehr auftreten. Zu der Frage, ob eine solche Änderung des Lebensstils ausreichen würde, um die katastrophale Ungleichheit zwischen dem Norden und dem Süden aufzuheben, erklärte Dagmar Paternoga, daß die Umstellung unseres individuellen (Konsum-) Verhaltens sicherlich ein wichtiger Aspekt sei, daß aber, um den wachstumsbezogenen Kapitalismus in eine nicht profitorientierte Postwachstumsgesellschaft zu transformieren, auch an der Produktion angesetzt werden müsse.

Attac vertrete schon lange die Forderung, die Bereiche der Destruktiv-Technologie, zu denen die Referentin die Atomenergie, Rüstungstechnologie und Gentechnik zählt, abzuschalten. Auch müsse die Privatisierung der Daseinsvorsorge rückgängig gemacht und eine kostenlose Infrastruktur für alle geschaffen werden. Der Übergang von der industriellen zu einer kleinbäuerlichen Landwirtschaft müsse bewältigt werden, da nur sie, wie kritische Wissenschaftler festgestellt hätten, die Ernährung der Weltbevölkerung sichern könne.

Viele Menschen realisierten zwar, so Paternoga, daß umgesteuert werden müsse, weil die Erde vor dem Kollaps steht, machten sich aber Sorgen um ihre Arbeitsplätze bzw. ihre soziale Absicherung. Um zu gewährleisten, daß alle Menschen angstfrei und auf gleicher Augenhöhe darüber diskutieren könnten, wie ein gutes Leben für alle aussehen und organisiert werden könnte, sprach sie sich für die Idee eines Grundeinkommens für jeden aus. Für das Thema Wachstumskritik sei auch das zwischen der EU und den USA vereinbarte Freihandelsabkommen (TTIP) wichtig, das es Großunternehmen ermöglicht, wegen der ihnen lästigen Umwelt- und Sozialstandards Staaten zu verklagen, wodurch "unsere Demokratie und unsere Möglichkeiten, unsere Lebensbedingungen zu gestalten", unterhöhlt werden.

In der anschließenden Diskussion stießen die Initiativen, mit denen auf lokaler wie regionaler Ebene ein wachstumsfreies Miteinander erprobt und gefördert werden soll, auf ein reges Interesse - die vielfältigen Formen und Ideen solidarischer Landwirtschaft und Nachbarschaftshilfe wie beispielsweise das städtische Gärtnern (Urban Gardening), das Regionalgeld oder auch Repair-Cafés sowie Genossenschaften, in denen sich Erzeuger und Konsumenten zusammenschließen. Die verschiedenen Möglichkeiten, sich mit Gleichgesinnten auch auf kulturellen Wegen zu vernetzen und eine gegenüber dem Wachstums- und Konsumdiktat alternative Lebenswelt zu entwickeln, waren ebenso Gegenstand der Debatte wie weitere Fragen praktischer, aber auch theoretischer Natur. So wollte eine Teilnehmerin wissen, was es bedeuten würde, die Wirtschaft umzustellen und fragte, ob wir denn bereit wären, auf unsere Bequemlichkeit zu verzichten.

Im Zuge der Diskussion um die Frage, warum Wachstum denn ökonomisch überhaupt nötig sei, kam Hermann Mahler auf die Reichtumsentwicklung zu sprechen und erklärte, daß das Finanzvermögen weltweit bereits so sehr angestiegen sei, daß wir, um die Reichtumsansprüche in realen Reichtum, also Güter, umzuwandeln, weltweit das Vierfache der heutigen Menge produzieren müßten. Wer solle das brauchen und wie könne der Planet das aushalten? An den Universitäten werden in den Wirtschaftswissenschaften neoliberale Konzepte gelehrt, und so werde nicht oder nur in geringen Ansätzen daran geforscht, wie Wirtschaft organisiert werden könne, um all diese Mechanismen zu vermeiden. Deshalb seien lokale und regionale, beispielsweise Dorfgemeinschaften, aber auch die in größeren Zusammenhängen weit über Deutschland hinausgreifenden Experimentierfelder so wichtig. Es gäbe allerdings, wie Mahler anmerkte, keine Patentrezepte. Da die Politik nur in dem Maße reagiere, wie entsprechender Druck gemacht werde, sei es wichtig, daß "wir die Dinge entwickeln und nach außen tragen", so sein Appell.

