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BERICHT/004: Linienhof bleibt! ... Gentrifizierung links gewendet (SB)


Werkstattprojekt Linienhof in Berlin-Mitte von Räumung bedroht

Hoftor mit Transparent - Foto: © 2011 by Schattenblick

Eingang zum Linienhof in der Kleinen Rosenthaler Strasse Foto: © 2011 by Schattenblick

Im Zentrum gesellschaftlicher Reproduktion, der Stadt, wird die Sicherung des täglichen Lebens zusehends in Frage gestellt. Die Beseitigung erschwinglichen Wohnraums in den Innenstädten läßt immer mehr Menschen in unwirtliche Randbezirke abwandern, selbst wenn sie ihren Lebenserwerb nach wie vor in der Sphäre hochproduktiver Wertschöpfung bestreiten, wo der Bedarf an niedrig entlohnten Beschäftigten eher zu- denn abnimmt. Während sich das von den Metropolen ausstrahlende Versprechen auf Teilhabe und Wohlstand für immer weniger Menschen erfüllt, erzeugt der postindustrielle Kapitalismus neofeudale Abhängigkeitsverhältnisse, in denen Ver- und Entsorgung der innovativen Kerne verbliebener Kapitalakkumulation organisiert werden. An der Kasse oder im Lager des Supermarkts, als Servicepersonal im Hotel oder als Wachmann in der Shopping Mall, als sich von einem Auftrag zum nächsten hangelnder IT-Jobber - die atomisierte Existenz als prekär beschäftigter Niedriglohnarbeiter ist zur Regel einer gesellschaftlichen Reproduktion geworden, deren Subjekte der allgemeinen Wertschöpfung mehr denn je als auszubeutende Ressource dienen.

Das große Geld wird vor allem jenseits der Produktion materieller und kultureller Güter auf dem Finanzmarkt und in der Immobilienspekulation gemacht. War der Marktplatz jahrhundertelang nicht nur Zentrum merkantiler Aktivität, sondern auch zentraler Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzung, so ist er heute selbst zum Objekt der Wertsteigerung geworden. Die Standortlogik, attraktive Bedingungen für Investivkapital zu schaffen, beherrscht das Feld der architektonischen Gestaltung, des infrastrukturellen Stoffwechsels und der kulturellen Inszenierung eines Lebens, dem die unverfügbare Subjektivität desto mehr verlorengeht, als der Griff nach Originalität und Authentizität auf die Schattenwürfe längst erfolgter Unterwerfung unter den Imperativ der Verwertung stößt. Wo die Stadt nicht mehr als Lebensraum, sondern als Konzern, als Marke, als Maschine begriffen wird, da erscheint der Mensch, der sich nicht in die Prozeßlogik der Akkumulation einspeisen lassen will, als zu unterwerfender oder eliminierender Widerstand.

Von diesem keineswegs naturgegebenen, sondern interessenbedingten Gewaltverhältnis künden auch die Protestbewegungen, die mit dem Motto "Recht auf Stadt" versuchen, der Zerstörung organisch gewachsener sozialer Verhältnisse entgegenzutreten. Die der Gentrifizierung zugrundeliegende Wertsteigerung, die all diejenigen, die nicht an ihr teilhaben, frei nach dem Primat des Marktes dorthin verbannt, wo sie ihr Überleben noch fristen können, zerschlägt nicht nur die Sozialstrukturen proletarischer, subkultureller oder migrantischer Lebensformen, sondern zerstört auch verbliebene Freiräume explizit antikapitalistischer Selbstorganisation.

