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STANDPUNKT/093: Folgen einer Aussetzung der Wehrpflicht für den Zivildienstbereich (Forum Pazifismus)


Forum Pazifismus Nr. 26 - II/2010
Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit

Zentralstelle KDV
Es gibt keine "soziale Katastrophe"

Folgen einer möglichen Aussetzung der Wehrpflicht für den Bereich des Zivildienstes


Auf seiner Klausursitzung am 6./7. Juni hat das Bundeskabinett u.a. beschlossen:

Anpassung der Bundeswehr an neue Anforderung

Das Bundesministerium der Verteidigung prüft im Rahmen der derzeitigen Reformüberlegungen die Optimierung der Strukturen der Bundeswehr an den Erfordernissen der Befähigung zum Einsatz. In diese Überlegungen sind auch die Organisation und Zusammensetzung der Streitkräfte, einschließlich des Personalumfangs der verschiedenen Statusgruppen einbezogen.

Gleichzeitig obliegt dem Bundesministerium der Verteidigung - zusammen mit allen anderen Ressorts der Bundesregierung -, auch zur Konsolidierung des Bundeshaushaltes und zur Einhaltung der verfassungsrechtlich vorgegebenen Schuldenbremse beizutragen.

Vor diesem Hintergrund wird der Bundesminister der Verteidigung in Zusammenarbeit mit der Strukturkommission der Bundeswehr beauftragt, bis Anfang September 2010 aufzuzeigen, welche Folgen eine deutliche Reduzierung der Streitkräfte um bis zu 40.000 Berufs- und Zeitsoldaten für die sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit Deutschlands, die Einsatz- und Bündnisfähigkeit, Fragen der Beschaffung, die Strukturen und den Gesamtumfang der Bundeswehr sowie die Wehrform und deren Ausgestaltung hätte. Darüber hinaus wird die Kommission beauftragt, Möglichkeiten aufzuzeigen, wie durch eine bessere Arbeitsteilung im Bündnis Einsparpotentiale gewonnen werden können.

Unabhängig von einem aus dieser Prüfung resultierendem Entscheidungsbedarf wird am Wehrrechtsänderungsgesetz 2010 in der vom Bundeskabinett beschlossenen Fassung festgehalten, um den zum 01. Juli 2010 einberufenen Wehr- und Zivildienstleistenden Planungs- und Rechtssicherheit dahingehend zu geben, dass ihr Grundwehr- bzw. Zivildienst 6 Monate dauert.

Da eine die allgemeine Wehrpflicht betreffende Veränderung auch unmittelbare Auswirkungen auf den der Wehrpflicht rechtlich folgenden Zivildienst haben würde, wird die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend beauftragt, ebenfalls bis Anfang September darzustellen, welche Auswirkungen mögliche Veränderungen der Wehrpflichtfür den Zivildienst und die Funktionsfähigkeit der vom Einsatz der Zivildienstleistenden unmittelbar profitierenden sozialen Infrastruktur hätte.


Im Vorfeld der Erstellung des Berichts wurde die Zentralstelle KDV vom Jugendministerium gebeten, "die Auswirkung möglicher Veränderungen" aus ihrer Sicht zu beschreiben. Wir veröffentlichen diese Stellungnahme hier auszugsweise.


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Aussetzung, Abschaffung oder Verbot der Wehrpflicht

Die öffentliche Debatte um Aussetzung oder Abschaffung der Wehrpflicht lässt es sinnvoll erscheinen, unserer Stellungnahme einen Auszug aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 13.4.1978 - 2 BvF 1,2,4,5/77 - voranzustellen: "Das Grundgesetz eröffnet dem einfachen Gesetzgeber die Befugnis, Männer vom vollendeten 18. Lebensjahr an der allgemeinen Wehrpflicht zu unterwerfen. Artikel 12a Abs. 2 GG ermächtigt den Gesetzgeber, Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen zu einem Ersatzdienst zu verpflichten. Er soll, wie sich schon aus der Wortwahl (Ersatzdienst, Ersatzdienstpflicht) ergibt, nur an die Stelle des im Einzelfall rechtmäßig verweigerten Wehrdienstes treten." (Hervorhebungen durch die Zentralstelle KDV)

Artikel 12a Grundgesetz ist (und war immer) eindeutig: "Männer können zum Dienst in den Streitkräften verpflichtet werden. Weraus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert, kann zu einem Ersatzdienst verpflichtet werden."

