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STANDPUNKT/063: "Globale Verteidigung" (Forum Pazifismus)


Forum Pazifismus, Nr. 12/IV/2006
Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit

"Globale Verteidigung"
Von der Entgrenzung des militärischen Auftrags und der Freiheit des Gewissens

Von Jürgen Rose


Die größte Feigheit besteht darin, einem Befehl zu gehorchen, der eine moralisch nicht zu rechtfertigende Handlung fordert.
(Ramsey Clark, ehemaliger US-Justizminister)


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Man mag es kaum glauben, aber schlussendlich ist es nach Jahre dauernden, zähen Geburtswehen der Bundesregierung am 25. Oktober dieses Jahres doch noch gelungen, das seit langem überfällige neue "Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr" zu verabschieden. Endgültig festgeschrieben wird darin die "Transformation" der Bundeswehr von einer klassischen Abschreckungs- und Verteidigungstruppe zur postmodernen Interventions- und Angriffsarmee mit globalem Auftrag ganz so, wie dies bereits im 1994 unter der Ägide des damaligen Bundesverteidigungsministers Volker Rühe herausgegebenen Vorgängerdokument angelegt war. Der Schlüsselbegriff zum Verständnis dieser Entwicklung lautet: Entgrenzung - und zwar in vielfacher Hinsicht. Zunächst manifestiert sich diese in einem geographisch wie inhaltlich "globalisierten" Sicherheitsbegriff, zu dem im Weißbuch 2006 ausgeführt wird: "Deutschlands Sicherheit ist untrennbar mit der politischen Entwicklung Europas und der Welt verbunden. Dem vereinigten Deutschland fällt eine wichtige Rolle für die künftige Gestaltung Europas und darüber hinaus zu."

Nahezu beliebig, quasi allumfassend dehnen die Weißbuch-Verfasser das Verständnis von Sicherheit aus: "Nicht in erster Linie militärische, sondern gesellschaftliche, ökonomische, ökologische und kulturelle Bedingungen, die nur in multinationalem Zusammenwirken beeinflusst werden können, bestimmen die künftige sicherheitspolitische Entwicklung. Sicherheit kann daher weder rein national noch allein durch Streitkräfte gewährleistet werden. Erforderlich ist vielmehr ein umfassender Ansatz, der nur in vernetzten sicherheitspolitischen Strukturen sowie im Bewusstsein eines umfassenden gesamtstaatlichen und globalen Sicherheitsverständnisses zu entwickeln ist."

Mit diesem rhetorischen Kunstgriff einer tautologischen Ausweitung des Sicherheitsbegriffs wird versucht, dem angesichts der real existierenden weltpolitischen Problemlagen ernüchternd ineffektiven militärischen Instrumentarium eine Legitimität zu bewahren, die eigentlich längst obsolet geworden ist.

Zugleich werden die bislang vom Grundgesetz vorgegebenen strikten verfassungsrechtlichen Schranken, denen die Sicherheitspolitik Deutschlands unterworfen ist, im Weißbuch zu lediglich noch zu beachtenden "Orientierungspunkten" relativiert. Besonders problematisch muss dies im Hinblick auf die unabdingbar geltenden Verfassungsnormen der unmittelbaren Völkerrechtsbindung sowie des Friedensgebotes erscheinen. Ebenso entgrenzt werden die "Interessen deutscher Sicherheitspolitik". In diesem Kontext ist unter anderem die Rede von "globalen Herausforderungen, vor allem der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus und die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen", der zu begegnen ist, der "Stärkung der internationalen Ordnung" sowie last not least vom "freien und ungehinderten Welthandel als Grundlage unseres Wohlstands", den es zu fördern gilt.

Dementsprechend global gestaltet sich auch der neue Auftrag für die deutschen Streitkräfte. So sichert die Bundeswehr primär die "außenpolitische Handlungsfähigkeit", was immer darunter zu verstehen sein mag, und leistet einen "Beitrag zur Stabilität im europäischen und globalen Rahmen". Der klassische Auftrag zur Landes- und Bündnisverteidigung entfällt zwar nicht völlig, genießt indes unmissverständlich lediglich sekundäre Bedeutung.

Völlig konsequent findet sich an oberster Stelle des im aktuellen Weißbuch definierten Aufgabenkatalogs für die deutschen Streitkräfte die "[i]nternationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung einschließlich des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus", und erst dahinter rangiert der "Schutz Deutschlands und seiner Bevölkerung".