Hermann Mahler in Großaufnahme - Foto: © 2014 by Schattenblick

Experimentierfelder sind wichtig, doch Patentrezepte gibt es nicht
Foto: © 2014 by Schattenblick

Eine Teilnehmerin sprach die Möglichkeit an, daß die Bedrohung durch den Klimawandel womöglich auch zu repressiven Verhältnissen führe, die sich niemand wünschen könne. Sei es nicht angesichts der mit der drohenden Klimakatastrophe begründbaren vermeintlichen Notwendigkeit bestimmter Maßnahmen sinnvoll, wenn Degrowth nicht nur die Umweltproblematik mit der sozialen Frage verknüpft, sondern auch die mögliche Zuspitzung staatlichen Zwangs berücksichtigt? Dagmar Paternoga erklärte dazu, sie sähe die Gefahr einer Öko-Diktatur, wenn an der sozialen Lage nichts geändert werde und nicht alle Menschen in der Lage seien, auf gleicher Augenhöhe mitzudiskutieren. Es ginge nicht an, daß selbsternannte Apostel sagten, jetzt müßten bei den Preisen die wahren Kosten, die bei der Umweltverschmutzung anfallen, eingerechnet werden, denn dann könnten sich die Reichen weiterhin alles leisten und die Armen guckten in die Röhre.

Der Umbruch werde sich nicht von selbst vollziehen. Der Transformation in eine von Wachstumszwängen befreite, alternative Gesellschaft stünden "starke, beharrende Kräfte" entgegen, die eine hohe Kreativität und Flexibilität entwickeln, um wie in Griechenland und Spanien die Krise und ihre Folgen auf die verarmte Bevölkerung abzuwälzen. Aus früherer eigener Erfahrung berichtete die Referentin, wie beispielsweise in den 1990er Jahren in Sambia vom IWF aufgezwungene Strukturmaßnahmen zu einer Sparpolitik führten, durch die - wie jetzt in den südlichen Ländern Europas - billige, subventionierte Lebensmittel abgeschafft und für vormals kostenlose Leistungen im Bildungs- und Gesundheitsbereich Gebühren erhoben werden mußten. Dieselben Rezepte würden uns heute verordnet mit der Folge, daß die Armen immer weniger bekämen, während die Reichen in der Krise noch reicher werden.

Die heutige Realität weise, wie Hermann Mahler einwarf, eine gänzlich andere Richtung auf als die in diesem Workshop vorgestellten Projekte einer solidarischen Landwirtschaft, bei denen sich Erzeuger und Konsumenten zu Genossenschaften zusammenfinden und die Kunden mit auf den Feldern arbeiten. Die autoritären Tendenzen kämen genau aus der Ecke, die versuche, das Wachstumsmodell, von dem wir sagen, daß es keine Zukunft hat, durchzusetzen gegen die Interessen derjenigen, die unter ihm zu leiden haben. Die Austeritätspolitik der Troika habe in Südeuropa bereits eine Entwicklung zu autoritären Durchsetzungstrategien eingeleitet. Greift dann eine Wachstumskritik nicht zu kurz, die den Weg in eine bessere Zukunft weist im Vertrauen darauf, das alte System könne in eine solidarische Ökonomie umgewandelt werden?

Bisherige Beiträge zur Degrowth-Konferenz im Schattenblick unter INFOPOOL → BÜRGER & GESELLSCHAFT → REPORT:
BERICHT/028: Aufbruchtage - Brauch- und Wuchskultur auf die Gegenspur ... (SB)
BERICHT/029: Aufbruchtage - Schuld und Lohn ... (SB)

6. Oktober 2014