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BERICHT/026: Wendland frei trotz alledem - Sessions, Geschichten und Besinnung ... (SB)


Musikalische Exkursionen in ein Refugium sozialökologischen Protestes

Free Flow Festival im Wendland am 22. und 23. August 2014


Auf dem Festivalgelände - Foto: © 2014 by Schattenblick

Foto: © 2014 by Schattenblick

Wer nicht aus dem Wendland kommt, zur Anti-AKW-Bewegung gehört oder Musiker kennt, die dort auftreten, wird eher nicht das Privileg haben, vom Free Flow Festival auch nur Kenntnis zu nehmen. Wer dies dennoch, fast aus Zufall über regelrechte Schleichwege im Word Wide Web, tut, ist gut beraten, die Chance, an einem außergewöhnlichen Musik- und Kulturereignis teilzuhaben, beim Schopfe zu packen. Gleich in mehrfacher Hinsicht unterscheidet sich dieses Festival von den zahlreichen Events, die das erlebnishungrige Publikum landauf, landab auf die Festplätze und Märkte, die Wiesen und Stadien der Republik locken.

Das Free Flow Festival wirkt schon von seinem äußeren Erscheinungsbild her eher wie eine etwas aus den Fugen geratene Gartenparty, der popkommerzielle Ordnungsfunktionen wie Zäune, Securities und Ticketkontrollen nicht fremder sein könnten. Wer auf der frischgemähten Wiese im kleinen Flecken Gedelitz eingetroffen ist, konnte schon auf der Fahrt dorthin feststellen, daß dieser idyllische Teil Niedersachsens vom hektischen Lebensstil und metropolitanen Getriebe der urbanen Zentren verschont geblieben ist. Den Dörfern des Wendlands ist anzusehen, daß ihre Bewohner Sinn für einen organischen Zusammenhang von natürlichem und menschlichem Leben haben. Zwar frißt sich auch hier der Produktivtätswahn agroindustrieller und forstwirtschaftlicher Wachstumslogik in die Landschaft, doch ist die Region zugleich vom Geist eines Landlebens durchwebt, das der Verabsolutierung des Nutzens von allem und jedem noch auf subversive wie offene Weise widersteht.

Allein die überall sichtbaren Zeichen des Widerstands gegen die mögliche Endlagerung des in Jahrzehnten aufgelaufenen deutschen Atommülls zeugen davon, daß man hier Wert auf Unveränderbarkeit inmitten der programmatischen Umwälzung der Produktivkräfte legt. Die große Anzahl alternativer Lebens- und Wirtschaftsformen künden davon, daß der Widerstand gegen die Atomkraft im Sinne der Frage, wie sich anders und auf weniger verbrauchsintensive Weise leben läßt, nicht folgenlos geblieben ist. Auch die touristische Erschließung der Region hat noch nicht den Charakter eines grellbunten Massenbetriebs angenommen, der noch die letzten Nischen relativ intakter Natur in konsumierbaren Wert setzt.

Das kleine Treffen auf dem Gelände des Gasthofes Wiese könnte man als ein Festival von Musikern für Musiker bezeichnen. Was 2003 von dem Bandprojekt STROM in der Salzmann-Kulturfabrik in Kassel als Free Flow Festival aus der Taufe gehoben wurde, war von Anfang an von der Idee getragen, Kultur und Widerstand miteinander zu verbinden. Die gesellschaftliche wie künstlerische Utopie, sich in einem von kommerziellen Interessen freigehaltenen Raum zu treffen, um miteinander zu musizieren und zu diskutieren, erhielt im Wendland ein zweites Standbein. Dieses Jahr zum siebten Mal abgehalten, lebt das Festival, das zuerst in Mützingen stattfand und mit dem Umzug nach Gedelitz näher an Gorleben, wo sich der Anti-AKW-Widerstand fokussiert, heranrückte, vom freien Fluß der Ideen und Begegnungen, der künstlerischen wie musikalischen Entwicklung.

So wird ganz absichtlich kein Unterschied zwischen Musikern und Publikum gemacht, wie auf konventionellen Festivals durch deutlich voneinander abgetrennte Bereiche vor und hinter der Bühne üblich. Statt dessen laden mehrere Mikrofone und ein großes Arsenal an Schlagwerk und anderen Instrumenten jeden Anwesenden dazu ein, an der Jam-Session mitzuwirken, zu der sich die Auftritte der verschiedenen Bands häufig entwickeln. Die Aufhebung der Trennung zwischen Laien und Musikern setzt sich auch in den lebhaften Gesprächen und Debatten fort, die an den Tischen und auf der Wiese stattfinden. Auch hier ist nicht von Belang, welche Meriten der einzelne im gesellschaftlichen Leben erworben hat. "Es gilt das gesprochene Wort" - nicht wie beim Rechtsvorbehalt der textlichen Vorlagen offiziöser Reden, sondern im direkten Kontakt.