Die allgemeine Wehrpflicht ist von der Verfassung nicht vorgeschrieben, sondern lediglich als Option vorgesehen. Deshalb stellt das Bundesverfassungsgericht dem zitierten Urteil als Leitsatz 1 voran: "Die von der Verfassung geforderte militärische Landesverteidigung kann auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht, aber - sofern ihre Funktionstätigkeit gewährleistet bleibt - verfassungsrechtlich unbedenklich beispielsweise auch durch eine Freiwilligenarmee sichergestellt werden."

Die Wehrpflicht wird ausgesetzt, wenn der Deutsche Bundestag einen Bundeshaushalt beschließt, in dem keine Haushaltsmittel mehr für Dienstposten von Wehrpflichtigen vorgesehen sind (Artikel 87a Absatz 1 Grundgesetz: "Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf. Ihre zahlenmäßige Stärke und die Grundzüge ihrer Organisation müssen sich aus dem Haushaltsplan ergehen."). Das Wehrpflichtgesetz bleibt aber in Kraft und die Einberufung Wehrpflichtiger könnte im Rahmen eines Nachtragshaushaltes oder mit Haushaltsbeschlüssen in späteren Jahre wieder vorgesehen werden.

Die Wehrpflicht wird (einfachrechtlich) abgeschafft, wenn der Deutsche Bundestag das Wehrpflichtgesetz aufhebt. Davon unberührt bleibt Artikel 12a Grundgesetz und somit die Ermächtigung des Gesetzgebers, die Wehrpflicht später wieder einzuführen.

Die Wehrpflicht wird verfassungsrechtlich abgeschafft und verboten, wenn der Deutsche Bundestag mit einer Zweidrittel-Mehrheit Artikel 12a aus dem Grundgesetz streicht.

Debattiert wird zurzeit auch der Vorschlag der SPD, zum Wehrdienst nur diejenigen einzuberufen, die sich ausdrücklich mit der Einberufung einverstanden. erklärt haben. Faktisch würde dies einer Aussetzung der Wehrpflicht gleichkommen, weil nur noch Freiwillige in der Bundeswehr dienen.(...)


Keine Wehrpflicht, wenn Freiwilligenstreitkräfte ausreichen

Das Grundgesetz gibt dem Gesetzgeber die Befugnis, die Wehrpflicht einzuführen oder an ihr festzuhalten. Allerdings ist die Wehrpflicht eine Art "Notmaßnahme" des Staates für die Rekrutierung von Soldaten. Nach den Vorgaben und Vorstellungen des Grundgesetzes ist der bundesdeutsche Staat grundsätzlich darauf ausgerichtet, dass die Bürger sich freiwillig beteiligen und engagieren oder freiwillig bestimmte Dienstleistungen übernehmen. Staatsbürgerliche Pflichten unterliegen strengen Anforderungen. Das gilt besonders für die Wehrpflicht. Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts und damalige Bundespräsident Roman Herzog sagte im November 1995 auf der Kommandeurstagung der Bundeswehr:

"Die Wehrpflicht ist ein so tiefer Eingriff in die individuelle Freiheit des jungen Bürgers, dass ihn der demokratische Rechtsstaat nur fordern darf wenn es die äußere Sicherheit des Staates wirklich gebietet. Sie ist also kein allgemeingültiges ewiges Prinzip, sondern sie ist auch abhängig von der konkreten Sicherheitslage. Ihre Beibehaltung, Aussetzung oder Abschaffung und ebenso die Dauer des Grundwehrdienstes müssen sicherheitspolitisch begründet werden können. Gesellschaftspolitische, historische, finanzielle und streitkräfteinterne Argumente ... werden im Gespräch mit dem Bürger nie die alleinige Basis für Konsens sein können."

Die von Verteidigungsminister Guttenberg unterbreiteten Vorschläge zur Aussetzung der Wehrpflicht zeigen, dass er und sein Ministerium davon ausgehen, dass die äußere Sicherheit des Staates auch durch eine - verfassungsrechtlich unbedenkliche - Freiwilligenarmee gewährleistet werden kann. Wenn das der Fall ist, dann ist die Wehrpflicht mit den mit ihr verbundenen tiefen Eingriffen in die individuelle Freiheit der Bürger nicht mehr zulässig. Es wird also schon wegen der grundgesetzlichen Vorschriften zu einer Aussetzung der bisherigen Wehrpflicht kommen müssen. Der Gesetzgeber ist nicht frei, an der Wehrpflicht festzuhalten, wenn die sicherheitspolitische Lage sie nicht mehr erfordert. Mit der Aussetzung der Wehrpflicht wird der Zivildienst ebenfalls wegfallen.