Diese nahezu ausschließliche Fixierung auf Interventionseinsätze zur "Konfliktbewältigung und Krisenreaktion" spiegelt sich auch in der Struktur der Bundeswehr wider. So sind für den "Einsatz von Waffengewalt im Rahmen streitkräftegemeinsamer vernetzter Operationen hoher Kampfintensität" - so lautet der Orwell'sche Neusprech für den Terminus "Krieg" im postmodernen Militärjargon tatsächlich - insgesamt 35.000 SoldatInnen vorgesehen, davon 15.000 für die "NATO Response Force", 18.000 für den gemäß dem "European Headline Goal" zugesicherten deutschen Beitrag zur europäischen Eingreiftruppe, 1.000 für die Vereinten Nationen entsprechend dem "UN Standby Arrangement System" sowie 1.000 für nationale Rettungs- und Evakuierungseinsätze (dahinter verbirgt sich vornehmlich das Kommando Spezialkräfte - KSK).

Weltweit befindet sich die Bundeswehr derzeit in elf unterschiedlichen Missionen mit circa 9.000 SoldatInnen im Einsatz, im Schwerpunkt auf dem Balkan und in Afghanistan mit jeweils einer Kopfstärke von knapp 3.000. Insgesamt haben seit 1992 mittlerweile etwa 200.000 Bundeswehrangehörige an Auslandseinsätzen teilgenommen. Hierfür hat der deutsche Steuerzahler bis dato mehr als 9 Milliarden Euro berappt. Einen nicht geringen Preis hat aber auch die Truppe selbst bezahlt, dergestalt dass bis heute 64 Soldaten bei diesen Einsätzen ums Leben kamen sowie Tausende verletzt und verwundet wurden. Hunderte SoldatInnen leiden zudem nachgewiesenermaßen an posttraumatischen Belastungsstörungen, wobei von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden muss.


Leipzig schafft Klarheit

Angesichts der vorstehend skizzierten hochproblematischen Entwicklung der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie der beschriebenen "Transformation" der Bundeswehr scheint es dringend angebracht, einen Blick auf die völker- und verfassungsrechtlichen Grundlagen zu richten, auf denen das militärische Instrumentarium der Bundesrepublik Deutschland ruht und die im Hinblick auf den Gebrauch desselben zu berücksichtigen sind.

Dies legt zudem nicht zuletzt der Aufsehen erregende Rechts- und Gewissenskonflikt nahe, in den ein Bundeswehrmajor geraten war, nachdem die rot-grüne Bundesregierung unter Führung Gerhard Schröders die Bundeswehr angewiesen hatte, vielfältige und umfangreiche Unterstützungsleistungen für den im Jahr 2003 geführten angloamerikanischen Aggressionskrieg [gegen] den Irak zu erbringen.

Soweit bekannt brachte damals der Bundeswehrmajor Florian Pfaff als einziger Soldat in den deutschen Streitkräften den Mut auf, sich Befehlen zu widersetzen, durch deren Ausführung er sich wissentlich an jenem "völkerrechtlichen Verbrechen" (Reinhard Merkel) beteiligt hätte. Daraufhin wurde gegen Pfaff im April 2003 ein gerichtliches Disziplinarverfahren eingeleitet, in dem er durch die 1. Kammer des Truppendienstgerichts Nord zum Hauptmann degradiert wurde. Gegen diese erstinstanzliche Entscheidung legten sowohl Anklage als auch Verteidigung Berufung beim Bundesverwaltungsgericht in Leipzig ein. Letztere, um einen Freispruch zu erreichen, der Wehrdisziplinaranwalt, weil er aufgrund "völliger Uneinsichtigkeit" Pfaffs dessen Rausschmiss aus der Truppe erreichen wollte.

Dieses Ansinnen scheiterte indes kläglich, denn am 21. Juni 2005 hob der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts das Urteil der 1. Kammer des Truppendienstgerichts Nord auf, wies die Berufung des Wehrdisziplinaranwalts als unbegründet zurück und sprach den Major Florian Pfaff mit einer durchaus spektakulär zu nennenden Urteilsbegründung von einem der schwerwiegendsten Vorwürfe frei, die gegen einen Soldaten erhoben werden können: dem der Gehorsamsverweigerung nämlich.

Obwohl dieser Urteilsspruch für die Sicherheits- und Verteidigungspolitik Deutschlands epochale Bedeutung besitzt, fand unter dessen Analysten bislang kaum Beachtung, dass das Bundesverwaltungsgericht darin eindeutig, umfassend und zugleich erschöpfend klarstellt, wie der Verteidigungsbegriff des Grundgesetzes nach Art. 87a zu verstehen ist. Hierdurch füllt es eine Interpretationslücke, die das Bundesverfassungsgericht in seinem epochalen Urteil vom 12. Juli 1994 betreffend den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit ausdrücklich offen gelassen hatte.

