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STANDPUNKT/190: Buchbesprechung - "Sicherheit neu denken" (ZivilCourage)


ZivilCourage - Nr. 1 / 2019
Magazin der DFG-VK

"Sicherheit neu denken"
Eine Besprechung des Vorschlags der Evang. Landeskirche in Baden

Von Thomas Carl Schwoerer


Ralf Becker, Stefan Maaß, Christoph Schneider-Harpprecht (Hrsg.):
Sicherheit neu denken. Von der militärischen zur zivilen Sicherheitspolitik. Ein Szenario bis zum Jahr 2040.
Karlsruhe 2018; 165 Seiten; 9,95 Euro

(Das Buch hat diese ISBN: 978-38079-9992-0 und ist damit über den Buchhandel bestellbar; außerdem ist es erhältlich über den Shop der Kirche in Baden
(https://shop.ekiba.de/flucht-migration/sicherheit-neu-denken-von-der-militaerischen-zur-zivilen-sicherheitspolitik.html
dann zzgl. Versandkosten). Die 36-seitige Kurzfassung ist kostenlos (zzgl. Versandkosten) ebenfalls über den genannten Shop erhältlich. InteressentInnen an der englischen Version wenden sich bitte per E-Mail an Elisabeth.Russy@ekiba.de


Kein Text der letzten zwei, drei Jahre hat mich so begeistert wie dieses Buch aus der Friedensbewegung. Es verspricht eine breit vernetzte zivilgesellschaftliche Bewegung und könnte dementsprechend auch "Netzplan für eine Welt ohne Militär" heißen - so das Motto des Bundeskongresses der DFG-VK vom 8. bis 10. November in Frankfurt am Main, der das Thema des Buchs in seinen Mittelpunkt stellen wird.

Dieses entfaltet eine positive Vision, die klar aufzeigt, warum und in welchen Schritten wir auf das Militär verzichten können (und welche negativen Folgen entstehen, wenn wir diese Chance nicht wahrnehmen). Wir benötigen diese Vision dringend, weil sich unsere Adressaten politische Alternativen vorstellen müssen, um den Wunsch zu entwickeln, dorthin aufzubrechen. Daran mitgearbeitet haben elf Personen unter anderem aus dem Umfeld der Evangelischen Landeskirche in Baden, darunter die beiden DFG-VK-Mitglieder Stephan Brües und Theodor Ziegler. Die Grundidee: In 20 Jahren gibt es keine Bundeswehr mehr und auch kein Militär in drei anderen europäischen Ländern. Stattdessen werden die kollektiven Sicherheitssysteme gestärkt, die alle Probleme zwischen Blöcken und Nationen insbesondere durch Verhandlungen und Mediation regeln. Der Hauptweg zu diesem Wandel sind Abrüstung, Konversion und Stärkung der Vereinten Nationen.

Das Buch ist beeindruckend gut durchdacht und formuliert, mit sehr konkreten Vorschlägen dafür, wie das erwähnte Ziel Schritt für Schritt bis 2040 zu erreichen ist. Diese Schritte sind da, wo es hilfreich ist, mit Zahlen und spannenden Studien unterfüttert und knüpfen neben aller nötigen Kritik klugerweise an die wenigen bestehenden Stärken an, die beispielsweise das Auswärtige Amt mit der Entsendung von Friedensfachkräften aufweist. Die Schritte sind bei aller Konkretion hinreichend flexibel gestaltet, um im Laufe der Zeit eine eventuell nötige Umorientierung zu gestatten.

Das Buch zeugt von einem bemerkenswerten psychologischen Einfühlungsvermögen in die Vorstellungen von Andersdenkenden, etwa indem es von Anfang an die positiv besetzten Begriffe "Sicherheit" und "Verantwortung" in den Mittelpunkt stellt und im Sinne des politischen Pazifismus umwidmet.

Das wichtigste postulierte Nahziel ist ein Beschluss des Bundestags im Jahre 2025, was eine starke Bearbeitung einer Vielzahl von Wahlkreiskandidat*innen ab Mitte 2020 im Vorfeld der nächsten turnusmäßigen Bundestagswahl voraussetzt. Dieser Beschluss sieht vor, dass Deutschland in Kooperation mit drei anderen europäischen Ländern eine nachhaltige zivile Sicherheitspolitik entwickelt, die auf den fünf Säulen gerechte Außenbeziehungen, nachhaltige Entwicklung der EU-Anrainerstaaten, Teilhabe an der internationalen Sicherheitsarchitektur, resiliente Demokratie sowie Konversion der Bundeswehr und Rüstungsindustrie beruht.