Wenn das Bundeskabinett die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend beauftragt, "bis Anfang September darzustellen, welche Auswirkungen mögliche Veränderungen der Wehrpflicht für den Zivildienst und die Funktionsfähigkeit der vom Einsatz der Zivildienstleistenden unmittelbar profitierenden sozialen Infrastruktur hätte", dann kann es nicht um ein Plädoyer für die Beibehaltung der Wehrpflicht aus Gründen des Zivildienstes gehen, sondern nur darum festzustellen, welche Kompensationsmaßnahmen gegebenenfalls im Sozialbereich nötig sind.


Der Umfang des Zivildienstes

Um diese Kompensationsmaßnahmen abzuschätzen, muss der Zivildienst zunächst in seiner Funktion im Sozialbereich richtig eingeordnet werden.

Im Juli 1999 dauerte der Zivildienst fünfzehn Monate. 145.276 Zivildienstleistende waren in diesem Monat im Dienst. Im Juli 2010, der Zivildienst dauert neun Monate, sind 39.450 Dienstleistende im Dienst. Das sind nur gut ein Viertel der Dienstleistenden des Jahres 1999. Soziale Notlagen, emotionale Kälte in den Einrichtungen, unversorgte Unfallopfer - nichts davon wird dem Zivildienst angelastet, obwohl über 100.000 Zivildienstleistende weniger im Dienst sind. Offensichtlich ist es gelungen, die sozialen Dienstleistungen, die vor gut zehn Jahren von über 100.000 Zivildienstleistenden erbracht wurden, zu ersetzen.

Im Juli 2000 waren 97.677 Zivildienstleistende im Dienst, 47.599 weniger als im Juli des Jahres 1999. Sollte die Wehrpflicht ausgesetzt werden und sollten deshalb im Juli des kommenden Jahres keine Zivildienstleistende mehr beschäftigt sein, so würden gegenüber heute "nur" 39.450 Zivis, 8.000 weniger als vor 10 Jahren, innerhalb kurzer Zeit wegfallen. Was zwischen 1999 und 2000 ohne "soziale Katastrophen" gelang, dürfte im kommenden Jahr auch zu schaffen sein.

In Bereichen, in denen Zivildienstleistende beschäftigt sind, arbeiten rund 3,5 Millionen Menschen. 39.450 Zivis machen nur gut ein Prozent dieser Beschäftigten aus.


Arbeitsmarkneutralität des Zivildienstes

Der Zivildienst unterliegt dem Gebot der Arbeitsmarktneutralität. In den Richtlinien zur Anerkennung von Beschäftigungsstellen des Zivildienstes vom 20.10.2008 heißt es unter Ziffer 2.4.4 dazu: "Zivildienstplätze dürfen nicht anerkannt werden, wenn sie nachweislich einen bisherigen Arbeitsplatz ersetzen oder eine Einrichtung eines neuen Arbeitsplatzes erübrigen sollen. Die arbeitsmarktpolitische Neutralität ist insbesondere dann gewährleistet, wenn die Arbeiten ohne den Einsatz von ZDL nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführt würden oder auf dem Arbeitsmarkt keine Nachfrage besteht. Die Einrichtung hat die arbeitsmarktpolitische Neutralität zu erklären und zu begründen."

Die "Funktionsfähigkeit der vom Einsatz der Zivildienstleistenden unmittelbar profitierenden sozialen Infrastruktur" - wie es im Kabinettsbeschluss formuliert ist - kann bei Einhaltung des Gebots der Arbeitsmarktneutralität des Zivildienstes nicht beeinträchtigt werden. Die Funktionsfähigkeit der sozialen Infrastruktur muss durch regulär Beschäftigte gewährleistet werden. Stützt sich deren Funktionsfähigkeit hingegen auf die Beschäftigung von Zivildienstleistenden, dann wird damit implizit die Arbeitsmarktneutralität verletzt. Theoretisch ist die Antwort also einfach: Die Funktionsfähigkeit der sozialen Infrastruktur ist bei Wegfall des Zivildienstes nicht beeinträchtigt. Ob sich das in der Praxis bestätigt, soll später an einzelnen ausgewählten Einsatzbereichen untersucht werden.