Fassade eines leerstehenden Hauses - Foto: © 2011 by Schattenblick

Brunnenstr. 183 - 2009 zum Leerstand geräumt
Foto: © 2011 by Schattenblick

So werden in der größten deutschen Metropole Berlin systematisch die seit der Blütezeit der Hausbesetzerbewegung in den 1980er und 1990er Jahren bestehenden Wohn- und Lebensprojekte entweder geräumt oder über ihre Legalisierung schrittweise in den Zustand bürgerlicher Normalität zurückgeführt. Das humane Bedürfnis des Wohnens hat dem Rechtsanspruch auf Eigentum zu weichen, ansonsten wäre die Basis marktwirtschaftlicher Wertschöpfung in Frage gestellt. Die Räumung der Liebigstraße 14 Anfang Februar 2011 konnte trotz großer Mobilisierung nicht verhindert werden, geht die Staatsgewalt doch im Zweifelsfall mit aller Härte zu Werke, wenn ein Rechtstitel durchzusetzen ist. Neue Besetzungen sind kaum mehr möglich, setzt der Berliner Senat doch die harte Linie durch, in solchen Fällen innerhalb von 24 Stunden wieder zu räumen.

Akut gefährdet unter den verbliebenen selbstverwalteten Projekten ist derzeit der Linienhof in Berlin-Mitte. Das an der Kleinen Rosenthaler Straße 9 liegende Gelände ist seit der sogenannten Wende durchgehend besetzt und dient den Menschen, die es nutzen, nicht nur als Ort, an dem sie selbstbestimmt arbeiten können, sondern auch als sozialer Treffpunkt. Die dort vorhandene Schmiede ist für Metallarbeiten aller Art ausgestattet, es besteht die Möglichkeit, das Auto, das Fahrrad oder den Bauwagen zu reparieren, eine Puppentheaterwerkstatt und Gerätschaften für Holzarbeiten komplettieren das Ensemble handwerklicher Möglichkeiten. Es gibt Platz für Bildhauerei, es wurden bereits Kunstausstellungen veranstaltet, so daß der Schaffenskraft lediglich materielle Grenzen gesetzt sind. Diese werden so weit wie möglich nach der Devise Do It Yourself in Eigenregie und unter Wiederverwendung kostenlosen Materials überschritten.

Werkstatt für Autos und anderes - Foto: © 2011 by Schattenblick

Werkstatt mit Grube für Autoreparatur
Foto: © 2011 by Schattenblick

Pia Hansen, Sven Peters und Frederick Runge vom lose organisierten Kollektiv des Linienhofs hoben gegenüber dem Schattenblick insbesondere die Möglichkeit hervor, sich in der offenen Werkstatt Grundkenntnisse der Metallverarbeitung wie Schweißen oder Handschmieden anzueignen. Was ansonsten nur im Rahmen einer Berufsausbildung oder in kostenpflichtigen Kursen erlernt werden kann, ist hier auf gänzlich unbürokratische Weise für jede und jeden machbar, wenn Interesse daran besteht, auf selbstbestimmte Weise produktiv und kreativ zu werden.

Zwar verfügt der Linienhof mit Kathedrale e.V. über einen Trägerverein, zudem hat der der Entwicklung dezentraler Konzepte der Energieversorgung gewidmete Verein Wind säen e.V. seinen Sitz an dieser Adresse. Dennoch liegt es den Aktivistinnen und Aktivisten fern, sich über das notwendige Maß hinaus zu institutionalisieren. Das Konzept des Freiraums ist hier ganz wörtlich zu verstehen und im herzlichen unhierarchischen Umgang der auf dem Linienhof arbeitenden Menschen erfahrbar. Andererseits kommen sie nicht darum herum, diese Arbeits- und Lebensmöglichkeit aktiv gegen den Zugriff der Eigentümer des Geländes zu verteidigen.

Wie in einem Mikrokosmos gesellschaftlicher Widersprüche treffen dort Interessen aufeinander, die exemplarisch für den ruinösen Charakter kapitalistischer Vergesellschaftung in seiner aggressivsten, neoliberalen Form stehen. Wurden dieses Gelände und das anliegende Haus Linienstrasse 206 vor 20 Jahren im Klima eines Aufbruchs besetzt, der in den noch unregulierten Verhältnissen im Osten Berlins auf staatlicherseits relativ unbehinderte Weise florieren konnte, so betrieb das vereinte Deutschland spätestens zur Jahrtausendwende den sozialen Krieg, die perfektionierte Inwertsetzung des Menschen bis in die letzten Winkel bis dato unkontrollierbarer Subjektivität. Traktiert mit der Peitsche des ökonomischen Mangels, auf Arbeitszwang getrimmt durch das Hartz IV-Regime, wird das Feld menschlicher Beziehungen auf sozialdarwinistische Konkurrenz zugespitzt, bis der Blick auf den anderen nichts als den eigenen Vorteil, der aus ihm zu ziehen wäre, bilanziert.