Ohne eine breite Bewegung wird es diesen Beschluss nicht geben. Die Arbeitsgruppe zur Vorbereitung der dafür nötigen Vernetzung der Zivilgesellschaft hat sich Ende 2018 konstituiert und ist offen für weitere Verbandsvertreter*innen. Alle beteiligten Organisationen sollten im eigenen Rahmen auch über die Landesgrenzen hinweg für das Konzept werben (z.B. mit Hilfe der englischen Ausgabe des Buches, die unter der obengenannten Mail-Adresse zu bestellen ist).

Zum Aufbau des Buches: Nach einer ausführlichen Einleitung erfolgt eine knappe Analyse zunächst der Bedrohungen und Gefahren, dann der positiven Entwicklungen. Den breitesten Raum nimmt das anzustrebende Positivszenario "Nachhaltige zivile Sicherheit" in weitgehend chronologischer Reihenfolge ein, das die erwähnten fünf Säulen unterschiedlich umfangreich vorstellt. Den Abschluss dieses Teils bilden die "Meilensteine der Entwicklung von 2018 bis 2040" und "Zivile Sicherheitspolitik in Zahlen". Am Ende des Buches stehen auf je fünf Seiten das (die derzeit herrschenden Bedingungen fortschreibende) Trendszenario "Schleichende Militarisierung" und das (noch üblere) Negativszenario "Nahe am Abgrund".

Um breite gesellschaftliche Kreise anzusprechen, ist das Buch nicht überall widerspruchsfrei, etwa indem einerseits von ausschließlich unbewaffneten internationalen Einsätzen die Rede ist und andererseits von einer Art Weltpolizei, die wohl bewaffnet wäre. Immerhin arbeiten die Autor*innen sauber die Unterschiede zwischen polizeilichen und militärischen Kräften heraus.

Zweitens plädieren sie für eine - nicht-militärische - weitere Mitgliedschaft in der Nato in einer Übergangszeit, bei gleichzeitigem Einwirken auf die Mitgliedsländer im Sinne der zivilen Sicherheitspolitik. Das entspricht der Grundfigur der Doppelherrschaft: Parallel zu den bisherigen militärischen kommen zivile Denkweisen und Strukturen hinzu, die schrittweise zu stärken sind. Ein Beispiel könnte ein Zivilattaché in jeder Botschaft sein, in denen bisher ausschließlich Militärattachés vorhanden sind. Bei aller nötigen Diskussion dieser Herangehensweise wäre es derzeit nicht produktiv, über die Frage "Nato - ja oder nein" im Sinne einer reinen Lehre zu streiten und deswegen auf eine Mitarbeit in diesem Bündnis zu verzichten. Stattdessen empfiehlt es sich, das Verbindende statt des Trennenden zu benennen und zu betonen - wie bei der "Aktion Aufschrei - Stoppt den Waffenhandel!".

Es wird ein langer Weg, die Ideen dieses Buches in die Tat umzusetzen, zumal der Widerstand dagegen aus den politischen Eliten und der Rüstungsindustrie groß sein dürfte. Der Einsatz dafür wird sich aber lohnen. Historische Beispiele, auf die sich das Buch bezieht, machen Mut: die Abschaffung der Sklaverei, die Erlassjahrkampagne, der Ausstieg aus der Atomenergie und die Ächtung von Gewalt in der Kindererziehung. Hinzuzufügen wäre die Ächtung der häuslichen Gewalt gegen Frauen: Seit nicht allzu langer Zeit wird die Polizei gesetzlich dazu angehalten, dagegen vorzugehen.


Thomas Carl Schwoerer ist Verleger und Autor sowie Mitglied im DFG-VK-BundessprecherInnenkreis. Er arbeitet für die DFG-VK in der Arbeitsgruppe zur Vorbereitung der Vernetzung von "Sicherheit neu denken" mit.

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Quelle:
ZivilCourage - das DFG-VK Magazin, Nr. 1 / 2019, S. 12 - 13
Herausgeberin: Deutsche Friedensgesellschaft -
Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen e.V. (DFG-VK)
Werastraße 10, 70182 Stuttgart
Redaktion: ZivilCourage - das DFG-VK-Magazin,
Werastraße 10, 70182 Stuttgart
Telefon: 0711 - 51 89 26 20
E-Mail: zc@dfg-vk.de
Internet: www.zc-online.de
 
Erscheinungsweise: fünf Mal jährlich
Jahres-Abonnement: 14,00 Euro inklusive Porto
Einzelheft: 2,80 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. März 2019

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