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STANDPUNKT/075: Abrüstung und Entwicklung (ZivilCourage)


ZivilCourage Nr. 2 - Mai 2008
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK

Democracy, Disarmament, Development
Abrüstung und Entwicklung: Die Perspektive der Zivilgesellschaft

Von Jean-Pierre Dardaud


Zivilgesellschaft ist ein recht weit gefasstes Konzept. Ich schlage vor, dass wir die Perspektive der Armen in den Mittelpunkt stellen. Vor einigen Monaten hatte ich die Gelegenheit, ein Dorf zu besuchen, das 40 Kilometer von Bangalore entfernt in Südindien liegt. Dort konnte ich mit den Dorfbewohnern über die "Brot und Butter-Fragen" diskutieren, eine Art informellen Graswurzelseminars voll gepackt mit wichtigen Informationen darüber, was Sicherheit für Arme bedeutet. Die Dorfbewohner sind alle Feldarbeiter ohne Landbesitz mit einer Dalit-Herkunft. In der Landwirtschaft finden sie im Jahr für drei bis vier Monate Beschäftigung; für den Ackerbau sind sie wegen fehlender Bewässerungsanlagen völlig von Regenfällen abhängig. Obwohl das Gesetz über den Mindestlohn eine Lohnzahlung von minimal 50 Rupien pro Tag vorschreibt, erhalten männliche Feldarbeiter 30 Rupien täglich und weibliche nur 20 Rupien. Für den Rest des Jahres verdienen sie sich einen kargen Lebensunterhalt, indem sie in den benachbarten Wäldern Fasern sammeln und daraus Körbe herstellen, die sie auf den lokalen Märkten verkaufen. Die Arbeit ist riskant, denn oft werden sie von örtlichen Rabauken gejagt und bedroht, die für Unternehmer arbeiten, die den Wald kommerziell ausbeuten. Falsche Anschuldigungen, dass sie wertvolles Holz stehlen, werden gegen die armen Kerle vorgebracht. Einige wurden verprügelt, andere wurden inhaftiert und mussten korrupte Polizisten bezahlen, um freigelassen zu werden. Alle werden regelmäßig dafür beschimpft, vermeintlich schmutzige "Unberührbare" zu sein.

Ich verließ dieses Treffen mit dem Gefühl, dass wir an den Gedanken gewöhnt sind, Armut müsse verringert werden, um die Gefahr von Gewalt zu minimieren, die mit sozialer Ungerechtigkeit einhergeht. Aber wir betonen nicht gerade häufig, dass Armut selbst eine massive Form von Gewalt ist, die beseitigt werden muss, um für Millionen Menschen in aller Welt elementare Sicherheit zu gewährleisten.

Denn die Lage dieser Dorfbewohner ist keine Ausnahme. Die meisten Menschen in Indien, ob auf dem Land oder in der Stadt, sind mit derselben Art brutaler sozialer Unsicherheit konfrontiert. Im Weltmaßstab betrachtet macht die Perspektive der Armen sehr deutlich, dass Unsicherheit für viele Menschen nicht allein eine nationale Angelegenheit ist, die die internationalen Beziehungen betrifft, sondern auch und zu einem großen Teil vorrangig eine soziale Frage, die sich auf ihre eigenen wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Lebensumstände bezieht.

Da die Armen und die Menschen mit einem geringen Einkommen die Mehrheit aller menschlichen Lebewesen repräsentieren und der Wunsch nach weniger Rüstung und mehr Rechten überall auf dem Globus von vielen geteilt wird, könnte man gemessen an demokratischen Maßstäben erwarten, dass die Ausgaben für nationale Sicherheit und die Investitionen für eine soziale Entwicklung fairer verteilt wären. Aus diesem Grund meine ich, dass es wichtig ist, ein weiteres D für Demokratie (Democracy) hinzuzufügen, um das D für Abrüstung (Disarmament) und das D für Entwicklung (Development) in der richtigen Weise zusammenzuführen.