Während die Musik auf einer polyrhytmischen, sich stetig weiterentwickelnden Grundlage zwischen dissonant wirkenden Brüchen und harmonischem Ensemble eine akustische Spur ganz eigener Art in die Landschaft legt, hat auch der Kontakt unter den Festivalteilnehmern den Charakter eines offenen Prozesses, aus dem alles mögliche entstehen kann. Auf gewisse Art wegweisend für diese Freiheit im künstlerischen Schaffen und der sozialen Begegnung ist die Gruppe Embryo. Obgleich in diesem Jahr aus persönlichen Gründen verhindert, steht sie mit ihren mehreren hundert Musikern, die der Band in ihrer 40jährigen Geschichte schon angehörten, für eine Tradition musikalischer Vielfalt, die in vielen Reisen durch die Welt immer weiter an- und ausgewachsen ist. Dem Anspruch geschuldet, Musik keinesfalls zur Ware verkommen zu lassen, macht Embryo im besten Sinne Musik für Musiker oder musikalisch überdurchschnittlich interessierte Zuhörer. Als künstlerisches Experimentierfeld, das mit Labels wie Weltmusik oder Ethno-Jazz nur unzureichend beschrieben werden kann, lotet die Gruppe um das Gründungsmitglied Christian Buchard heute noch die ganze Spannbreite musikalischer Ausdrucksformen und künstlerischen Schaffens aus.

Da in Gedelitz stets Musiker aus dem Dunstkreis Embryos zugegen sind und die dort regelmäßig gastierenden Bands in bezug zum avantgardistischen Underground der 70er Jahre stehen, repräsentiert das Geschehen dort in gewisser Weise das, was von der Blüte der damaligen Musik- und Lebenskultur in der Bundesrepublik geblieben ist und von dort aus neue Formen und Praktiken hervorgebracht hat. Warum auch sollte die Symbiose aus gemeinschaftlichem Leben und Musizieren, die einige der bekanntesten Vertreter des sogenannten Krautrock anstrebten, ihre gesellschaftliche Bedeutung verloren haben? Tatsächlich gibt es für die soziale Atomisierung in der spätkapitalistischen Gesellschaft, auf die der Mensch als für ihn fremden Interessen verfügbares Partikel mit der destruktiven Effizienz sozialdarwinistischer Überlebenslogik zugerichtet wird, kaum ein besseres Gegenmittel als den Mut, soziale Grenzen einzuebnen und kollektive Formen alternativen Lebens zu entwickeln.

Zelte und Bühne des Festivals - Foto: © 2014 by Schattenblick

Foto: © 2014 by Schattenblick

Auf der Wiese des Gasthofes "Wiese"

Eröffnet wird der musikalische Reigen mit einem Auftritt der Schweriner Gruppe Ständige Vertretung. Dabei bleiben Vokalist und Guembri-Spieler Abdelhak Boudlal, Gitarrist Thomas Sander und Saxophonist Herbert Weisrock nicht lange alleine auf der Bühne. Mehrere Musiker gesellen sich dazu, um das Programm mit einem treibenden Rhythmus zu eröffnen, der mit jazzigen Improvisationen und virtuosen Soli angereichert wird.

Musiker auf der Bühne - Fotos: © 2014 by Schattenblick Musiker auf der Bühne - Fotos: © 2014 by Schattenblick Musiker auf der Bühne - Fotos: © 2014 by Schattenblick

Herbert Weisrock, Abdelhak Boudlal, Thomas Sander - Ständige Vertretung
Fotos: © 2014 by Schattenblick

Nach einem längeren Soundcheck liefern die vier Musiker der Oldenburger Band CMDR RIKR einen Set Postrock ab, der in seiner klaren Strukturierung zwar wenig Gelegenheiten für Soloeskapaden vorsieht, dem Zuhörer aber mit genretypischen Verlangsamungen einen sinnlichen Eindruck klanglich erzeugten Raums vermittelt. Feedbacks, Loops und elektronische Soundflächen lassen einen bisweilen fast symphonischen, dann wieder ausgesprochen rockigen Klangteppich entstehen, dessen große Lautstärke die abendliche Luft des Wendlandes erbeben läßt.