Durch die Privatisierungen im Gesundheitswesen sind inzwischen etwa ein Drittel der Zivildienstleistenden (im Juli 2010 rund 13.000 von insgesamt 39.450 Dienstleistenden) in so genannten "gewinnorientierten" Betrieben beschäftigt. Das sind auf der einen Seite große Krankenhauskonzerne, die mit dem effektiven Betrieb von Einrichtungen des Gesundheitswesens erhebliche Gewinne (bis hin zu dreistelligen Millionenbeträgen) erwirtschaften. In diesen Betrieben ist der Ersatz von Zivildienstleistenden durch reguläre, nach den jeweilig geltenden Tarifverträgen bezahlte Arbeitskräfte kein Problem. Auf der anderen Seite sind die privatisierten Betriebe auch viele kleine Pflegedienste, deren Tätigkeit aber ebenfalls auf die Erwirtschaftung von Betriebsgewinnen ausgelegt ist. Auch in diesem Bereich würde der Ersatz von Zivildienstleistenden durch reguläre MitarbeiterInnen vermutlich nur den Betriebsgewinn schmälern, nicht aber zur Einstellung der sozialen Dienstleistung führen. In diesen auf die Erzielung von Betriebsgewinnen ausgelegten Einrichtungen dürften zudem sowieso keine "zusätzlichen" Aufgaben wahrgenommen werden. Der Wegfall des Zivildienstes in diesem Bereich wird zu keiner Reduzierung sozialer Dienstleistungen führen.


Kosten des Zivildienstes

Zivildienst ist - volkswirtschaftlich gesehen - die teurere Variante, soziale Dienstleistungen zu erbringen. Der Bundeshaushalt 2011 sieht für den Zivildienst 567 Millionen Euro vor. Damit sollen knapp 43.000 Zivildienstleistende (= 86.000 Einberufungen zu jeweils sechs Monaten Dienst) und gut 8.000 freiwillig zusätzlichen Zivildienst Leistende im Jahresdurchschnitt im Dienst sein. Pro Zivildienstleistenden und Jahr wendet der Bund nach diesen Eckdaten 11.100 Euro auf. Die Zivildienststellen zahlen pro Jahr knapp 7.000 Euro pro besetztem Zivildienstplatz. 18.000 Euro kostet die Arbeitskraft Zivildienstleistender pro Jahr.

Anfang der 1990 Jahre - als der Zivildienst noch 15 Monate dauerte - haben Sozialwissenschaftler untersucht, dass wegen der Reibungsverluste durch Einarbeitung, Lehrgänge etc. zwei hauptamtliche Dauerarbeitskräfte ausreichen, um drei Zivildienstleistende zu ersetzen. Bei einem 6-monatigen Dienst dürfte das Verhältnis sogar deutlich ungünstiger zu Lasten des Zivildienstes ausfallen.

Für drei Zivildienstleistende werden pro Jahr 54.000 Euro aufgewendet. Verteilt auf zwei hauptamtliche Dauerarbeitskräfte stehen pro Arbeitskraft also schon 27.000 Euro zur Verfügung. Arbeitslose erhalten mindestens 6.000 Euro Unterstützungsleistungen pro Jahr in Form von Arbeitslosengeld, Wohngeld etc.. Diese Leistungen werden eingespart, wenn ein Arbeitsloser Arbeit findet. Pro Jahr und hauptamtlicher Arbeitskraft stehen damit rund 33.000 Euro zur Verfügung (Aufwendungen für drei Zivildienstleistende a 18.000 Euro: gleich 54.000 Euro, verteilt auf zwei hauptamtliche Arbeitskräfte: gleich 27.000 Euro, plus die jeweils eingesparten Sozialleistungen a 6.000 Euro: ergibt pro Neueinstellung volkswirtschaftlich verfügbare Mittel in Höhe von 33.000 Euro.).

Für tariflich bezahlte Pflegehilfskräfte wenden die Wohlfahrtsverbände ein Arbeitgeberbrutto von knapp 30.000 Euro pro Jahr auf.

Das Erbringen sozialer Dienstleistungen durch tariflich bezahlte Arbeitskräfte ist volkswirtschaftlich deutlich günstiger als durch Zivildienstleistende. Es ist Aufgabe der Politik, das bisher im Zivildienst ausgegebene Geld dorthin zu bringen, wo die bisher durch Zivildienstleistende erbrachten sozialen Dienstleistungen organisiert werden. (...)