Was am Menschen noch nicht oder nicht mehr fremdnützig zu verbrauchen ist, soll keinesfalls dem Privileg einer Autonomie überlassen werden, aus der heraus wirksame Gegenstrategien zur Totalität des herrschenden Verwertungsanspruchs erwachsen könnten. Insofern sind Freiräume wie der Linienhof über das vordergründige Interesse der Eigner an Grund und Boden hinaus Symbole einer Gegenbewegung, die, wie im Fall der Berliner Hausbesetzerszene, nur scheinbar das Ende einer historischen Epoche vitalen Aufbegehrens markieren. Diese verändert lediglich ihre Form, wie sich gerade in diesem Jahr mit den Erhebungen arabischer Bevölkerungen, mit den Riots in Griechenland und Britannien, mit bürgerlichen Bewegungen gegen das Finanzkapital, mit neuen Formen migrantischer Selbstorganisation und der anwachsenden Beteiligung an der Recht auf Stadt-Bewegung zeigen. Wie disparat und destruktiv manche Aktionsformen auch wirken mögen, so zeigt der monolithische Charakter globaler Hegemonie von Staat und Kapital doch Risse einer Unverfügbarkeit, die durch bloße Repression nicht mehr zu kitten sind.

'Jede Räumung hat ihren Preis - Linienhof bleibt!' - Foto: © 2011 by Schattenblick

Ordnung und Widerstand
Foto: © 2011 by Schattenblick

Um so bedeutsamer für die Befriedung unter herrschenden Bedingungen unauflöslicher Widersprüche sind Strategien der Immunisierung des sozialen Widerstands, in denen der Anspruch auf Selbstbestimmung unter Ausklammerung der konstitutiven Eigentumsfrage gegen sich selbst gekehrt wird. Die Etablierung einer neuen, aus den radikalen Aufbrüchen der 1960er und 1970er Jahre erwachsenden Bourgeoisie erfolgt nicht zuletzt unter dem Vorzeichen der Ideologie eines besseren Lebens, für das man es sich im Kapitalismus bequem einrichten kann, wenn es nur CO2-neutral daherkommt, und dessen internationale Verteidigung frei nach der humanitären Logik des kleineren Übels auch mit militärischer Gewalt erfolgen kann.

Mittelbar betroffen von den Ausläufern dieser Ideologie sind auch die Aktivistinnen und Aktivisten des Linienhofs. 2001 erstand eine Investorengruppe das Gelände von der einst im öffentlichen Besitz befindlichen, inzwischen privatisierten Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Mitte (WBM). Da es den neuen Eignern jedoch lediglich darum ging, das Objekt nach zu erwartender Wertsteigerung wieder abzustoßen, stimmten sie einer Nutzungsvereinbarung zu. In Frage gestellt wurde diese durch die nächsten Eigner, eine Baugruppe um die künstlerische Direktorin der Kulturstiftung des Bundes, Hortensia Völckers, den Publizisten und Globalisierungskritiker Mathias Greffrath und die Architektin Anne Lampen. Sie planten auf dem Gelände den Bau eines Mehrgenerationenhauses zum Eigengebrauch und zeigten sich den Nutzerinnen und Nutzern des Linienhofs gegenüber anfangs durchaus konziliant. So würdigten sie, wie diese erklären, den soziokulturellen Wert der am Linienhof verrichteten Arbeit, nahmen Kontakt zum Anwalt des Trägervereins auf und erklärten sich bereit, die Fortführung des Projekts mit einer Finanzierung von bis zu 15.000 Euro und Unterstützung bei der Suche nach einem Ersatzort sicherzustellen.

