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STANDPUNKT/069: Müssen Christen Pazifisten sein? (Forum Pazifismus)


Forum Pazifismus Nr. 16 - IV/2007
Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit

Müssen Christen Pazifisten sein?
Wie Gesinnungs- und Verantwortungsethik zusammengehen

Von Wolfgang Sternstein


Ich würde die Frage gerne mit einem schlichten, lakonischen Ja beantworten. Doch, wie so oft, steckt auch hier der Teufel im Detail. Was sind Christen? Was sind Pazifisten?

Sind Christen all jene, die dem christlich-abendländischen Kulturkreis angehören? Oder sind Christen diejenigen, die Mitglieder der christlichen Kirchen und Glaubensgemeinschaften sind? Oder sind Christen diejenigen, die sich um die Nachfolge Jesu Christi bemühen und die Bergpredigt zum Maßstab ihres Handelns wählen? Die erstgenannte Definition scheint mir zu weit gefasst, da sie selbst diejenigen einschließt, die das Christentum entschieden ablehnen. Die zweite Definition ist wiederum zu eng, denn es gibt zweifellos Menschen, die sich als Christen verstehen, ohne Mitglied einer christlichen Glaubensgemeinschaft zu sein. Die dritte Definition ist vermutlich diejenige, die Jesus selbst akzeptiert hätte. Gottesliebe, Fremdenliebe, Nächstenliebe, Feindesliebe stehen im Zentrum seines Lebens und seiner Lehre. Mit der Feindesliebe werde ich mich noch eingehend beschäftigen. Zunächst aber zu der Frage: Was sind Pazifisten?

Sind Pazifisten Menschen, die den Krieg und die Kriegsvorbereitung radikal ablehnen? Oder sind Pazifisten Leute, die den Krieg als unmoralisch und unverantwortlich ablehnen und für friedliche Konfliktregelung, für Schiedsgerichte und für Gerichte, die auf der Grundlage des Völkerrechts urteilen und deren Urteile von einer UNO-Streitmacht durchgesetzt werden, eintreten? Oder, dritte Möglichkeit, sind Pazifisten Leute, die in der gewaltfreien Aktion eine konstruktive Alternative zu Gewalt und Krieg als Mittel der Konfliktaustragung sehen und sie in ihrem Leben und in der Politik zu verwirklichen suchen?

Welche dieser drei Definitionen trifft auf die Pazifisten zu? Die erste und die zweite Definition bestimmen das Bild der Pazifisten in der öffentlichen Wahrnehmung. Für sie handelt es sich um Kriegsdienstverweigerer, die ein Grundrecht in Anspruch nehmen, nämlich das Grundrecht, den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern und stattdessen einen Zivildienst im sozialen Bereich abzuleisten. Auf die Frage, was sie gegen einen bewaffneten Angreifer oder gegen die soziale Ungerechtigkeit in der Welt tun, bleiben sie gewöhnlich die Antwort schuldig.

Der bekannte Soziologe Max Weber hat zwischen einer Gesinnungsethik und einer Verantwortungsethik unterschieden. Der Gesinnungsethiker verzichtet auf militärische Gegenwehr gegen einen Angreifer von innen oder von außen, weil er den Krieg und die Kriegsvorbereitung als unmoralisch ablehnt. Er ist eher bereit, seine Angehörigen und sein Vaterland einem militärischen Angreifer preiszugeben, als auf seine idealistische Gesinnung zu verzichten. Der Verantwortungsethiker dagegen ist bereit, sich notfalls die Hände schmutzig zu machen, um seine Angehörigen und sein Vaterland zu verteidigen. Webers Sympathie gehört eindeutig dem Verantwortungsethiker.

Was mich betrifft, so sind für mich Pazifisten nicht nur Gesinnungsethiker, sondern auch Verantwortungsethiker, denn es geht ihnen selbstverständlich auch darum, ihre Angehörigen und ihr Volk zu schützen. Das Konzept der Sozialen Verteidigung, das auf den Methoden der gewaltfreien Aktion beruht, erfüllt die Forderungen der Gesinnungsethik und der Verantwortungsethik gleichermaßen. Für mich sind Pazifisten auch nicht nur Menschen, die internationale Schiedsgerichte oder Gerichte auf der Basis des Völkerrechts befürworten. Für mich sind Pazifisten vielmehr jene, die eine konstruktive Alternative zur Gewalt als Mittel der Konfliktaustragung entwickeln, einüben und anwenden. Pazifist heißt ja, wörtlich übersetzt: Friedensmacher, Friedensstifter. Das heißt, es handelt sich um Menschen, die bereit sind, ihr Leben zu wagen im Kampf gegen jede Form von Gewalt, Krieg und Ungerechtigkeit.

