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STELLUNGNAHME/067: Der kurze Sommer (fast) grenzenloser Freiheit (Grundrechtekomitee)


Komitee für Grundrechte und Demokratie
Stellungnahme vom 23. September 2013

Der kurze Sommer (fast) grenzenloser Freiheit


Die Flüchtlinge, die es in den letzten Monaten über das Mittelmeer und den Balkan in die EU und insbesondere nach Deutschland geschafft haben, haben das Migrationsmanagement zwischenzeitlich ins Wanken gebracht. Sie überquerten Grenzen und ließen sich auch trotz massiver Gewalt nicht davon abhalten, selbst zu entscheiden, in welchem EU-Staat sie um Asyl nachsuchen. Und sie wurden dabei von vielen Menschen - nicht nur in Deutschland - unterstützt. Die nun beginnende militärische Bekämpfung der Schleusernetzwerke wird die Sicherheit der Überlebensmigranten nicht erhöhen.

Während die Öffentlichkeit noch die neue "Willkommenskultur" bejubelt, versuchen die EU mit einer ganzen Serie von Maßnahmen und die Regierungen der Mitgliedstaaten mit neuen abschreckenden Gesetzen, das System der Abschottung wiederherzustellen, das sie seit den 1990er Jahren aufgebaut hatten. Die gestern vom Rat der EU beschlossene Umverteilung von Flüchtlingen aus Italien, Griechenland und Ungarn in andere EU-Staaten wird zwar als Projekt einer innereuropäischen Solidarität präsentiert. Tatsächlich werden so aber der bürokratische Verschiebebahnhof des Dublin-Systems und die damit verbundene Gewalt fortgesetzt.

Die Betroffenen dürfen erneut nicht mitreden, in welches Land sie umgesiedelt werden. Und sie sollen auch nicht das Recht haben, dieses Land wieder zu verlassen. Um eine "Sekundärmigration" zu verhindern, werden die Menschen in den «hot spots», den Auffanglagern an der Außengrenze, konzentriert, erkennungsdienstlich behandelt und ihre Daten in der Fingerabdruckdatei Eurodac gespeichert. Wer sich widersetzt, dem drohen Haft und die Anwendung von Zwangsmaßnahmen. Entsprechende Empfehlungen der EU-Kommission zur "Umsetzung der Eurodac-Verordnung" hat der Rat bereits im Juni gutgeheißen. Dabei gibt es gute Gründe, weswegen Flüchtlinge nicht im Erstasyl- oder im Umsiedlungsstaat ihren Antrag stellen wollen: angefangen bei der Nähe zu Verwandten oder Bekannten, die sich bereits in einem anderen Land aufhalten, über die mangelhafte soziale Betreuung bis hin zu den Chancen auf Anerkennung alsFlüchtling. Insbesondere nach der menschenunwürdigen Behandlung der Flüchtlinge in Ungarn sollte die EU gelernt haben, dass es unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten völlig inakzeptabel ist, Personen, die Krieg, Verfolgung oder sozialer Not entronnen sind, erneut einem derartigen Zwang zu unterwerfen und sie einem Staat zuzuweisen, der sie gegebenenfalls gar nicht aufnehmen will oder kann.

In den "Genuss" einer Umsiedlung sollen zudem nur Asylsuchende aus Ländern kommen, bei denen die Schutzquote im EU-Durchschnitt über 75 Prozent liegt - das sind zur Zeit Flüchtlinge aus Syrien, Eritrea und dem Irak. Bei Flüchtlingen aus anderen Ländern sollen die Staaten an der Außengrenze mit EU-Unterstützung für eine schnelle Bearbeitung der Anträge und eine ebenso schnelle Abschiebung sorgen. Die EU setzt damit erneut auf die ebenso unsägliche wie einfältige Unterscheidung von "echten" Flüchtlingen und "unechten", die als "irreguläre Migranten" oder "Wirtschaftsflüchtlinge" von vornherein kein Recht auf Schutz haben sollen. Die Krisen- und damit die Fluchtursachen sind vielfältig und lassen sich nicht auf diese einfache Weise auseinander halten.