Band auf der Bühne - Foto: © 2014 by Schattenblick

CMDR RIKR
Foto: © 2014 by Schattenblick

Seit 2012 gibt es CMDR RIKR in ihrer aktuellen Besetzung. Die aus unterschiedlichen Richtungen stammenden Musiker eint die Idee, Instrumentalmusik ohne inhaltsschwangeren Anspruch zu machen. Um sich bekannt zu machen, gehen sie auch unkonventionelle Wege, indem sie etwa Konzerte unter einer Autobahnbrücke veranstalten, was einen zweifellos passenden Rahmen für eine zwischen Ambient und Postrock angesiedelte Musik bietet.

Die mißliche Lage, daß gleich mehrere Bands des angekündigten Programms absagen mußten, nutzen die anwesenden Musiker, um gleich in die nächste Jam-Session einzusteigen. Die offene Struktur macht allen Beteiligten sichtlich Spaß, und die zur allgemeinen Nutzung bereitgestellten Instrumente erfreuten sich großen Zuspruchs. Gejammt wird, was Lust und Laune hergeben, und da die letzten Töne erst um vier Uhr morgens verklingen, herrscht daran bestimmt kein Mangel.

Bücher und Plakate - Foto: © 2014 by Schattenblick

Herrmann Cropp am Stand des Packpapier Verlags
Foto: © 2014 by Schattenblick

Wer zwischendurch etwas ausspannen will, kann sich an einem der Tische niederlassen oder das Zelt des Osnabrücker Packpapier Verlages besuchen. Dort zeigt Verleger Herrmann Cropp die Jahresausstellung zum Thema "utopische Orte", was nicht nur an einem Ort wie diesem ein Thema von wegweisender Bedeutung ist. Das Angebot wird trotz der geringen Zahl der Besucher gerne in Anspruch genommen, so daß man beim Lesen der ausgehängten Texte gleich zum Gespräch über das Machbare und Phantastische utopischer Ideen gestern und heute übergehen kann.

Husky unter Wagen - Foto: © 2014 by Schattenblick

Aufmerksame Zuhörerin
Foto: © 2014 by Schattenblick

Der Sonnabend beginnt mit dem Vortrag eines Aktivisten von der Wald- und Wiesenbesetzung des Hambacher Forstes über die Zerstörungsgewalt des Abbaus und der Verstromung der im dortigen Tagebau geförderten Braunkohle. Was Tim, der sich auf Infotour durch mehrere Festivals und Aktionscamps befindet, in einem komprimierten Überblick über die ökologischen Gefahren und politischen Machenschaften rund um das Thema präsentiert, verschlägt zumindest denjenigen Zuhörern den Atem, die sich noch nicht für diesen so wichtigen Bereich fossiler Energieerzeugung in der Bundesrepublik interessiert haben. Obwohl der mit Abstand größte CO2-Emittent pro Einheit erzeugten Stroms, erfährt die Förderung und Verbrennung von Braunkohle hierzulande kaum Gegenwind. Daß sich das allmählich ändert, daran haben die Aktivistinnen und Aktivisten des Hambacher Forstes, der in absehbarer Zeit vollständig der Expansion des dortigen Tagebaus weichen soll, maßgeblichen Anteil.

Tim beim Vortrag - Foto: © 2014 by Schattenblick

Die Kämpfe verbinden ... es gibt nur einen Planeten
Foto: © 2014 by Schattenblick

Mit welchen Aktionen und Kampagnen dort gegen den regionalen Energiekonzern RWE Power zu Felde gezogen wird, interessiert auch die anwesenden Aktivistinnen und Aktivisten des Anti-AKW-Widerstands. Daß dieser in der Bundesrepublik seit den großen Protesten der 1970er Jahre weit mehr Aufmerksamkeit erhalten hat als der Anti-Kohle-Widerstand, ist auch insofern frappant, als daß der Klimawandel inzwischen in aller Munde ist. Demgegenüber bleibt die Problematik des Kohlestroms zu unterbelichtet, was um so verheerender ist, als die Qualität der Luft über die CO2-Emission hinaus durch giftige Feinstäube und radioaktive Substanzen beeinträchtigt wird, die Landschaft zerstört und Grundwasserbestände geschädigt werden. So betreffen die zerstörerischen Auswirkungen des Rheinischen Braunkohlereviers, dessen Ausmaße mit einer vor den Zuhörern ausgebreiteten Karte sichtbar gemacht wird, nicht nur die den Tagebauen und Kraftwerken umliegende Region, sondern durch die Verschlechterung der Luftqualität je nach Wetterlage große Teile Europas.

