Schattenblick → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → HUMANISTISCHE UNION


STANDPUNKT/038: Rezension "vorgänge", Ausgabe 224 - Der Osten als Vorreiter? (Klaus Ludwig Helf)


vorgänge 224 - Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik.

Schwerpunkt: Der Osten als Vorreiter?

von Klaus Ludwig Helf, Februar 2019


Die vorliegende Ausgabe der Zeitschrift Vorgänge beschäftigt sich in ihrem Schwerpunkt-Heft mit verschiedenen Erklärungen für den zunehmenden Rechtsruck in Deutschland. Dabei richtet sich der Focus vor allem nach Ostdeutschland, da die Menschen dort nicht nationaler, rassistischer oder fremdenfeindlicher wären als in anderen Teilen Deutschlands, sondern weil sich nach der Überzeugung der Redaktion einige Entwicklungsprobleme und Trends der deutschen Gesellschaft im Osten weitaus dramatischer und früher gezeigt hätten als im Westen. Dies gelte beispielsweise für die Wahlerfolge der AfD und für das Einschrumpfen der ehemaligen Volksparteien SPD und CDU, das im Osten schon weiter vorangeschritten sei als im Westen. So käme die SPD in mehreren ostdeutschen Ländern nicht mehr über die 13%-Marke hinaus und sei nur noch eine kleine Partei unter vielen.

Die wirtschaftlichen Entwicklungen und ihre Folgen werden immer wieder als ein Grund für das Erstarken des Rechtspopulismus in Deutschland, vor allem in den ostdeutschen Ländern genannt. Klaus Steinitz und Axel Troost analysieren in ihrem Aufsatz die widersprüchlichen Entwicklungen in Ostdeutschland seit dem Herbst 89. Der Beitritt der DDR zur BRD habe in den neuen Ländern umfassende Adaptions- und Transformationsprozesse in Gang gesetzt und alle gesellschaftlichen Bereiche, die Arbeit und das Leben der Menschen radikal erfasst. In den alten Ländern dagegen seien nur Inkorporations- und Integrationsprozesse abgelaufen mit weniger tiefgreifenden Folgen. Steinitz und Troost verweisen zu Recht darauf, dass die Angleichung der Lebensbedingungen zwischen Ost- und Westdeutschland 1989/90 für viele Menschen in der DDR ein wichtiges Motiv gewesen sei, die deutsche Vereinigung zu fordern. Sie war auch zugleich ein zentrales Ziel der Transformation. Als sich dieses als unrealistisch erwiesen habe, reagierte die Politik mit einer Grundgesetzänderung. Der Passus "Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" wurde 1994 in "Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse" (Artikel 72,2 GG) abgeändert. Damit sei das Konvergenz-Ziel aufgeweicht und der unterprivilegierte Status Ostdeutschlands dauerhaft mit dem Grundgesetz vereinbar gemacht worden. Die Autoren zitieren Dietmar Süß, der vor allem das Wirken der Treuhand kritisiert: "Insgesamt zeigt sich, dass der Transformationsprozess nach 1989 eben alles andere als glatt verlief, dass das Reden über die Alternativlosigkeit immer von spezifischen Interessen begleitet war ... Die ökonomischen Optionen waren auch 1989/90 vielfältig, und der Weg der Anpassung an den Kapitalismus strittiger, als er sich in unserer Erinnerungslandschaft bislang niederschlägt" (S. 19). Der damalige Kanzler Helmut Kohl hat später zugegeben, dass sein Versprechen von den "blühenden Landschaften" im Osten vor allem Wahlpropaganda gewesen sei. Die Privatisierungspolitik der Treuhand habe - so die Autoren - ergeben, dass im Jahre 1994 das ehemalige ostdeutsche Produktivvermögen zu 80% an Westdeutsche, zu 14% an Ausländer und nur zu 6% an Ostdeutsche übergegangen sei. In seiner Dissertation über die Treuhand kommt Markus Böick zu dem Ergebnis, dass in Ostdeutschland die Entwertung der Lebensläufe, das Gefühl von Ohnmacht und Unterwerfung unter eine anonyme Macht der westlichen Kapitalisten als negative Gefühle in der Bevölkerung seit der Umbruchszeit wuchern. Die Politik habe das lange nicht interessiert: "Man dachte: Die Menschen werden ihre gewonnene Freiheit so schätzen, dass sie darüber hinwegsehen, wenn sie weniger verdienen und nichts erben. Die schönen Innenstädte, die Einkaufmöglichkeiten werden sie verschmerzen lassen, dass sie nichts zu sagen haben, weil in Unternehmen, Gerichten, Universitäten Westdeutsche die Führungspositionen besetzen" (S. 16). Es sei eine "Lebenslüge der Politik", dass man lange glaubte, dass dies alles so widerspruchslos von der ostdeutschen Bevölkerung hingenommen werde. Die Chancen für eine langfristige Lösung der ostdeutschen Entwicklungsprobleme im Sinne einer sich selbst tragenden wirtschaftlichen Entwicklung sehen Steinitz und Troost nur in der Durchsetzung eines grundlegenden Politik- und Pfadwechsels in der ökonomischen, sozialen und ökologischen Entwicklung, der auch eng an die EU gekoppelt sein müsse. Mit welchen Hebeln und politischen Kräften dies politisch umgesetzt werden kann, lassen die Autoren außen vor.