Ein ernstzunehmendes und gleichwertiges Angebot, durch das das Werkstattprojekt hätte fortgeführt werden können, erfolgte den Gesprächspartnern des SB zufolge jedoch nicht, obwohl sich Greffrath und Völckers später darauf beriefen, ein solches unterbreitet zu haben. Die Eigner bekräftigten zudem, daß es niemals ihre Absicht war, ein solches Projekt zu zerstören, bezweifelten jedoch, ob es sich beim Linienhof überhaupt um ein solches handelte. Ihrer Ansicht nach haben sie eine Freifläche gekauft, das wird auch in einem Artikel der taz [1] nahegelegt, in dem der Linienhof als gelegentlich genutzte Brache vorgestellt wird. Dort wird Greffrath mit den Worten zitiert, er hätte die Finger von seinem Bauvorhaben gelassen, wenn es eine Wagenburg auf dem Gelände gegeben hätte. Dieses habe jedoch bis auf die Tatsache, daß "ab und an welche geschraubt" hätten, bei denen es sich jedoch nie um die gleichen Leute gehandelt habe, frei gestanden. Zudem seien seine Versuche einer Kontaktaufnahme stets daran gescheitert, daß sich die Besetzerinnen und Besetzer nicht namentlich zu erkennen geben wollten.

'für mehr selbstverwaltete unkommerzielle Projekte' - Foto: © 2011 by Schattenblick

Selbstorganisation jenseits der Arbeitsgesellschaft
Foto: © 2011 by Schattenblick

Ob es nun zutrifft, daß Völckers und Greffrath ihrerseits einen Dialog mit ihnen verweigerten, oder andere Gründe dafür vorliegen, warum es zu keiner gütlichen Einigung kam, scheint für den faktischen Verlauf der Entwicklung von nachrangiger Bedeutung zu sein. Tatsachen wurden geschaffen, indem der Verein Kathedrale e.V. am 22. Juni 2010 schriftlich zur Räumung des Geländes binnen zweier Wochen mit Verweis darauf aufgefordert wurde, daß die Bauarbeiten Anfang August beginnen sollten. Nachdem die Unterstützerinnen und Unterstützer des Linienhofs sich vor dem Gelände mehrmals zum gemeinsamen Frühstück trafen und das Vorhaben auch auf andere Weise öffentlich gemacht wurde, etwa indem den Eignern ein von diversen Berliner Gruppen aus besetzten Häusern, Wagenburgen und linken Zusammenhängen unterzeichneter Brief [2] überreicht wurde, unterblieb der Versuch, das Gelände zu inspizieren und für den Baubeginn vorzubereiten.

Statt dessen entbrannte in mit dem Kampf gegen Gentrifizierung befaßten Kreisen eine Debatte um die Frage, inwiefern Baugruppen ein ernstzunehmendes soziales Anliegen vertreten oder sie diesen Anspruch dazu mißbrauchen, um ihr Interesse an sicherem und gutem Wohnraum zu Lasten finanziell nicht so gut gestellter Menschen durchzusetzen. Zwar wollen als Baugruppe auftretende Bauherreninitiativen die von ihnen errichteten Häuser nicht als Spekulationsobjekte oder zum Erzielen hoher Mieteinnahmen nutzen. Ihr Unterfangen, selbstbestimmtes, ökologisch wertvolles Wohnen jenseits einer an Lobbyinteressen ausgerichteten Stadtentwicklungspolitik in Eigeninitiative zu verwirklichen, beruht jedoch auf Eigentumsverhältnissen, die am zentralen sozialen Konflikt nicht rühren wollen. Sich, wie es der ehemalige Hausbesetzer und heutige Baugruppenmanager Andreas Büsching tut [3], weiterhin in der Tradition der Squatter zu verorten und zu behaupten, für radikale politische Interventionen gäbe es heute keinen Anlaß mehr, dokumentiert, wie fugenlos der Übergang ins arrivierte Bürgertum vonstatten gehen kann.

