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SERIE/037: Die tödliche Kriminalisierung der Heide L. - Nachruf


Die tödliche Kriminalisierung der Heide L.

Nachruf auf Heide Luthardt

Von Marion von Hofacker


Frei sein, Freiheit. Heide Luthardt liebte und lebte diese Worte - für sich selbst und für andere - für die Unterdrückten, für die Opfer des Krieges im Irak und in Afghanistan und für das palästinensische Volk in seinem verzweifelten Kampf um sein Recht auf Freiheit.

Inhaftierung, Gefangenschaft, Arrest. Einzelhaft. Was bedeuten solche Worte wie diese für jemanden, der die Freiheit so über alles liebte?

Heides Gefühl für Freiheit entwickelte sich aus ihrer Begeisterung und ihrer Nähe zur Natur. Natur war ihr Trost und ihre Inspiration. Ihr geliebter Vater starb, als Heide vier Jahre alt war, und sie suchte keine Zuflucht in der Enge ihres eigenen Zuhause, wie es Kinder normalerweise tun, wenn der Verlust eines Familienmitglieds die Abenteuerlust hemmt. Heide wählte mit großer Überzeugung den anderen Weg, hinauszugehen in die größere äußere Welt und Trost in dem Wunder der Schöpfung zu finden. Ihre Liebe zur Außenwelt wuchs ständig und als Heides Mutter - eine Krankenschwester in einer Kinderklinik, die nur wenig Zeit für ihre Kinder hatte - ihr ein eigenes Pferd schenkte, konnte sie Freiheit in vollen Zügen genießen. Heides Welt schien vom frühen Schock des Verlustes des Vaters befreit zu sein. Als erwachsener Mensch erzählte uns Heide, daß sie soviel Zeit wie möglich im Freien verbrachte mit Wanderungen, wo immer möglich, durch die Stadt, durch Parks und durch die Landschaft.

Wir wissen nichts über ihr Leben, bevor sie nach München kam, außer daß sie als medizinisch-technische Assistentin ausgebildet war und sie diesen Beruf auch ausgeübt hat. Wir wissen nicht, ob sie jemals verheiratet war oder eine Beziehung hatte. Sie hat nie über persönliche Dinge geredet.

Als sie 1990 nach München kam, fand sie eine Stellung als MTA in einem Münchner Krankenhaus, hat aber dann die Stellung gewechselt und fand Anstellung bei der Tiermedizinischen Klinik in Schleißheim. Sie mochte ihre neue Arbeitsstelle auch nicht. Nicht weil die Arbeit ihr schwerfiel, sondern - laut ihrer Mutter - weil ihr die Tiere so leid taten und sie es nicht aushielt, deren Leiden mitzuerleben. Sie fand bald eine neue Stelle, ihre letzte - eine Halbtagsstelle als Telefonistin an der Universität München. Warum hat sie eine solche Stelle ausgewählt, die ihren scharfen Intellekt so wenig forderte, weit unter ihren Qualifikationen lag und ihren forschenden Geist sicher langweilte? Vielleicht paßte diese Arbeit zu ihren damaligen Bedürfnissen, mit anderen Leuten in Verbindung zu stehen und trotzdem anonym am anderen Ende der Leitung zu bleiben.

Heide wurde ein Mitglied des Munich American Peace Committee. Sie nahm an Demonstrationen wie dem vom Münchner Friedensbündnis organisierten Ostermarsch und an den Protesten gegen die Münchner Sicherheitskonferenz teil. Bei unserer Thanksgiving-Feier im Jahre 2007 bot sie an, einen Sketch für unser Weihnachtsprogramm bei Radio Lora zu schreiben. Ihr Sketch war bei weitem der lebendigste - ein satirisch bissiger Brief an George W. Bush - und alle waren sich einig, daß sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Sie hatte das Talent für druckreifes Schreiben, und wir waren hocherfreut, sie in unserer Mitte zu haben.

Aber Heide hatte Zweifel an der Wirksamkeit ihrer Anstrengungen. Sie glaubte, daß andere Maßnahmen notwendig wären. Ohne jemand ins Vertrauen zu ziehen, begann sie mit dem Bauen von Bombenattrappen - in Summe elf Stück. Sie waren denkbar einfach unter Verwendung von Kinderspielzeug konstruiert. Aber wenn sie in Nah- und Fernverkehrszügen deponiert wurden, wurden sie zur Quelle von Furcht und von langen Verzögerungen für die Passagiere. Heide war sich wohl nie über die Auswirkungen ihrer Taten im klaren. Sie hatte auch später Schwierigkeiten, das volle Ausmaß auf die unmittelbar betroffenen Menschen zu begreifen. Als sie soweit war, diese Aktionen zu beenden, hatte die Polizei sie auch schon ermittelt. Die hohe Gefängnisstrafe von dreidreiviertel Jahren kam für sie unerwartet.

Bei ihrem Prozeß wurde sie gefragt, was sie mit den Bombenattrappen in den Zügen erreichen wollte. Sie wollte, daß unsere selbstgefällige, gleichgültige Gesellschaft etwas von der Furcht spüren sollte, die in vielen arabischen Ländern alltäglich ist.

Ihre Verhaftung, die Untersuchungshaft und ihr Prozeß sind in dem Tagebuch festgehalten, das Heide vom ersten Tag ihrer Inhaftierung an geführt hat. Für Radio Lora hat sie auch 27 Berichte geschrieben, die jede Woche aufgenommen wurden und eine Dokumentation über ihr tägliches Leben in der Untersuchungshaft in München und in der Frauen-Justizvollzugsanstalt Aichach sind. Sie beschreibt ihr Unglücklichsein, ihre Zweifel, ihr Gefühl, daß alles, was ihr geschieht, ungerecht ist. Sie war gegen Autoritäten schlechthin, opponierte gegen die Gerichtsentscheidung und litt unter der daraus entstandenen persönlichen Demütigung. Sie fuhr fort, mit den Autoritäten zu ringen und lehnte es ab, die Gefängnisregeln strikt einzuhalten. Als Folge erhielt sie zusätzliche Bestrafung. Sie behauptete, von ihren Mithäftlingen abgelehnt und von einigen unter dem Wachpersonal unfair behandelt worden zu sein. Es wurde ihr nicht ermöglicht, die von ihr erwünschte Beschäftigung zu bekommen, und die angebotene Arbeit lehnte sie ab. Sie wollte Englisch lernen und schrieb ihre Briefe an uns auf Englisch, um sie korrigiert zurückzubekommen. Ein neuer Anstaltsleiter gestattete nur noch deutsch geschriebene Briefe. Ihr Leben im Gefängnis wurde dadurch noch trister.

Sie hat sich einmal enttäuscht darüber geäußert, daß sie nicht so oft Besuch erhielt, wie möglich gewesen wäre. Aber es kamen ja Besucher. Ein Ehepaar von MAPC hat sie sieben Monate lang jede Woche in der Untersuchungshaft am Mariahilfsplatz besucht. Als Heide nach Aichach verlegt wurde, fuhren sie weitere sieben Monate lang jeden Monat einmal dorthin, um sie eine Stunde lang zu besuchen zu können. Andere Mitglieder von MAPC haben Heide auch mit Besuchen und Briefen unterstützt. Einer ermöglichte es, daß Heide ihre Wohnung behielt, indem er von der Wohnungsgesellschaft die Erlaubnis zur Untermiete und einen Untermieter besorgte und dann aufpaßte, daß der Untermieter die Miete bezahlte.

Wir betrauern den Verlust unserer Freundin Heide. Ihre Freiheit bedeutete ihr mehr als alles andere. Ihre letzte Bestrafung bekam sie, weil sie sich in ein Stockwerk, höher als zulässig, begeben hatte, um einen Blick über die Dächer zu erhaschen.

Ihre Sehnsucht nach Freiheit war so groß, daß sie dafür riskierte, nicht fernsehen und nicht am täglichen Hofgang teilnehmen zu dürfen. Es war ein Symbol für ihr Verlangen, außerhalb der Einschränkungen des Gefängnisses zu sein.

Da sie ihre Strafe wahrscheinlich nicht voll hätte absitzen müssen, hatte sie vermutlich die halbe Zeit schon hinter sich. Am Abend des ersten Sommertags, dem 21. Juni 2008, einem Samstag, wurden die Gefangenen bis 8 Uhr morgens in ihren Zellen eingeschlossen. Heide hatte viele Stunden Zeit, ihren Selbstmord vorzubereiten. Als die Wache am nächsten Tag die Zelle öffnete, fand sie Heide in einer Schlinge hängend, die sie sich wahrscheinlich aus einem ihrer Kleidungsstücke hergestellt hatte.

Wir vermissen sie und hoffen, daß sie nun die Freiheit gefunden hat, nach der sie sich sehnte.


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Quelle:
Radio Lora, Nachruf aus der Gedenksendung für Heide Luthardt am 29.07.2008
Copyright by Marion von Hofacker


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. November 2008