Dem simplen Muster entspricht auch die gemeinsame Liste angeblich "sicherer Herkunftsstaaten", in der nach dem ursprünglichen Vorschlag der Kommission selbst die Türkei enthalten sein sollte. Die Bundesregierung zieht hier mit ihrem Asylgesetzentwurf nach und erweitert die deutsche Liste vermeintlich "sicherer Herkunftsstaaten" aus Südosteuropa um Kosovo, Albanien und Montenegro. Davon betroffen sind wie bei den Maßnahmen zuvor vor allem Roma. Dass Roma in vielen Ländern des Balkan unter elendigen Verhältnissen und staatlich diskriminiert leben müssen, stört die Gesetzesmacher offensichtlich nicht. Bittere Armut, gepaart mit Diskriminierung, Gewalt und Antiziganismus, ist für sie kein legitimes Migrationsmotiv, das die Anerkennung eines Schutzes nach sich zieht. Ein selbst nach herrschendem Flüchtlingsrecht vergeblich gestelltes Asylgesuch macht aus den Antragsstellern jedoch noch keine Asylbetrüger. Es sind Menschen, die sich aus Verzweiflung auf den Weg nach Deutschland/Europa gemacht haben. Über die Konstruktion der "sicheren Herkunftsländer" wird das ohnehin schon restriktive Recht auf Asyl für diese Menschen noch weiter eingeschränkt. Sie können nur noch den gewaltförmigen Deportationen in Sonderlagern harren.

Der Gesetzentwurf, der angeblich eine Beschleunigung der Verfahren bewirken soll, offenbart eine Gesinnung der Menschenfeindlichkeit. Auch wenn über Details noch im Bundesrat verhandelt und der Entwurf im Parlament debattiert werden wird, zeigt sich erschreckend, dass nicht der Schutz der Würde der Menschen im Vordergrund steht, die zumeist eine beschwerliche und oftmals lebensgefährliche Flucht überstanden haben, sondern vor allem migrationspolitische Erwägungen, sich möglichst vor Flüchtlingen abzuschotten. Die Gesetzesänderungen sollen Überlebensmigranten vor dem Schutzgesuch in Deutschland abschrecken, indem sie über Monate kaserniert, mit einem Arbeitsverbot belegt und teilweise nur mit Sachleistungen ausgestattet werden. Sie werden zu Objekten staatlicher Flüchtlingsverwaltung degradiert und ihre Menschenwürde verfassungswidrig relativiert.

Die geplante bis zur Abschiebung dauernde Verbringung von Menschen in Lager, die Absicht, diversen Flüchtlingsgruppen das existenzielle Minimum, wozu auch frei verfügbares Bargeld gehört, zu kürzen, allein um eine vermeintlich abschreckende Wirkung zu erzielen, verletzt ihre Menschenrechte und ihre Würde, die zu schützen eigentlich verfassungsgemäß staatlicher Auftrag wäre.

Um die Fluchtmigrationen zu kanalisieren und wieder nach allein staatlichen Interessen zu regulieren, kehrt der Gesetzesentwurf die von großen Teilen der Öffentlichkeit begrüßte Entscheidung der Bundesregierung, die Grenzen eine kurze Zeit für die Geflüchteten zu öffnen, wieder um.

Wohlwissend, wie sehr die aktuellen großen Fluchtmigrationen staatliche Institutionen und Gesellschaft herausfordern, die Bürgerinnen- und Bürgergesellschaft handelt ganz offensichtlich in ihrer Empathie mit den hilfsbedürftigen Menschen weit mehr an den Menschenrechten orientiert als die Bundesregierung, die sie stets wohlfeil im Munde führt. Es müssen nun die Bürgerinnen und Bürger dafür streiten, dass das ehedem schon karge soziale Existenzminimum der Flüchtlinge nicht weiter zusammengestrichen, dass die Dublin-Verordnung, die unnötiges Leid produziert, abgeschafft wird, und dass es endlich offene Zugänge nach Europa gibt, die das Sterben im Mittelmeer beenden. Die geplanten Maßnahmen und Gesetzesänderungen tragen nicht dazu bei.

Heiner Busch | Albert Scherr | Dirk Vogelskamp


Die Stellungnahme als PDF-Datei ist zu finden unter:
http://www.grundrechtekomitee.de/sites/default/files/Stellungnahme_23-9-2015.pdf

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Quelle:
Komitee für Grundrechte und Demokratie
Aquinostr. 7 -11, 50670 Köln
Telefon 0221 97269 -30; Fax -31
E-Mail: info@grundrechtekomitee.de
Internet: www.grundrechtekomitee.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. September 2015

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