Das soziale Anliegen der Baugruppen scheint im wesentlichen um deren Mitgliederinnen und Mitglieder zentriert zu sein. Durchaus äquivalent zum Green New Deal des ökologisch wertvollen Kapitalismus oder dem Menschenrechtsinterventionismus der NATO wird die eigene Vergesellschaftung als im Grundsatz alternativlos gutgeheißen und zu ihrer Legitimation das bewährte emanzipatorische Vokabular aufgerufen, während sein Vorzeichen sich unter dem Primat der herrschenden Verwertungsordnung in sein Gegenteil verkehrt. Ganz deutlich wird dies in einem Beitrag zur Baugruppendebatte, die 2010 im unmittelbaren Umfeld des Konflikts um den Linienhof auf dem Gentrification Blog geführt wurde. Unter den lesenswerten, unter anderem von dem Stadtsoziologen Andrej Holm beigesteuerten Beiträgen findet sich eine Meinungsbekundung, die so oder ähnlich auch aus dem Mund eines FDP-Politikers stammen könnte:

"Wo sind denn die Initiativen der Gentrifizierungsopfer die nicht nur rummeckern und protestieren sondern direkt versuchen an ihrer Lage etwas zu ändern? Außer dem Mietshäusersyndikat fällt mir da nix ein. Da ist dann wieder die eigene Angst wirklich was auf die Beine stellen zu wollen. Aber für diese Schwäche können nicht der Staat und damit alle wirklicklichen [sic] Steuerzahler in die Haftung genommen werden. Sorry, aber das Leben besteht aus Eigenverantwortung was daraus zu machen und nicht nur nach dem bequemen Ruf nach staatl. Unterstützung." [4]

Tatsächlich streben die Besetzerinnen und Besetzer des Linienhofs, wie sie dem SB gegenüber erklärten, keineswegs staatliche Unterstützung an. Ebensowenig kann man ihnen anlasten, nicht aktiv für ihre Interessen einzutreten. Was ihnen die Sachwalter der herrschenden Ordnung sicherlich vorwerfen könnten ist ihre Neigung, sich aus offenkundigen Widerspruchslagen nicht sang- und klanglos davonzustehlen, sondern Flagge zu zeigen und ihre Sache unabhängig von den Maßgaben ökonomischer und administrativer Verfügungsgewalt in die Hand zu nehmen. Ihrem Werkstattprojekt vorzuhalten, es weise keine personelle und organisatorische Kontinuität auf, verfüge nicht über eine geordnete institutionelle Repräsentanz, ja sei eine bloße "Erfindung" und zweckdienliche "Legende" [1], ist Ausdruck nämlichen Ordnungsdenkens. Ein wie auch immer verfaßter Betrieb hat effizient und transparent zu funktionieren, muß vorzeigbare Ergebnisse produzieren und sich insgesamt auf eine Weise legitimieren, die ihn für die Parameter der Arbeitsgesellschaft evaluierbar machen. Sich diesem Zugriff zu entziehen erweckt den Verdacht, daß die Sklaven sich ihren Herren widersetzen und auf subversive Weise den Aufstand proben. Wer das Streben nach Freiheit ernst nimmt und sich nicht mit warenförmigen Ersatzbefriedigungen abspeisen lassen will, der bestreitet von vornherein, sich welcher Instanz auch immer gegenüber für das eigene Tun rechtfertigen zu müssen. Anderslautenden Behauptungen zuwider ist das nicht das Programm für Chaos und Gewalt, sondern eine wesentliche Voraussetzung dafür, Verantwortung in herrschaftsfreier Form zu übernehmen.