Christa Luft, Professorin für Ökonomie, ehemalige Ministerin für Wirtschaft in der DDR-Übergangsregierung unter Hans Modrow und PDS-Bundestagsabgeordnete (1994 bis 2002) schildert im Interview aus gelebter, aktiver Zeitgenossenschaft eindrücklich und ausführlich die Abwicklung der DDR-Wirtschaft durch die Treuhand und die sich daraus entwickelnden politischen und sozialen Folgen, die bis heute für den Osten prägend sind. Der wirtschaftspolitische Kahlschlag durch eine radikale De-Industrialisierung habe nicht nur die industrielle Struktur und damit das ökonomische Rückgrat des Ostens zerstört, sondern bis heute die Erfahrungen und Erwartungen vieler Menschen geprägt. In der technokratischen Abwicklung der deutsch-deutschen Vereinigung und der damit verbundenen Erfahrung der Abwertung sieht Luft eine zentrale Quelle der Politik-, Fremden- und Europa-Feindlichkeit vieler Ostdeutscher. Die Treuhand habe mit Billigung der Bundesregierung die größte Vernichtung von Produktiveigentum in Friedenszeiten bewirkt, 2 Millionen Arbeitslose hinterlassen und eine kleinteilige Wirtschaftsstruktur: "Hätte man den Beschäftigten eine Chance gegeben oder überhaupt verhindert, dass so viele Unternehmen abgewickelt werden, wäre das billiger geworden für den Staatshaushalt, als nachher die vielen Menschen zu alimentieren. Viele Menschen sind daran, was mit ihnen geschehen ist, kaputt gegangen - seelisch und auch physisch ... Das Ganze sollte sehr schnell gehen" (S. 31). Selbst der damalige Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl sei über diese Entwicklung entsetzt gewesen, zumal er der Auffassung war, dass erst die Wirtschaft reformiert und dann erst eine einheitliche Währung geschaffen werden sollte. Der damalige Staatssekretär und spätere Bundespräsident Koehler habe bei diesem neoliberalen Abwicklungsprozess eine treibende Rolle gespielt und in einer Rede formuliert: "Liebe Leute, in der DDR-Wirtschaft muss auch mal gestorben werden! Es muss auch mal Blut fließen!" (S. 34). Der Neoliberalismus konnte sich in der Bundesrepublik - so Christa Luft - deshalb so rasch ausbreiten, weil mit der DDR ein sozialökonomisches Gegengewicht fehlte. Aktuell plädiert sie für eine stark regional verwurzelte, sozial und ökologisch orientierte Wirtschaft nicht als Alternative, sondern als Ergänzung der Globalisierung. Der Protest vieler AfD-Anhänger richte sich "überwiegend gegen die aktuelle Politik auf Bundesebene". Im Osten kämen noch verschärfend hinzu die nicht geheilten Verletzungen, Demütigungen und Ungerechtigkeiten aus der Nachwendezeit wie Arbeitsplatzverlust und lange Arbeitslosigkeit, Renteneinbuße, Eliten-Austausch auf allen Ebenen bei westdeutscher Dominanz und Verunglimpfung und Entsorgung ostdeutscher Strukturen und Erfahrungen.