Es gibt eine Reihe anderer Gründe dafür, in Bezug auf Abrüstung und Entwicklung die Perspektive der Demokratie ins Spiel zu bringen.

Der erste Grund betrifft das Wettrüsten und die Art und Weise, wie eine starke Rüstung (die Anhäufung von Waffen) mit einer Militarisierung von Gesellschaften einhergeht. Das gilt nicht nur für offen militarisierte Staaten wie Pakistan. In Frankreich beispielsweise spielen große Rüstungsunternehmen zunehmend eine finanzielle und damit politische Rolle im Mediensektor. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass ein derartiger Trend dazu beiträgt, die fehlende Transparenz zu verringern, die in Fragen der nationalen Sicherheit und der Rüstungspolitik herrscht.

Rüstungsproduzenten sind mit Sicherheit besser als der normale Bürger darüber informiert, dass die französische Armee plant, ihre schweren Waffen bis 2015 zu reduzieren. Eine derart bedeutende Neuverteilung öffentlicher Geld - es handelt sich um das Geld der Bürger - wurde niemals öffentlich vorgestellt oder diskutiert. Als französischer Bürger habe ich jedes Recht zu wissen, ob das so eingesparte Geld dafür genutzt wird, das Defizit des Staatshaushalts auszugleichen, oder für den Kauf eines neuen Flugzeugträgers verwendet wird. Und ich bin sicher, dass viele Menschen eine öffentliche Diskussion über eine alternative Verwendung von eingesparten Rüstungsgeldern begrüßen würden, beispielsweise für ein nationales oder europäisches Programm, das Jugendlichen einen freiwilligen sozialen Dienst ermöglichen würde. In Frankreich könnte ein derartiges Programm übrigens vollständig durch die Verringerung des Rüstungshaushalts um weniger als zehn Prozent finanziert werden.

Über die finanziellen Folgen hinaus hat die Sicherheitspolitik einen so enormen Einfluss auf das Leben so vieler Menschen überall auf der Welt, dass eine transparentere Information und weniger restriktive öffentliche Debatten über diese Fragen in allen Staaten unter demokratischen Gesichtspunkten sehr berechtigt sind.

Mein letzter Punkt bezieht sich auf gewaltfreien Widerstand und gewaltlose Kämpfe, um Gewalt in jeder Form einzudämmen. Als Aktivist einer Nichtregierungsorganisation (NGO), die sich im Norden wie im Süden an Initiativen zu internationaler Solidarität und Entwicklung beteiligt, kann ich bestätigen, dass die Zivilgesellschaften eine Vielzahl weit gefächerter Initiativen ins Leben gerufen haben, um die Armut durch den Ausbau sozialer Rechte zu bekämpfen. Und es gibt viele konstruktive Bemühungen derselben Art, um ein besseres Bildungs- und Gesundheitswesen sowie einen wirkungsvolleren Umweltschutz zu erreichen. Alle diese gewaltfreien Bemühungen sind wichtig, um das demokratische Ethos im sozialen Gefüge auszuweiten. Ist Demokratie nicht im Grunde eine Verpflichtung zu der radikalen Gewaltlosigkeit von Rechten (Rechtssystem versus Gewaltsystem) als Antwort auf Gewalt und zur Lösung von Konflikten?

Wir betrachten Gewaltlosigkeit gewöhnlich als eine philosophische und persönliche moralische Haltung. Ich habe das Gefühl, dass wir sie nicht so sehr als eine politische Option fördern, die Bestandteil des demokratischen Wagnisses ist. Wie können wir die Erwartung hegen, die Kultur und Praxis gewaltfreier sozialer Aktion und demokratischer Entwicklung könne auf der lokalen und nationalen Ebene breiteren Raum finden, wenn auf der internationalen Ebene Gewalt als erste und oft einzige Option zur Konfliktlösung nach wie vor volle Legitimierung findet?