Einzelne Arbeitsbereiche des Zivildienstes

Wie wirkt sich der Wegfall des Zivildienstes auf einzelne Arbeitsbereiche aus, die von gemeinnützigen Einrichtungen angeboten werden?

Im Juli waren gut 200 Zivildienstplätze in der individuellen Betreuung von schwerstbehinderten Kindern (ISB-K) besetzt. Rund 50.000 schwerbehinderte Kinder unter 15 Jahre mit einem Behinderungsgrad von 100 Prozent leben in Deutschland. Gut 200 von ihnen organisieren die Assistenz über den Zivildienst, viele Tausend folglich auf andere Weise. Schon das zeigt, dass dieser Bereich nicht auf den Zivildienst angewiesen ist. (...)

Ebenfalls 200 Zivildienstplätze waren im Juli 2010 in der individuellen Betreuung erwachsener Schwerstbehinderter besetzt. Obwohl das öffentliche Bild des Zivildienstes stark verbunden ist mit dem Rollstuhl schiebenden jungen Mann, sind tatsächlich nur 0,5 Prozent der Zivildienstleistenden in diesem Bereich tätig. Einige Zehntausend Schwerstbehinderte organisieren ihre Assistenz ohne Zivildienstleistende, in der Regel durch einschlägig vor- oder ausgebildete regulär Beschäftigte. Dies dürfte in den 200 Fällen, die sich bei einem Auslaufen des Zivildienstes neu orientieren müssten, auch gelingen.

Im Juli waren rund 1.200 Zivildienstplätze mit "Tätigkeiten im Krankentransport und Rettungsdienst" besetzt. Rund 60.000 Menschen arbeiten insgesamt in diesem Bereich, Zivildienstleistende machen also 2 Prozent der im Rettungsdienst Tätigen aus. Der Einsatz von Zivildienstleistenden im Unfallrettungsdienst hat in der Vergangenheit das öffentliche Bild des Zivildienstes wesentlich mitgeprägt. Ob das inzwischen nur noch veröffentlichte Bild die Realität widerspiegelt, ist fraglich. Korrekter ist vermutlich folgender Satz in einem aktuellen Bericht über den Zivildienst "Vor einigen Jahren setzten die Malteser auch im Rettungsdienst Zivildienstleistende ein, das rentierte sich aber schon nach den letzten Verkürzungen der Wehrdienstzeit nicht mehr." Konkret heißt das, dass die meisten Rettungsdienste bereits vor zehn Jahren aus dem Zivildienst ausgestiegen sind, als die Dienstdauer ein Jahr und kürzer wurde. (...)

Knapp 12.000 Zivildienstplätze sind nicht im unmittelbaren Dienst am Menschen, sondern als "handwerkliche Tätigkeiten", "gärtnerische und landwirtschaftliche Tätigkeiten", "kaufmännische und Verwaltungstätigkeiten", "Versorgungstätigkeiten" und "Kraftfahrdienste" ausgewiesen und besetzt. In diesen Tätigkeitsbereichen werden mit dem Wegfall des Zivildienstes entweder neue Hilfskräfte eingestellt, weil die Tätigkeiten nicht arbeitsmarktneutral waren (zum Beispiel Hausmeistergehilfe im Altenpflegeheim, Hilfskraft in der Krankenhauswäscherei, Küchenhilfe in der Reha-Klinik), oder die Tätigkeiten unterbleiben. Unmittelbare Versorgungsengpässe für bedürftige Menschen werden nicht auftreten.

Rund 1.600 Zivildienstplätze sind im Umweltschutz besetzt. Diese Zivildienstplätze können in Stellen des Freiwilligen Ökologischen Jahres (FÖJ) umgewidmet werden. Hier ist die Nachfrage nach freien Stellen deutlich höher als das bisherige Angebot. Die Einrichtungen werden alle ehemaligen Zivildienstplätze, die in FÖJ-Stellen umgewandelt wurden, problemlos mit Bewerberinnen und Bewerbern des Freiwilligen Jahres besetzen können.

21.400 Zivildienstplätze sind bei Pflegehilfe- und Betreuungsdiensten besetzt, weitere 850 bei mobilen sozialen Hilfsdiensten. Sie stellen die mit Abstand größte Gruppe unter den Zivildienstleistenden, aber - statistisch gesehen - in den jeweiligen Einrichtungen nur gut 1 Prozent des Personals. Nur jeder 99. Mitarbeiter bei den Pflegehilfe- und Betreuungsdiensten ist Zivildienstleistender. Zahlreiche Einrichtungen kommen - möglicherweise inzwischen oder auch: schon immer - ohne Zivildienstleistende aus. Pflegehilfe- und Betreuungsdienste lassen sich also auch ohne Zivildienst erfolgreich organisieren und durchführen.