Wenn wir nun Christen so definieren, wie ich es als dritte Möglichkeit beschrieben habe, nämlich als Menschen, die ihr Leben an der Bergpredigt Jesu ausrichten, und wenn wir Pazifisten so definieren, wie ich es als dritte Möglichkeit beschrieben habe, nämlich als Menschen, die bereit sind, mit den Methoden der gewaltfreien Aktion gegen Krieg, Gewalt und Ungerechtigkeit zu kämpfen, die selbstverständlich auch bereit sind, ihre Angehörigen und ihr Volk gegen bewaffnete Angreifer zu verteidigen, dann gilt in Tat der Satz: Christen müssen Pazifisten sein!


Universale Methode der Konfliktlösung

Was aber ist gewaltfreie Aktion? Das ist eine geniale Erfindung, die wir dem Inder Mohandas K. Gandhi, den seine Landsleute Mahatma, die große Seele nannten, verdanken. Kurz gesagt, es ist die Fähigkeit, Böses mit Gutem zu vergelten, um es auf diese Weise zu überwinden. Mit anderen Worten, es ist die Fähigkeit, Gewalt hinzunehmen, ohne zurückzuschlagen, aber auch ohne zurückzuweichen, um sie dadurch zu überwinden, sie gleichsam wieder aus der Welt zu schaffen. Gandhi hat das mit zeitlos gültigen Worten ausgedrückt:

"Immer und immer wieder habe ich die Erfahrung gemacht, dass das Gute Gutes hervorruft, das Böse aber Böses erzeugt. Wenn daher dem Ruf des Bösen kein Echo wird, so büßt es aus Mangel an Nahrung seine Kraft ein und geht zugrunde. Das Übel nährt sich nur von seinesgleichen. Weise Menschen, denen diese Tatsache klar geworden ist, vergelten daher nicht Böses mit Bösem, sondern immer nur mit Gutem und brachten dadurch das Böse zu Fall. Gleichwohl lebt das Böse weiter. Denn nicht viele befolgen diese Lehre, obwohl das Gesetz, das ihr zugrunde liegt, mit wissenschaftlicher Genauigkeit arbeitet."

Gewaltfreiheit ist demzufolge etwas anderes als Gewaltlosigkeit. Gewaltlosigkeit bezeichnet das Fehlen von Gewalt, die Abwesenheit von Gewalt. Gewaltfreiheit dagegen die Anwesenheit einer positiven, aktiven und aufbauenden, ja einer schöpferischen und heilenden Kraft. Wer gewaltfrei handelt, ist frei von dem Zwang, Gleiches mit Gleichem vergelten zu müssen. Er ist innerlich frei von Gewalt.

Gandhi nennt die Gewaltfreiheit auch Gewaltlosigkeit der Starken (nonviolence of the strong) im Unterschied zur Gewaltlosigkeit der Schwachen (nonviolence of the weak), womit er den bloßen Gewaltverzicht meint. Gandhi hat für diese geheimnisvolle Kraft ein eigenes Wort geprägt: Satjagrah, was soviel heißt wie Festhalten an der Wahrheit, Kraft der Wahrheit, Kraft der Liebe oder der Seele (im Unterschied zu Körperkraft). Satjagrah im Sinne von Wahrheits- oder Liebeskraft ist dem von Jesus geprägten Begriff der Nächsten- und Feindesliebe nahe verwandt.

Gleichwohl bedeuten sie nicht dasselbe. Nächsten- und Feindesliebe wird nämlich oft so verstanden oder (wie ich meine) missverstanden, dass man der Gewalt nicht widerstreben soll, das heißt, dass man sie hinnehmen soll, indem man sich ihr unterwirft und sie erduldet. Das ist bei Gandhi gerade nicht gemeint. Satjagrah ist eine aktive, kämpferische Haltung, die zwar bereit ist, Gewalt hinzunehmen ohne den Wunsch nach Rache oder Vergeltung, die sich aber keineswegs unterwirft, sondern im Gegenteil an der Wahrheit festhält, für die Wahrheit kämpft. Diese Haltung führt - nicht sofort und nicht in jedem Fall - dazu, dass der Gegner die berechtigten Interessen der gewaltfrei Kämpfenden anerkennt und ein Friede erreicht wird, der auf der Zustimmung aller Beteiligten beruht. Satjagrah ist folglich eine Methode der Konfliktaustragung, die Konflikte wirklich, weil dauerhaft zu lösen vermag.

Gewalt ist zwar ein geeignetes Mittel, um Macht, Reichtum und Privilegien zu erwerben bzw. als Staat fremde Länder zu erobern und fremde Völker zu unterjochen. Sie ist aber völlig untauglich, wenn es darum geht, Frieden zu schaffen, soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen oder Demokratie und Menschenrechte zu erkämpfen oder, wenn sie bedroht sind, zu verteidigen. Bei der Gewaltfreiheit ist es dagegen genau umgekehrt. Sie ist völlig untauglich, wenn es darum geht, Macht, Reichtum und Privilegien zu erwerben oder die nationale Rohstoffversorgung zu sichern und fremde Märkte offenzuhalten, sie ist jedoch das einzig taugliche Mittel, um echten Frieden zu schaffen, der auf der freiwilligen Übereinkunft aller Konfliktbeteiligten beruht.

Gegen Gewaltfreiheit wird oft eingewandt, sie sei gegen einen brutalen Gegner, etwa einen Hitler oder Stalin, zum Scheitern verurteilt. Das stimmt nicht. Gewaltfreiheit kann auch gegen einen Hitler oder Stalin mit Erfolg eingesetzt werden, vorausgesetzt, es finden sich genügend Menschen, die bereit sind, ihr Leben im Kampf gegen eine Diktatur oder ein totalitäres Regime zu wagen.

Doch ihr Leben wagen müssen schließlich auch Soldaten im Krieg und zwar in weitaus größerer Zahl. Der Versuch, Hitler mit Gewalt zu stürzen, hat viele Millionen Menschenleben gekostet. Gandhi meinte, am Ende hätten die Alliierten Hitler sogar regelrecht überhitlert, das heißt seine Gewalt durch noch größere Gewalt überboten. Während der Gewalt als Mittel der Konfliktaustragung eine Tendenz zu Eskalation, zum "Aufschaukeln" des Konflikts innewohnt, gilt für die Gewaltfreiheit das Gegenteil. Ihr wohnt die Tendenz zur Deeskalation, zum "Abschaukeln" des Konflikts inne. Während beim mit Gewalt ausgetragenden Konflikt die Kontrahenten mit zunehmender Schärfe der Auseinandersetzung immer tiefer im Sumpf des Hasses, der Lüge, der Propaganda, der Täuschung, des Betrugs und der Hinterlist versinken, steigen sie beim gewaltfrei ausgetragenen Konflikt allmählich aus diesem Sumpf heraus.

Gewaltfreiheit wirkt nach Gandhi geradezu wie ein Naturgesetz oder, wie er es nennt, "mit wissenschaftlicher Genauigkeit". Wir wissen, dass eine Säure durch eine Lauge neutralisiert werden kann und umgekehrt. Es gilt deshalb folgender Dreisatz: Wo wenig Säure ist, genügt auch wenig Lauge, um sie zu neutralisieren. Wo viel Säure ist, braucht man viel Lauge, und wo sehr viel Säure ist, braucht man sehr viel Lauge, um sie zu neutralisieren. Das Gleiche gilt für die Gewalt: Wo wenig Gewalt ist, genügt wenig Gewaltfreiheit, wo viel Gewalt ist, braucht man viel Gewaltfreiheit, und wo sehr viel Gewalt ist, bedarf es sehr vieler Gewaltfreiheit, sie zu neutralisieren und wieder aus der Welt zu schaffen.

Gewaltfreie Aktion ist demnach eine universale Methode der Konfliktlösung. Sie ist in Konflikten auf allen gesellschaftlichen Ebenen anwendbar, d.h. auf der persönlichen Ebene ebenso wie auf lokaler, regionaler, nationaler, internationaler, ja selbst auf globaler Ebene. Allerdings muss sie zuerst auf der persönlichen Ebene gelernt und eingeübt werden. Sie kann deshalb nur in jahrelanger Arbeit von den gesellschaftlichen Graswurzeln her aufgebaut werden.