Aus meiner Sicht sind das einige der elementaren Punkte, die das dreifache D von Abrüstung, Entwicklung und Demokratie eng miteinander verbinden. Das ist nicht alleine meine persönliche Sichtweise, sondern diese Perspektive wird von vielen Sozialaktivisten im Norden und Süden geteilt, die in der internationalen Kampagne "Abrüsten, um Armut zu bekämpfen" mitarbeiten. Die Kampagne propagiert die "Zehn Prozent-Option". Diese Aktionsorientierung möchten wir gerne mit allen diskutieren und gemeinsam vorantreiben, die die Tagesordnungen von Frieden und sozialer Gerechtigkeit zusammenbringen wollen.


Jean-Pierre Dardaud ist Vorsitzender der internationalen Solidaritätsorganisation "frères des hommes" in Paris und koordiniert die Kampagne "Abrüsten, um Armut zu bekämpfen". Der Text ist eine überarbeitete Version der Rede, die Dardaud im November 2007 auf dem Seminar des Internationalen Friedensbüros zu Abrüstung und Entwicklung in Alexandria gehalten hat.


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Abrüsten, um Armut zu bekämpfen: eine globale Herausforderung

Armut und soziale Ungleichheit sowie die Verweigerung von Grundrechten für die Mehrheit der Menschen auf der Erde fördern eine verzweifelte und gewaltsame Ablehnung demokratischer Werte und stützen chauvinistische und totalitäre Kräfte. Die stetige Ausweitung des Waffenhandels und die Weiterverbreitung von Atomwaffen heizen das Wettrüsten an, führen zur Militarisierung von Staaten und Gesellschaften und setzen die menschliche Sicherheit, Demokratie sowie Entwicklung aufs Spiel. Fast die Hälfte aller Analphabeten in der Welt sowie 40 % der weltweit Armen leben in Südasien. Trotz enormer sozialer Mängel geben die Regierungen dieser Region außerordentlich hohe Beträge für ihre Rüstungsbudgets und für Waffenkäufe aus. Lebenswichtige Ressourcen des Südens werden auf diese Weise zum Nutzen mächtiger Staaten und der Todesindustrien im Norden abgezweigt.

Diese Militarisierung bedroht die Nahrungssicherheit, Gesundheit, Bildung und die Umwelt. In Südasien wie in anderen Teilen der Welt ist es höchste Zeit für eine fortschreitende Verringerung des Waffenhandels und der Militärhaushalte, um Finanzmittel für Investitionen in die soziale Entwicklung zur Bekämpfung von Armut und prekären Lebensverhältnissen freizusetzen.

Als ersten Schritt strebt die Kampagne "Abrüsten, um Armut zu bekämpfen" eine öffentliche Verpflichtung von Frankreich, Indien und Pakistan an, die Militärausgaben bis 2010 um 10 % zu verringern und die eingesparten Mittel in den Sozialsektor umzuleiten. Eine derartige Initiative wird die Unterstützung einer großen Mehrheit der Bürger Europas und Asiens finden. Sie kann einen direkten positiven Einfluß auf das Leben von Millionen Menschen haben, die von einer Ausweitung sozialer Sicherheiten auf bedürftige Arbeiter und ihre Familien profitieren könnten. Sie wird eine sehr ermutigende Botschaft aussenden: dass gemeinsames gewaltfreies Handeln der Menschen für Gerechtigkeit und Frieden eine lebendige Alternative zu chauvinistischer Gewalt und Kämpfen zwischen Ethnien und Dorfgemeinschaften darstellt.

Aus der Presseerklärung zur Lancierung der Kampagne vom 11. November 2006 in New Delhi


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Quelle:
ZivilCourage Nr. 2 - Mai 2008, S. 16-17
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK
Herausgeberin: Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen e.V. (DFG-VK e.V.),
Kasseler Straße 1A, 60486 Frankfurt
Redaktion: ZivilCourage, Postfach 90 08 43, 21048 Hamburg
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Erscheinungsweise: zweimonatlich
Jahres-Abonnement: 12,00 Euro einschließlich Porto
Einzelheft: 2,00 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juni 2008