Wie in anderen Regionen der Republik soll auch im Wendland Gas mit der Methode des Fracking gefördert werden. Zwar hat der Kreistag in Lüchow-Dannenberg einstimmig eine Resolution gegen diese hochgiftige, insbesondere das Trinkwasser bedrohende Methode der Gasförderung verabschiedet. Doch die rot-grüne Landesregierung in Hannover hält den Energiekonzernen die Tür mit wachsweichen Formulierungen offen, was zwei Aktivisten der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg mit einem heiteren, alle Anwesenden einbeziehenden Fracking Bullshit Bingo veranschaulichen.

Mit Gitarre am Mikro sitzend - Foto: © 2014 by Schattenblick

Peter Herrmann singt das Braunkohlelied
Foto: © 2014 by Schattenblick

Abgerundet wird der um die aktuellen Energiekämpfe kreisende Part des Festivals von den Songs des Liedermachers Peter Herrmann aus Hamburg. Im Braunkohlelied schildert er auch, wie der Vorgarten eines ehemaligen RWE-Vorsitzenden in einen Tagebau eigener Art verwandelt wurde. Am eigenen Leib zu spüren zu bekommen, was die den Aktionären verpflichtete Geschäftspolitik eines Energiekonzerns Tausenden von Menschen antut, ist vielleicht nicht die schlechteste Möglichkeit, deren Ohnmacht auch diejenigen spüren zu lassen, die sie verursachen.

Bühnenansicht mit vier Musikern - Foto: © 2014 by Schattenblick

Beelzebub Airlines
Foto: © 2014 by Schattenblick

So gemächlich der Übergang zwischen den einzelnen musikalischen Darbietungen verläuft, so entschieden geht es zur Sache, wenn die Verstärker angestellt werden. Die Gruppe Beelzebub Airlines beeindruckt mit einem zwischen Jazz, Rock, Fusion und Psychedelic ausgespannten, energisch gespielten Sound. Wolfgang Nowak am Schlagzeug und Andreas Schneider am E-Baß sorgen für eine rhythmische Grundlage, deren hochgradige Flexibilität für jeden noch so extravaganten Soloausflug den erforderlichen Bodenkontakt herstellt. Niko Paech übernimmt am Saxophon, dessen Klänge ferne Erinnerungen an Soft Machine und Kraan wach werden lassen, den eher lyrischen Part der musikalischen Erzählung. Gitarrist Michael Ellis läßt mit wuchtigen Riffs das Herz des Rockfans höher schlagen und setzt schneidende Soloakzente mit sicherem Gespür für die Dynamik des Gesamtwerks.

Saxophonist und Gitarrist - Fotos: © 2014 by Schattenblick Saxophonist und Gitarrist - Fotos: © 2014 by Schattenblick Saxophonist und Gitarrist - Fotos: © 2014 by Schattenblick

Niko Paech und Michael Ellis
Fotos: © 2014 by Schattenblick

Auf und vor der Bühne - Fotos: © 2014 by Schattenblick Auf und vor der Bühne - Fotos: © 2014 by Schattenblick

Wolfgang Nowak, Andreas Schneider, unterstützt von Keyboards und Congas
Fotos: © 2014 by Schattenblick

Höchst lebendig wird das Spiel der Band durch das spannende Verhältnis von strukturierter Komposition und innovativer Improvisation. Gerade weil im gemeinsam geschaffenen Gefüge Spannungsbögen und Bruchlinien auftauchen, die etwas Neues ankündigen, freut sich das Publikum darüber, Zeuge eines evolutionären Prozesses zu sein, demgegenüber die perfektionierte Sterilität mancher Jazzrock-Kapelle nichts als gepflegte Langeweile verströmt. Was diese 1983 im Umfeld der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg entstandene und seit 2004 vollends aktiv gewordene Combo zu bieten hat, wird beim Auftritt in Gedelitz noch durch einen neu hinzugestoßenen Keyboarder auf begeisternde Weise bereichert. Wer noch im Ohr hat, was Läufe und Akkorde im brummenden Sound einer analogen Hammond-Orgel zum Klangbild einer Jazzrockgruppe beitragen können, kann auch hier auf eine imaginäre Reise ins Reich synästhetischer Formen und Figuren gehen.