Der Saarbrücker Ökonom Heinz Biermann untersucht die wirtschaftliche und soziale Lage in Westdeutschland und stellt fest, dass trotz wirtschaftlicher Prosperität und niedriger Arbeitslosenzahl in Deutschland generell die sozialen Widersprüche groß seien und in den letzten Jahren noch zugenommen hätten. So habe Deutschland den größten Anteil an prekärer Arbeit in West-Europa: "Der Anteil der Niedriglöhner liegt über 20 Prozent. Viele Menschen können von ihrer Arbeit nicht leben. 1,2 Millionen müssen zusätzlich zu ihrem Erwerbseinkommen Arbeitslosengeld beziehen. Die atypische Beschäftigung - Mini- und Midijobs, erzwungene Teilzeitarbeit, Leiharbeit - hat zugenommen ... Das Armutsrisiko wird größer" (S. 41). Der Osten hinke vor allem im Hinblick auf Einkommen und Armutsrisiko nach wie vor deutlich dem Westen hinterher, doch sei der pure Ost-West-Vergleich nicht ausreichend, um die realen Unterschiede in den Regionen, Landkreisen und Kommunen zu erfassen. Nach dem Abgleich dieser Daten komme man zu einem differenzierteren Ergebnis. Man könne dann weniger von einem Ost-West-Gegensatz ausgehen, "..., sondern vielmehr von einem wirtschaftlich starken Süden, der sich deutlich vom Westen und Norden absetzt" (S. 42). So lägen Regionen des Ruhrgebiets wie Duisburg-Marxlohe im bundesdeutschen Vergleich bei der Quote von Armut und Armutsgefährdung an der Spitze. Gebiete mit prekären Arbeitsverhältnissen seien - so eine Studie der Bertelsmann-Stiftung - besonders anfällig für rechte politische Parteien und Organisationen. Am Beispiel von Ingolstadt (eine der reichsten Städte Deutschlands) und von Gelsenkirchen, die beide überdurchschnittlich hohe AfD- Zustimmung bei den Bundestagswahlen 2017 hatten (15,3% bzw. 17 %) zeigt Bierbaum, dass eine etwas differenziertere Analyse ergebe, dass prekäre Verhältnisse die extreme Rechte begünstige: "Allerdings kommen AfD-Wähler zu einem nicht unbeträchtlichen Teil auch aus dem konservativen Milieu mit durchaus akzeptablen Arbeits- und Lebensbedingungen - insbesondere dann, wenn sie ihren Status (ob zu Recht oder zu Unrecht) bedroht sehen und einen Abstieg befürchten" (S. 45).

In ihrer Analyse der Bundestagswahl 2017 kommen Richard Koch und Walter Ruhland zu dem Ergebnis, dass die AFD für die meisten ihrer Wählerinnen und Wähler die Funktion einer Protestpartei habe: "85% sehen in der AFD die einzige Partei, mit der sie ihren Protest gegen die ihrer Meinung nach verfehlte Politik der etablierten Parteien ausdrücken können" (S. 53). Nach einer Studie des Wissenschaftszentrums Berlin vertreten fast neun von zehn AfD-Wähler (88%) populistische Einstellungen wie "Anti-Establishment" und "Anti- Pluralismus". Diese ließen sich auch in anderen Parteien - allerdings in weitaus geringerem Maße - feststellen. Deutliche höhere Anteile als bei Wählern anderer Parteien gebe es allerdings bei der AfD-Klientel rechtspopulistische Einstellungen bei den Themen Migration und innere Sicherheit. Die AfD könne aber deswegen nicht "durchweg als rechtsextrem oder prinzipiell demokratiefeindlich eingeschätzt werden" (S. 53). Die Analyse der Bundestagswahl 2017 mache deutlich, dass die Motive der meisten AfD-Wähler weniger in deren objektiver sozialen Lage zu finden sind, sondern eher auf der Ebene subjektiver Verunsicherung und Ängste. Auch nach einer Untersuchung des Instituts für Soziologie der Universität Leipzig seien die Erfolge der AfD primär nicht auf den Streit um die Flüchtlingspolitik zurückzuführen, sondern auf tieferliegende Konflikte. Die AfD lebe vom Unmut über die gesamte politische Entwicklung Deutschlands. Ihr Erstarken sei ein Signal für eine "kulturelle Spaltung der Gesellschaft", die nicht primär zwischen Arm und Reich verlaufe. Dabei stünde auf der einen Seite die Mehrheit derjenigen, die ein liberales, kosmopolitisches Weltbild vertreten und auf der anderen Seite die Minderheit derjenigen, die sich einen souveränen Nationalstaat und eine homogene Bevölkerung wünschten. Sei daher nach Ansicht von Koch und Ruhland große Skepsis angebracht gegenüber den Absichten der etablierten Parteien, "... zumindest die Protestwähler der AfD vor allem mit einer besseren Sozialpolitik zurückgewinnen zu wollen." (S. 54)

Das vorliegende Heft der vorgänge liefert viele spannende Analysen und Thesen, aus bislang vernachlässigten Perspektiven das Erstarken von rechtsextremen und rechtspopulistischen Kräften und der AfD als Oppositionspartei in Deutschland und auch speziell in den östlichen Teilen differenziert zu erklären. Wir warten mit Spannung auf ein Folge-Heft der vorgänge, das sich mit den politischen Konsequenzen aus diesen Analysen und mit realistischen Lösungsvorschlägen beschäftigt.


vorgänge 224 - Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik.
57. Jahrgang Dezember 2018, Heft 4
Schwerpunkt: Der Osten als Vorreiter?
herausgegeben von der Humanistischen Union
Editorial von Herbert Mandelartz und Sven Lüders.
Berlin, Greifswalder Straße 4
. E-Mail: vorgaenge@humanistische-union.de.
http://vorgaene.humanistische-union.de

*

Quelle:
© 2019 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. März 2019

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang