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STANDPUNKT/131: Wider den Gauckismus (ZivilCourage)


ZivilCourage Nr. 2 - Mai/Juni 2015
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK

Wider den Gauckismus
Von der "Kultur der (militärischen) Zurückhaltung" zur "Kultur der Kriegsfähigkeit"

Von Jürgen Wagner


Spätestens seit dem Auftritt von Bundespräsident Joachim Gauck bei der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang letzten Jahres ist in der öffentlichen Debatte über Deutschlands Rolle in der Welt unüberhörbar ein neuer Ton zu vernehmen. Im Zentrum steht dabei die Forderung, Deutschland müsse seine - zumindest idealtypisch - bislang den Tag gelegte "Kultur der [militärischen] Zurückhaltung" zugunsten einer offensiver ausgerichteten Außenpolitik ad acta legen. Das hinter dem "Gauckismus" (Pfeifer/Spandler) stehende Gedankengebäude entstand allerdings nicht im luftleeren Raum. Es spiegelt vielmehr einen Elitenkonsens wider, der auf einen größeren weltpolitischen Einfluss Deutschlands abzielt. Hierfür wird wiederum die Fähigkeit und die Bereitschaft zur Teilnahme an Militärinterventionen für zwingend erforderlich erachtet.

Nicht von ungefähr setzte der diesbezügliche Diskussionsprozess deshalb unmittelbar nach der deutschen Weigerung im Jahr 2011 ein, sich am Krieg gegen Libyen zu beteiligen. Systemarisiert wurde er daraufhin über ein Jahr lang im Projekt "Neue Macht - Neue Verantwortung", dessen gleichnamiger Abschlussbericht bereits alle wesentlichen Kerngedanken bis hin zu wortgleichen Formulierungen der späteren Rede des Bundespräsidenten enthielt. Dahinter steht nicht weniger als der besorgniserregende Versuch großer Teile des außen- und sicherheitspolitischen Establishments, einem grundlegenden Kurswechsel den Weg zu ebnen - der Bundespräsident verlieh diesem Bestreben lediglich eine prominente Stimme.

Neue Macht - Neue Verantwortung

Das Projekt "Neue Macht - Neue Verantwortung" wurde von der "Stiftung Wissenschaft und Politik" (SWP) sowie vom "German Marshall Fund" (GMF) geleitet und durch den Planungsstab des Auswärtigen Amtes finanziert. Laut Eigenaussage versammelte es zwischen November 2012 und September 2013 etwa 50 "außen- und sicherheitspolitische Fachleute aus Bundestag, Bundesregierung, Wissenschaft, Wirtschaft, Stiftungen, Denkfabriken, Medien und Nichtregierungsorganisationen."

Diese erarbeiteten ein gleichnamiges im September 2013 veröffentlichtes Dokument, dem eines sicher nicht vorgeworfen werden kann, mangelnde Ambitionen: "Die Umwälzungen in Deutschlands strategischem Umfeld - in der Europa- und der Sicherheitspolitik, im Umgang mit neuen Mächten und bei der Erneuerung der globalen Ordnung - verlangen eine neue Definition deutscher Staatsziele." Das Problem bestehe darin, dass Deutschland bis heute nicht "seinem geopolitischen Gewicht und seinem internationalen Ansehen" entsprechend agiere, demzufolge sei es lediglich eine "Gestaltungsmacht im Wartestand." Dies zu ändern ist das wesentliche Anliegen, das folgendermaßen begründet wird: "Deutschland war noch nie so wohlhabend, so sicher und so frei wie heute. Es hat - keineswegs nur durch eigenes Zutun - mehr Macht und Einfluss als jedes demokratische Deutschland vor ihm. Damit wächst ihm auch neue Verantwortung zu. [...] Gefragt sind mehr Gestaltungswillen, Ideen und Initiativen. Deutschland wird künftig öfter und entschiedener führen müssen."

Insgesamt werde Deutschland künftig aber auch "eigene Interessen und Werte deutlich(er) artikulieren müssen." Was darunter konkret verstanden wird, verdeutlich folgende Passage: "Wenn Deutschland die eigene Lebensweise erhalten und schützen will, muss es sich folglich für eine friedliche und regelbasierte Weltordnung einsetzen; mit allen legitimen Mitteln, die Deutschland zur Verfügung stehen, einschließlich, wo und wenn nötig, den militärischen. [...] Deutschland profitiert wie kaum ein anderes Land von der Globalisierung und der friedlichen, offenen und freien Weltordnung, die sie möglich macht. Gleichzeitig ist Deutschland aber auch besonders abhängig vom Funktionieren dieser Ordnung. Es ist damit auf besondere Weise verwundbar und anfällig für die Folgen von Störungen im System."

Neben solch allgemeinen Absichtserklärungen zur Absicherung der gegenwärtigen Weltwirtschaftsordnung mitsamt ihren Hierarchie- und Ausbeutungsstrukturen wird aber auch vor Forderungen nach direkter militärischer Rohstoffsicherung nicht zurückgeschreckt: "Deutschlands Streitkräfte [...] bleiben notwendig für die Landes- und Bündnisverteidigung; sie helfen, Krisen vorzubeugen sowie Konflikte einzudämmen und zu beenden; sie beteiligen sich an der Sicherung von Versorgungswegen; und sie retten notfalls deutsche Staatsbürger im Ausland." Von Deutschland sei vor diesem Hintergrund vor allem folgendes gefordert: "Das verlangt mehr militärischen Einsatz und mehr politische Führung." Hierfür benötige man u.a. "eine international wettbewerbsfähige europäische Rüstungsindustrie".

Als wichtigster unmittelbarer Aktionsraum wird schließlich der unmittelbare EU-Nachbarschaftsraum identifiziert, wo man sich als regionaler Hegemon etablieren will: "In Europas südlicher und östlicher Nachbarschaft muss die EU als regionale Ordnungsmacht Stabilität und gute Regierungsführung anstreben - und dabei nicht nur auf Regierungen zielen, sondern auf Zivilgesellschaften. Hierzu sollten wirtschaftliche, diplomatische und auch sicherheitspolitische Instrumente konsequent eingesetzt werden."

Für diese ambitionierten Bestrebungen gelten die USA als unverzichtbarer Partner und die EU als elementarer Kräftemultiplikator deutscher Außenpolitik. Andererseits werden "Herausforderer" und "Störer" identifiziert. Zu den erstgenannten zählen etwa Russland und China, mit denen es womöglich zu zunehmenden Konflikten kommen könnte: "Deshalb wird es in Deutschlands Beziehungen zu den neuen wirtschaftlichen und politischen Kraftzentren der Welt unweigerlich auch zu Konkurrenz und Konflikten kommen: um Einfluss, um den Zugang zu Ressourcen, aber auch um die Architektur der internationalen Ordnung sowie um die Geltung der Normen, die ihr zugrunde liegen. [...] Manche Herausfordererstaaten könnten in diesem Prozess zu echten Partnern für Deutschland werden; vorstellbar ist aber auch, dass manche sich für die Konfrontation entscheiden."

Die andere "Gegnerkategorie" stellen die "Störer" dar, Länder wie der Iran oder Venezuela, aber auch zerfallene Staaten wie Mali werden hier einsortiert. Sie soll, so erforderlich, die volle Wucht deutscher und internationaler Verantwortungspolitik treffen: "Da aber, wo Störer die internationale Ordnung in Frage stellen; wo sie internationale Grundnormen [...] verletzen; wo sie Herrschaftsansprüche über Gemeinschaftsräume oder die kritische Infrastruktur der Globalisierung geltend machen oder gar diese angreifen; wo mit anderen Worten Kompromissangebote oder Streitschlichtung vergeblich sind: Da muss Deutschland bereit und imstande sein, zum Schutz dieser Güter, Normen und Gemeinschaftsinteressen im Rahmen völkerrechtsgemäßer kollektiver Maßnahmen auch militärische Gewalt anzuwenden oder zumindest glaubwürdig damit drohen zu können."

Allerdings scheinen es nicht alle Teilnehmer für notwendig zu erachten, sich ausschließlich "völkerrechtsgemäßer kollektiver Maßnahmen" zu bedienen. Was die Haltung bezüglich der Frage anbelangt, ob ein Mandat des UN-Sicherheitsrates bei Militäreinsätzen - und damit die Einhaltung von elementaren Grundpfeilern des Völkerrechts - zwingend erforderlich sei, heißt es lapidar: "Bei dieser Frage blieben die Positionen innerhalb des Projekts unvereinbar."

Hierbei handelte es sich allerdings um den einzigen ausgewiesenen Dissens unter den Teilnehmern, insofern waren hiermit die wesentlichen "Elemente einer außenpolitischen Strategie für Deutschland" zusammengetragen, die in der Folge von Gauck aufgegriffen werden sollten.

Gauckismus als Elitenprojekt

Mit Thomas Kleine-Brockhoff, dem vormaligen Leiter des "German Marshall Fund", existiert eine direkte personelle Verbindung zwischen dem Projekt "Neue Macht - Neue Verantwortung" und dem Bundespräsidenten, der ihn im Sommer 2013 als neuen Leiter seiner Stabsstelle Planung und Reden verpflichtete. Auch wenn andere Erklärungen möglich sind, ist es also sicher nicht abwegig, hierin den Grund zu vermuten, dass der Projektbericht faktisch als Blaupause für Gaucks Rede fungierte.

Um dies zu belegen seien an dieser Stelle einige Passagen aus der Rede des Bundespräsidenten Anfang 2014 etwas ausführlicher zitiert: "Die Beschwörung des Altbekannten wird künftig nicht ausreichen! Die Kernfrage lautet doch: Hat Deutschland die neuen Gefahren und die Veränderungen im Gefüge der internationalen Ordnung schon angemessen wahrgenommen? Reagiert es seinem Gewicht entsprechend? [...] Ich meine: Die Bundesrepublik sollte sich als guter Partner früher, entschiedener und substanzieller einbringen. [...] Manchmal kann auch der Einsatz von Soldaten erforderlich sein. [...] Deutschland ist so tief verwoben mit der Welt wie wenige andere Staaten. Somit profitiert Deutschland besonders von der offenen Ordnung der Welt. Und es ist anfällig für Störungen im System. Eben deshalb können die Folgen des Unterlassens ebenso gravierend wie die Folgen des Eingreifens sein - manchmal sogar gravierender. [...] Ich muss wohl sehen, dass es bei uns - neben aufrichtigen Pazifisten - jene gibt, die Deutschlands historische Schuld benutzen, um dahinter Weltabgewandtheit oder Bequemlichkeit zu verstecken. [...] So kann dann aus Zurückhaltung so etwas wie Selbstprivilegierung entstehen, und wenn das so ist, werde ich es immer kritisieren."

Propagandaoffensive

Neben den Waffenlieferungen an die Peschmerga gilt vor allem die deutsche Politik im Ukraine-Konflikt als "erfolgreicher" Praxistest der Gauck-Doktrin. So heißt es in Deutschlands führendem außenpolitischen Magazin, der "Internationalen Politik": "Besonders die Ukraine-Krise sorgte dafür, dass die Gauck-Rede am 31. Januar 2014 nicht als singuläres Ereignis, sondern als gedanklicher Unterbau eines neuen Politikansatzes empfunden wurde. [...] Spätestens seit dem EU-Gipfel in Vilnius Ende November 2013 hatte Berlin in enger Abstimmung mit der EU eine Führungsrolle bei der Vermittlung zwischen Russland, der Ukraine und den anderen Ländern der östlichen Partnerschaft gespielt."

Dennoch hat die ganze Angelegenheit aus Sicht der "Gauckisten" gegenwärtig jedoch einen großen Haken - die deutsche Bevölkerung. So fasste die "Süddeutsche Zeitung" die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage vom April und Mai 2014 so zusammen: "Verglichen mit den Ergebnissen einer ähnlichen Untersuchung der amerikanischen Rand-Corporation aus dem Jahr 1994 haben sich die Verhältnisse umgekehrt. Damals plädierten 62 Prozent für ein größeres deutsches Engagement. Heute sind es noch 37 Prozent. Damit wird klar: Eine deutliche Mehrheit steht den Plädoyers von Bundespräsident Joachim Gauck, Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und Steinmeier, Deutschland möge sich weltweit mehr engagieren, erst mal skeptisch gegenüber."

Die Kluft zwischen öffentlicher Meinung und den "Gauckisten" könnte also größer kaum sein - wohl genau aus diesem Grund setzte, insbesondere seit Ausbruch der Ukraine-Krise, eine Propagandaoffensive ein, die zum Ziel hat, die deutsche Bevölkerung buchstäblich sturmreif zu schießen. Bislang war dies allerdings weitgehend erfolglos und es steht zu hoffen, dass dies auch so bleiben wird.

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Deutschland: Wi(e)der die Großmacht

Im März veröffentlichte die Informationsstelle Militarisierung (IMI) die Broschüre "Deutschland: Wi(e)der die Großmacht!" Sie beschäftigt sich mit den Hintergründen der neuen deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, die mit dem Auftritt von Bundespräsident Gauck bei der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang 2014 eingeläutet wurde. In bis dahin nicht gekannter Offenheit drängen seither große Teile aus Politik, Wirtschaft, Militär und Medien auf einen weltpolitischen Aufstieg Deutschlands. Gleichzeitig benennen sie auch offen die hierfür notwendige Bedingung: Die Bereitschaft, sich künftig häufiger militärisch-machtpolitisch in Szene zu setzen. Die Broschüre dokumentiert die Beiträge des gleichnamigen letzten IMI-Kongresses, mit dem einerseits versucht wurde, diese neue deutsche Großmachtpolitik inhaltlich umfassend aufzuarbeiten. Vor allem aber geht es natürlich andererseits auch darum, Widerstand gegen diese Politik anzuregen, wozu diese Broschüre hoffentlich einen kleinen Beitrag leistet.

Die Broschüre (68 Seiten, A4-Format) kann gratis von der IMI-Webseite (www.imi-online.de) heruntergeladen oder zum Preis von 4 Euro (plus Porto) unter imi@imi-online.de bestellt werden.


Jürgen Wagner ist DFG-VK-Mitglied und aktiv in der Tübinger Informationsstelle Militarisierung.

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Quelle:
ZivilCourage Nr. 2 - Mai/Juni 2015, S. 22-23
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK
Herausgeberin: Deutsche Friedensgesellschaft -
Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen e.V. (DFG-VK)
Werastraße 10, 70182 Stuttgart
Redaktion: ZivilCourage, Werastraße 10, 70182 Stuttgart
Telefon: 0711 - 51 89 26 20, Telefax: 03212 - 102 82 55
E-Mail: zc@dfg-vk.de
Internet: www.zc-online.de
 
Erscheinungsweise: zweimonatlich, sechs Mal jährlich
Jahres-Abonnement: 14,00 Euro einschließlich Porto
Einzelheft: 2,30 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. August 2015

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