'Manifest' des Linienhofs - Foto: © 2011 by Schattenblick

Autonomie bedarf keiner Rechtfertigung
Foto: © 2011 by Schattenblick

Die sich am Beispiel des Linienhofs entfaltende Widerspruchslage produktiv zu nutzen bedarf der konsequenten Analyse der gesellschaftlichen Positionen, die sich in ihr artikulieren. Zweifellos sind die Chancen seiner Nutzerinnen und Nutzer gering, sich dauerhaft dem Legalismus des Eigentumsrechts zu widersetzen. Dieses zum Problem sozialer Gerechtigkeit zu erheben erschließt das Potential der Kritik allerdings auf andere Weise, als mit der Verabsolutierung des Rechts das Denken auf dessen Maßgaben zu beschränken und jeglicher Utopie eine Absage zu erteilen. Möglicherweise bestand hier noch eine Art linker Restverwandtschaft zwischen der Baugruppe und den Besetzerinnen und Besetzern des Linienhofs. Erst ein knappes Jahr später erfolgte der nächste Versuch, das Werkstattprojekt zum Baugrund zu machen. Er wurde im Namen einer noch in Gründung befindlichen Firma vorgetragen, die das Gelände zwischenzeitlich gekauft hatte. In welchem Verhältnis die Kles GmbH zu den vorherigen Eignern steht, ist den Aktivistinnen und Aktivisten des Linienhofs seither Anlaß zur Spekulation, wurde ihnen der Eigentümerwechsel doch nicht eigens mitgeteilt.

Statt dessen erfuhren sie am 29. Juni 2011, daß die Bauarbeiter bereits mit Bagger und Container auf dem Gelände standen. Sie hatten frühmorgens das Schloß des Hoftores aufgebrochen, sich gewaltsam Zugang zu den Werkstätten verschafft und bereits einigen Schaden angerichtet, so zum Beispiel die Belüftung der Schmiedewerkstatt aus der Wand gerissen. Buchstäblich in letzter Minute konnte der Abriß der Gebäude verhindert werden, in denen sich die Werkstätten befinden. Die Kles GmbH, die sich ihnen auf diese Weise als neue Eigentümerin vorstellte, hatte es vermieden, sich im Vorfeld dieses Übergriffs an den Verein Kathedrale e.V. zu wenden, um ihre Ansprüche geltend zu machen, sondern war ganz im Sinne der neoliberalen Doktrin der "kreativen Zerstörung" zu Werke gegangen. Wie ein Gesprächspartner des SB erklärte, sei der Voreigentümer Greffrath am Tag des Einbruchs mit dem Anwalt der Kles GmbH kaffeetrinkenderweise in der Lobby eines nahegelegenen Hotels gesichtet worden, was Fragen zu den Gründen des neuerlichen Verkaufs des Geländes nicht eben verstummen ließ.

Mit Hilfe einer einstweiligen Verfügung, deren Gültigkeit am 24. August gerichtlich bestätigt wurde, konnten die Nutzerinnen und Nutzer des Linienhofs das von der Polizei bis zur Klärung der Situation beschlagnahmte Gelände wieder in Gebrauch nehmen. Sie sind jedoch weiterhin von einer Räumung bedroht, werden die Besitzrechte doch am 7. November 2011 am Landgericht Berlin, Tegeler Weg 17-21, um 9.45 Uhr verhandelt.

'Solidarität mit dem Linienhof' - Foto: © 2011 by Schattenblick

Was soll an Zerstörung kreativ sein?
Foto: © 2011 by Schattenblick

Ein Blick auf das Gelände des Linienhofs reicht, um zu ermessen, daß seine Bebauung mit einem schmucken Wohnhaus die Geschäftsleute des umliegenden Gebiets aufatmen lassen wird. "Drum herum ist alles gesäubert" - der Autor des taz-Artikels hat den Konflikt um den Linienhof unter dem Titel "Die letzte Brache in Mitte" [1] ganz unverblümt auf jene urbane Ästhetik gemünzt, die Stadtverwaltung, Sicherheitsbehörden und Investoren ein Wohlgefallen ist. Wo man früher vom Gelände des Linienhofs auf die Rosenthaler Strasse blicken konnte, erheben sich nun weiße Hotelgebäude, auf deren Balkons sich immer wieder Gäste versammeln, um die Exoten unter ihnen für ihr Diaarchiv zu verewigen. Als letzte Mohikaner des umfassend gentrifizierten Viertels um den Rosenthaler Platz sind sie zu einem beliebten Fotomotiv der zahlreichen Touristen geworden, um deren Geld sich die Boutiquen und Restaurants der Gegend rangeln. Währenddessen fällt es den Nutzerinnen und Nutzern des Linienhofs zusehends schwer, in der Nähe noch kostengünstig etwas zum Essen zu kaufen, so sehr hat sich die soziale Zusammensetzung des Viertels gewandelt.