Ein Drittel dieser 22.000 Zivildienstplätze sind in gewinnorientierten Betrieben des Sozialbereichs angesiedelt. Hier können Ersatzarbeitskräfte durch die Betriebe eingestellt werden. Soziale Dienstleistungen werden dadurch nicht reduziert. Nur rund 15.000 Stellen entfallen auf gemeinwohlorientierte Einrichtungen, über deren Ersatz ernsthaft nachgedacht werden sollte.

Zum einen lassen sich die sozialen Dienstleistungen, die von Zivildienstleistenden auf diesen 15.000 Stellen erbracht wurden, kostengünstiger auch durch tariflich bezahlte Arbeitskräfte erbringen. Zum anderen wird es aber auch möglich sein, einen Teil dieser Zivildienststellen dem Freiwilligen Jahr zur Verfügung zu stellen. Die Träger des Freiwilligen Jahres haben angeboten, die Zahl der Plätze auf rund 60.000 gegenüber dem heutigen Stand fast zu verdoppeln, um allen Bewerberinnen und Bewerbern tatsächlich eine Stelle zur Verfügung stellen zu können. Vor diesem Hintergrund ließen sich sogar alle 15.000 bisherigen Zivildienstplätze mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Freiwilligen Jahres besetzen.

Bei aller Debatte über die Bedeutung des Zivildienstes im Sozialbereich darf nicht vergessen werden: Deutschland ist eines der letzten Länder in Europa mit Wehrpflicht und damit auch mit Zivildienst. Alle Nachbarländer kommen in ihrem Sozialsystem ohne Zivildienstleistende aus. Die Standards der dortigen Einrichtungen stehen den deutschen nicht nach, in manchen Ländern (z.B. Dänemark oder Niederlande) gelten diese sogar als Vorbild für hiesige Einrichtungen.


Folgen für einzelne Personengruppen

Zivildienst ist ein Pflichtdienst. Viele - aber lange nicht alle - jungen Männer können den Dienst in ihre Lebensplanung integrieren. Nach unserer Einschätzung dürfte etwa die Hälfte der Dienstleistenden durch den Zivildienst eine ungewollte Verschiebung der Ausbildung oder Unterbrechung des Arbeitsverhältnisses hinnehmen müssen.

Die Bemühungen der Bundes- und Landesregierungen, durch die Verkürzung der Schulzeit einen früheren Studiums- und Berufseinstieg zu ermöglichen, werden durch den Zivildienst zunichte gemacht.

Insbesondere dann, wenn dadurch Arbeitsverhältnisse unterbrochen werden müssen und der Arbeitgeber innerhalb des Betriebes Kompensationsmaßnahmen ergreifen muss, ist der wirtschaftliche Schaden für den Betrieb nicht zu unterschätzen.

Die Berufseinstiegsverschiebung um ein Jahr schlägt sich auch bei jedem einzelnen Arbeitnehmer mit einem um 91.754 Euro geringeren Bruttoeinkommen - bezogen auf seine Lebensarbeitszeit - nieder. Den Sozialversicherungen gehen Arbeitgeberanteile von 23.397 Euro verloren.

Erhebliche Folgewirkungen haben Einberufungen in den ersten beiden Semestern eines Studiums und in der Übergangszeit zwischen Ausbildung und Berufseinstieg. Die Wiederholung von Semestern oder ein Studiumsabbruch sind nicht selten die Folge. Gelingt der Berufseinstieg nach der Ausbildung wegen des anstehenden Zivildienstes nicht, so entstehen im Anschluss an den Dienst häufig Zeiten längerer Arbeitslosigkeit.


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Quelle:
Forum Pazifismus - Zeitschrift für Theorie und Praxis
der Gewaltfreiheit Nr. 26, II/2010, S. 7 - 10
Herausgeber: Internationaler Versöhnungsbund - deutscher Zweig,
DFG-VK (Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen) mit der Bertha-von-Suttner-Stiftung der
DFG-VK, Bund für Soziale Verteidigung (BSV) und Werkstatt für
Pazifismus, Friedenspädagogik und Völkerverständigung PAX AN
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in der zweiten Quartalshälfte.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Oktober 2010