Auf der Bühne mit Gitarre und anderm Saiteninstrument - Fotos: © 2014 by Schattenblick Auf der Bühne mit Gitarre und anderm Saiteninstrument - Fotos: © 2014 by Schattenblick Auf der Bühne mit Gitarre und anderm Saiteninstrument - Fotos: © 2014 by Schattenblick

Art Zen
Fotos: © 2014 by Schattenblick

Einen ganz anderen Ton schlägt Art Zen an. Wer da als Fußballfan mit Deutschlandfähnchen einmarschiert, hat alles andere im Sinn, als den angeblich positiven Patriotismus hochleben zu lassen, der das Land seit dem "Sommermärchen" 2006 durchwogt. Wie es um den vermeintlich harmlosen Charakter der nur scheinbar einem bloßen Sportereignis gewidmeten Nationalbegeisterung bestellt ist, davon kündet die Hetzkampagne gegen "Pleitegriechen", das Ertrinken von "Armutsmigranten" im Mittelmeer und die Sanktionierung angeblich betrügerischer Leistungsempfänger zur Genüge. Sozialrassismus ist nicht nur Ideologie, sondern Lebenshaltung, und kein exklusives Merkmal von Nazis, sondern gutbürgerliche Grundausstattung der neofeudalen Klassengesellschaft.

Art Zen läßt in seinen Liedern keinen Zweifel daran, daß die regierungsamtlich und massenmedial erzählten Märchen kein Happy End haben, sondern zu Lasten derjenigen gehen, denen keine Stimme und kein Gesicht zugestanden wird. Obwohl der Soloauftritt dieses Veterans der deutschen Progrock-Szene nur eine halbe Stunde währt, hinterläßt er bleibenden Eindruck. In bester Liedermachertradition leuchtet Art Zen die gesellschaftlichen Untiefen des Krisengewinnlers Bundesrepublik aus. Rio Reiser und Franz Josef Degenhardt lassen grüßen, wenn Lieder aus einer Zeit erklingen, als Gesellschaftskritik noch nicht mit Häme verwechselt und überhaupt auf diesen Begriff gebracht wurde.

Sängerin, Gitarrist, Schlagzeuger - Fotos: © 2014 by Schattenblick Sängerin, Gitarrist, Schlagzeuger - Fotos: © 2014 by Schattenblick Sängerin, Gitarrist, Schlagzeuger - Fotos: © 2014 by Schattenblick

STROM
Fotos: © 2014 by Schattenblick

Was sich nun beim Auftritt der Kasseler Band STROM auf der Bühne entfaltet, mag dem einen oder anderen zunächst als Kakophonie wüstester Art erscheinen. Wer sich jedoch in die vielfältige Klangwelt, in der die Stimme der Vokalistin Carmen Weidemann fast wie ein eigenes Instrument wirkt, hineinbegibt, hat teil an einer organischen Entwicklung, die dem Zuhörer neue Horizonte musikalischen Erlebens eröffnet. Wohin die Reise auf diesem breiten Strom höchst heterogener und doch miteinander kommunizierender Sounds führt, ist auch den Musikern nicht bekannt. Das Aufregende an ihrer Klangkunst besteht nicht nur darin, daß sie Ungehörtes hörbar macht, sondern daß sie jegliches Zeitmaß transzendiert. Man kann auf der Stelle treten und doch den Eindruck hoher Beschleunigung haben, was um so mehr zum aktiven Mitmachen etwa durch das Traktieren eines Schlagwerks einlädt.

Transparent am Festivalplatz - Foto: © 2014 by Schattenblick

Foto: © 2014 by Schattenblick

Dem freien Fluß hält kein Museum stand

Free Flow - der Name ist nicht nur musikalisch Programm, er repräsentiert auch die Besinnung auf eine Subjektivität, die dem Warencharakter kulturellen Konsums wirksam entgegentreten kann. Nicht verfügbar zu sein für die Gefälligkeit und Wiedererkennbarkeit gängiger Musikformate, setzt ein Interesse an künstlerischen Ausdrucksformen voraus, das zur Passivität bloßer Bespaßung in einem ausschließenden Verhältnis steht. Das Festival in Gedelitz, das sicherlich nicht das einzige dieser unkommerziellen, vom Wunsch nach einem erfreulichen Miteinander randständiger Sozialkulturen und widerständiger Lebensformen beseelten Treffen ist, hat Zukunft. Nicht im Museum verblichener Artefakte und im Archiv auf die nächste Sonderedition wartender Masterbänder eingesperrt, sondern auf dem freien Feld unter Menschen gebracht, entfaltet die künstlerische Tradition des Prog- und Krautrock kreative Wirkung, die Zukunft hat, weil nur dort in längst verwehter Zeit gelegte Samen Blüten treiben können.

Ortschild Gedelitz - Foto: © 2014 by Schattenblick

Foto: © 2014 by Schattenblick

28. August 2014