Der Aufwertung der dort neu errichteten oder renovierten Immobilien ging typischerweise der Zuzug der sogenannten kreativen Klasse voraus. Der Ruf der künstlerischen Avantgarde, mutig die Grenzen der Konvention zu überschreiten und dabei nicht an virulenten gesellschaftlichen Konflikten vorbeizuschauen, übersetzt sich im urbanen Raum nicht selten in eine Grenzüberschreitung ganz profaner Art. Die Besiedelung und Nutzung leerstehender Gebäude, Ladenlokale und Fabriketagen durch Künstlerinnen und Künstler bahnt einem Investivklima den Weg, das dem stets nach neuen Verwertungsmöglichkeiten Ausschau haltenden Kapital expansive Felder der Wertschöpfung eröffnet. Diese in allen Metropolenregionen hochproduktiver Gesellschaften ähnlich verlaufende Entwicklung versieht damit nicht nur die Wohn- und Lebensqualität urbaner Landschaften mit einem Exklusivitätssiegel, das das gute Leben in der Stadt denjenigen vorbehält, die es bezahlen können. Sie transformiert auch Kultur und Sprache nach Maßgabe einer sozialdarwinistischen Durchsetzungs- und Leistungsdoktrin, die Individualität und Kreativität nur in ihren warenförmigen und verkehrsfähigen Attributen bestehen läßt.

Von daher kann es nicht erstaunen, wenn etwa der Begriff der "Eigenverantwortung" bar jeden emanzipatorischen Gehalts auf ein Bezichtigungskonstrukt heruntergebrochen wird, mit dem all diejenigen stigmatisiert werden, deren Lebenserwerb an positiv darstellbarer gesellschaftlicher Rentabilität mangelt. Verantwortung zu übernehmen für gemeinschaftliches Handeln, indem die Voraussetzungen für ein Arbeiten ohne Herren und Knechte geschaffen werden, wird in dieser neoliberalen verantwortungsethischen Kategorie ausschließlich als Verlust verbucht. Sich nicht profilieren zu wollen, sondern der Verstärkung kollektiven Handelns den Vorzug zu geben, scheint dementsprechend nurmehr als mythischer Funken verlorengegangener Erinnerung auf. Das Schmiedehandwerk zu erlernen, ohne sich damit fit zu machen für die Erzeugung geldwerter Produkte, ist von ebensolcher verwerflichen Subversivität.

Hammer und Amboß - Foto: © 2011 by Schattenblick

Zukunft schmieden ...
Foto: © 2011 by Schattenblick

Es ist daher nicht ohne Ironie, daß eine Kulturmanagerin ersten Ranges wie Hortensia Völckers als ehemalige Eignerin des Geländes vom Linienhof daran beteiligt war, ein Werkstattprojekt zunichte zu machen, in dem Handwerk und Kunst sich selbst genügen, weil die Menschen schlicht Freude daran haben, naheliegende und unspektakuläre Ziele in freundschaftlicher Atmosphäre zu verfolgen. Demgegenüber fungiert die von Sponsoren aus Staat und Kapital geförderte Inszenierung von Kunst und Kultur als Legitimationsvehikel einer kapitalistischen Vergesellschaftung, deren Exponaten man die vergebliche Mühe ansieht, sich dem Warencharakter funktionalisierter Produktivität zu entziehen und die Verbindung zu den Quellen humaner Authentizität und Schaffenskraft wiederherzustellen. Gerade die Bundeshauptstadt Berlin ist ein Musterbeispiel für die postmoderne Fetischisierung von Kunst und Architektur als sinnstiftende Faktoren einer gesellschaftlichen Reproduktion, deren ökonomischer wie kultureller Schwund substantiell nicht mehr einzuholen sind.