Das bedeutet aber nicht, sie hätte keine Grenzen. Solche Grenzen hat sie durchaus, nur liegen sie ganz woanders, als gewöhnlich vermutet wird. Sie kann zum Beispiel, wie wir bereits gesehen haben, nicht für beliebige Ziele eingesetzt werden. Man nennt das die Zweck-Mittel-Relation. Mittel und Zweck, Weg und Ziel müssen übereinstimmen, wenn der Zweck erfüllt, das Ziel erreicht werden soll. Es gibt keinen Grundsatz, gegen den in unserem persönlichen und politischen Alltag so oft verstoßen wird, wie gegen diesen. Mit der Ausrede: Der (gute) Zweck heilige oder rechtfertige die (bösen) Mittel, belügen und betrügen wir uns selbst und andere. Albert Camus hatte jedoch völlig Recht, als er diesen Satz umkehrte und sagte: Es sind die guten Mittel, die den Zweck heiligen.

Eine zweite Grenze der Gewaltfreiheit besteht darin, dass es einer lebenslangen Bemühung bedarf, um diese Kraft zu erwerben und anzuwenden. In der Bibel fragt Petrus Jesus: "Wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er sich gegen mich versündigt? Siebenmal?" und er erhält die Antwort: "Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal." (Mt 18,21-22)

Wer auch nur ein kleines bisschen Lebenserfahrung besitzt, weiß, wie schwer, ja unmöglich das ist. Einmal zu vergeben, wenn einem Unrecht widerfährt, ist schon schwer genug. Zweimal gelingt nur wenigen und dreimal hintereinander kaum jemandem. Siebenmal schaffen allenfalls Heilige. Jesus aber sagt: "Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal." Das ist eine poetische Umschreibung für immer.

Jesus scheint in der Tat keine Ahnung gehabt zu haben, wie unsere Psyche "funktioniert". Sie funktioniert nämlich wie ein Bankkonto. Zuwendung, Liebe, Anerkennung, Freundlichkeit, Vertrauen und Mitgefühl, die uns zuteil werden, werden auf unserem Psychokonto als Aktiva gebucht. Angriffe, Unfreundlichkeit, Kritik, Hass, Misstrauen, Missachtung und Erniedrigung dagegen als Passiva. Wir können als normale Menschen unser Psychokonto nicht ständig Aberziehen. Unsere Psyche verlangt wie die Bank gebieterisch nach einem Ausgleich. Woher kommt dann die Fähigkeit, Böses mit Gutem zu vergelten und dadurch zu überwinden? Jesus, Franz von Assisi, Gandhi, King und andere haben darauf die Antwort gegeben: Diese Kraft kann nur von Gott kommen.

Indem wir unser Leben und das unserer Angehörigen bedingungslos in Gottes Hand legen und auf Selbstbehauptung verzichten, erlangen wir nach langen Jahren des Lernens und des Einübens diese geheimnisvolle Kraft, von der Gandhi sagt, sie bringe den Himmel auf die Erde, und von der Jesus sagt, durch sie beginne das Reich Gottes auf Erden zu wachsen wie das Senfkorn, das am Ende zu einem großen Baum werde, in dessen Zweigen die Vögel nisten.

Religion in dem Sinn, wie Jesus, Gandhi, King und andere sie verstehen, findet sich in dieser Welt nur höchst selten. Hier herrschen rücksichtsloser Egoismus, Lüge, Betrug, Gewalt, Hass, Neid, Misstrauen und Ungerechtigkeit. Trotzdem, jeder Schritt in Richtung auf Gewaltfreiheit, und sei er auch noch so klein, lohnt sich, denn er trägt seinen Sinn und seinen Lohn in sich selbst. Mag das Böse in dieser Welt auch täglich triumphieren, unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit betrachtet, handelt es sich um lauter Scheinsiege, da ihm kein Sein zukommt. Gandhi hat diesen Sachverhalt treffend in dem folgenden Zitat auf den Punkt gebracht:

"Die Welt ruht auf dem Felsgrund von Satja oder Wahrheit. Asatja, was Unwahrheit bedeutet, hat auch die Bedeutung 'nicht-seiend', und Satja oder Wahrheit bedeutet auch das, was 'ist'. Wenn Unwahrheit somit nicht als existent gilt, kommt ihr Sieg nicht in Frage. Und da Wahrheit das ist, was 'ist', kann sie nie zerstört werden. Das ist die Satjagrah-Lehre in nuce." (Kraus 171)


Vom Soldaten zum gewaltfreien Kämpfer

Die oft zitierte Unterscheidung Max Webers zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik trifft auf Menschen wie Gandhi, King oder die Brüder Daniel und Philip Berrigan nicht zu. Sie sind sowohl Gesinnungs- als auch Verantwortungsethiker, denn sie verteidigen ihre Angehörigen, ihr Land, die Demokratie und die Menschenrechte mit der "Waffe" der Gewaltfreiheit. Sie verbinden die positiven Eigenschaften des Soldaten und des Pazifisten und vermeiden deren negative Eigenschaften.

Zu den positiven Aspekten des Soldaten rechne ich seine Entschlossenheit, gegen feindliche Angriffe Widerstand zu leisten, seine Tapferkeit, seine Disziplin und seine Opferbereitschaft. Zu den positiven Eigenschaften des Pazifisten rechne ich seine entschiedene Ablehnung des Krieges, seine moralische Integrität und seinen Friedenswillen. Zu den negativen Eigenschaften des Soldaten zähle ich seine Phantsielosigkeit im Hinblick auf die konstruktiven Methoden der Konfliktlösung und seine Unfähigkeit zu erkennen, dass militärische Gewalt ihn immer tiefer in den Sumpf der Unmoral hineinführt. Die negativen Eigenschaften des Pazifisten wiederum sind seine Hilflosigkeit gegenüber Gewaltandrohung und -anwendung, seine Passivität und sein mangelnder Mut, gewaltfreien Widerstand zu leisten.

Gewaltfreie Aktivisten, wie sie Gandhi, King und anderen vorschwebten, sind folglich eine Art gewaltfreie Kämpfer, Krieger oder Soldaten. Damit ist auch die jahrhundertealte Frontstellung zwischen Bellizisten (Menschen, die den Krieg als letztes Mittel der politischen Kontliktaustragung befürworten) und Pazifisten (Menschen, die den Krieg bedingungslos ablehnen) erledigt. Der Weg vom Soldaten zum gewaltfreien Kämpfer ist nicht weiter als der Weg des Pazifisten zum gewaltfreien Krieger. Wenn es für die Welt noch eine Rettung gibt, dann auf dem von Gandhi gewiesenen Weg.

Friedensarbeit beginnt bei uns selbst. Wir können anderen Menschen nur den Frieden bringen, den wir selbst erworben haben. Andererseits wäre es aber falsch, sich aus der Welt zurückzuziehen, um mit sich selbst in Frieden zu leben. Ein Friedensmacher (Pazifist) sollte wie ein ins Wasser geworfener Stein sein, der kreisförmig sich ausbreitende Wellen erzeugt. Der Friede, der von ihm ausgeht, sollte sein unmittelbares soziales Umfeld, die regionale und die nationale Gemeinschaft und schließlich die ganze Welt erfassen. Buddha, Sokrates, Jesus und Gandhi waren, jeder auf seine Weise, solche Friedensstifter und Friedensmacher. Auch wenn wir uns mit ihnen nicht messen können, so ist doch jeder Schritt auf diesem Weg nicht vergebens. Bekanntlich beginnt ja auch der längste Weg mit einem ersten Schritt. Den können und sollen wir tun.


Der Friedensforscher Dr. Wolfgang Sternstein ist Mitglied des Versöhnungsbundes. Dieser Beitrag ist der Text eines Vortrags bei einer ökumenischen Arbeitsgruppe in Schmiden bei Stuttgart am 23. Oktober.


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Quelle:
Forum Pazifismus - Zeitschrift für Theorie und Praxis
der Gewaltfreiheit Nr. 16, IV/2007, S. 7-10
Herausgeber: Internationaler Versöhnungsbund - deutscher Zweig,
DFG-VK (Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen) mit der Bertha-von-Suttner-Stiftung der
DFG-VK, Bund für Soziale Verteidigung (BSV) und Werkstatt für
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. März 2008