Auf eine Weise künstlerisch tätig zu sein, die den Warencharakter der Kunstproduktion so wirksam angreift, daß sie nicht für fremde Zwecke vereinnahmbar ist, ist in Anbetracht der hochentwickelten Adaptionslogik der etablierten Kulturindustrie ohne eine antagonistische Lebenspraxis kaum mehr möglich. Die Aktivistinnen und Aktivisten des Linienhofs gehören zu jenem gesellschaftlich kaum wahrgenommenen Teil der Bevölkerung, der die Einspeisung seiner Subjektivität in die große Maschine nicht widerstandslos hinnehmen will. Als wollten sie Einzug halten in den "Berliner Atlas paradoxaler Mobilität" [5], der im Rahmen des von der Kulturstiftung des Bundes unter Leitung von Frau Völckers mitinitiierten Projekts "Über Lebenskunst" [6] erstellt wurde, verwandelten die Unterstützerinnen und Unterstützer des Linienhofs am 20. Oktober die Straße selbst in eine Werkstatt. Mitten in Kreuzberg unweit des Wohnortes von Mathias Greffrath wurde die Esse der auf einen Hänger verfrachteten Schmiede geschürt, um den Hammer unter großem Interesse der dort lebenden Bevölkerung in aller Öffentlichkeit zu schwingen.

Dem Kunstprojekt, das sich mit Überlebensproblemen in Zeiten der Krise und der Entwicklung neuer Lebensformen zu ihrer Bewältigung auseinandersetzte, hätte der Linienhof ein exemplarisches Beispiel dafür sein können, wie sich Menschen mit geringen Mitteln und hohem Engagement unabhängig von Sozialkontrolle und Administrativaufsicht selbst organisieren. Als die Aktivistinnen und Aktivisten im September 2010 Frau Völckers beim Eröffnungsvortrag zu dieser Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt besuchten, um dort mit einem Transparent "Die Kunst des Überlebens mit Frau Völckers - Linienhof bleibt!" auf ein bereits realisiertes Beispiel kollektiver Selbstorganisation hinzuweisen, kam nicht mehr heraus als die unverbindliche Vertagung des Problems. Auch ein Jahr später in der Kreuzberger Oranienstraße verhallte das Anliegen der Aktivistinnen und Aktivisten des Linienhofs auf seiten derjenigen, die Verantwortung für den drohenden Abriß der Werkstätten auf dem Gelände tragen, ungehört. Wenn linke demokratische Kultur nur dann Sinn zu machen scheint, wenn sie die Eigentumsordnung dieser Gesellschaft nicht in Frage stellt, dann ist es an der Zeit, sich daran zu erinnern, was jeglicher Sinnstiftung vorausgeht.

Fußnoten:

[1] http://www.taz.de/!56532/

[2] http://linienhof.blogsport.de/2010/08/

[3] http://www.taz.de/!48677/

[4] http://gentrificationblog.wordpress.com/2010/08/11/berlin-baugruppe-statt-freiraum/

[5] https://ssl.rheinmedia.de/merve/index.php/book/show/423

[6] http://www.ueber-lebenskunst.org/contents/page_view/nodeId:4

Konzernarchitektur am Potsdamer Platz - Foto: © 2011 by Schattenblick

Das Versprechen postmoderner Stadtinszenierung ...
Foto: © 2011 by Schattenblick

Alu-Glas-Fassaden nächtlicher Bürogebäude - Foto: © 2011 by Schattenblick

... endet in lebensfeindlichen Spiegelsärgen
Foto: © 2011 by Schattenblick

4. November 2011