Damals hatten die Verfassungsrichter festgestellt: "Art. 87a GG steht der Anwendung des Art. 24 Abs. 2 GG als verfassungsrechtliche Grundlage für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit nicht entgegen. Nach Art. 87a Abs. 1 Satz 1 GG stellt der Bund 'Streitkräfte zur Verteidigung' auf, nach Art. 87a Abs. 2 GG dürfen diese Streitkräfte 'außer zur Verteidigung' nur eingesetzt werden, soweit das Grundgesetz es ausdrücklich zulässt. Die mannigfachen Meinungsverschiedenheiten darüber, wie in diesem Zusammenhang die Begriffe der 'Verteidigung' und des 'Einsatzes' auszulegen sind, und ob Art. 87a Abs. 2 GG als eine Vorschrift zu verstehen ist, die nur den Einsatz der Streitkräfte 'nach innen' regeln will, bedürfen in den vorliegenden Verfahren keiner Entscheidung. Denn wie immer dies zu beantworten sein mag, jedenfalls wird durch Art. 87a GG der Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit, dem die Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 24 Abs. 2 GG beigetreten ist, nicht ausgeschlossen."

Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig folgt dieser verfassungsrechtlichen Grundsatzentscheidung, indem es konstatiert: "Die primäre Aufgabe der Bundeswehr ergibt sich dabei aus Art. 87a Abs. 1 GG, wonach der Bund Streitkräfte 'zur Verteidigung' aufstellt." Nach Auffassung der Richter ist damit zum einen der "Verteidigungsfall" nach Art. 115a GG gemeint, i. e. eine Situation, in der das "Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht".

Der entscheidende Passus hinsichtlich der Reichweite des Verteidigungsbegriffs im Grundgesetz folgt unmittelbar: "Da der Normtext des Art. 87aAbs. 1 und 2 GG von 'Verteidigung', jedoch - anders als die zunächst vorgeschlagene Fassung - nicht von 'Landesverteidigung' spricht und da zudem der verfassungsändernde Gesetzgeber bei Verabschiedung der Regelung im Jahre 1968 auch einen Einsatz im Rahmen eines NATO-Bündnisfalles als verfassungsrechtlich zulässig ansah, ist davon auszugehen, dass 'Verteidigung' alles das umfassen soll, was nach dem geltenden Völkerrecht zum Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen (UN-Charta), der die Bundesrepublik Deutschland wirksam beigetreten ist, zu rechnen ist."

Höchstrichterlich widerlegt ist hiermit die in der sicherheitspolitischen Diskussion häufig vorgetragene Auffassung, das Grundgesetz begrenze den Einsatz der Bundeswehr auf die Verteidigung des Territoriums der Bundesrepublik Deutschland sowie des NATO-Vertragsgebiets. Stattdessen definieren die Bundesverwaltungsrichter einen weiten Verteidigungsbegriff, der alles umfasst, was die UN-Charta erlaubt, zugleich beschränken sie jenen aber eben auch strikt auf deren Bestimmungen. Denn, so die Richter, "Art. 51 UN-Charta gewährleistet und begrenzt in diesem Artikel für jeden Staat das - auch völkergewohnheitsrechtlich allgemein anerkannte - Recht zur individuellen und zur 'kollektiven Selbstverteidigung' gegen einen 'bewaffneten Angriff', wobei das Recht zur 'kollektiven Selbstverteidigung' den Einsatz von militärischer Gewalt - über den Verteidigungsbegriff des Art. 115a GG hinausgehend - auch im Wege einer erbetenen Nothilfe zugunsten eines von einem Dritten angegriffenen Staates zulässt (z.B. 'Bündnisfall'). Der Einsatz der Bundeswehr 'zur Verteidigung' ist mithin stets nur als Abwehr gegen einen 'militärischen Angriff' ('armed attack' nach Art. 51 UN-Charta) erlaubt, jedoch nicht zur Verfolgung, Durchsetzung und Sicherung ökonomischer oder politischer Interessen."

Die rechtlichen Hürden für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte legt das Gericht demnach sehr hoch, indem es nämlich die Zulässigkeit militärischer Gewaltanwendung strikt auf die in der UN-Charta vorgesehenen Fälle (Kap. VII und Art. 51) begrenzt: "Ein Staat, der sich - aus welchen Gründen auch immer - ohne einen solchen Rechtfertigungsgrund über das völkerrechtliche Gewaltverbot der UN-Charta hinwegsetzt und zur militärischen Gewalt greift, handelt völkerrechtswidrig. Er begeht eine militärische Aggression." Und, so das Gericht weiter im Hinblick auf die deutschen Unterstützungsleistungen für das angloamerikanische Völkerrechtsverbrechen am Golf. "Eine Beihilfe zu einem völkerrechtlichen Delikt ist selbst ein völkerrechtliches Delikt."

Gerade im Hinblick auf die in ständiger Einsatzbereitschaft gehaltenen, für weltweite Einsätze designierten Interventionsstreitkräfte der NATO (NATO Response Force - NRF) und Europäischen Union (EU Battle Group), könnte dies für die Zukunft interessante Implikationen aufwerfen. Gemäß den gültigen Einsatzdoktrinen soll zwar stets ein Mandat des UN-Sicherheitsrates eingeholt werden, bevor diese Verbände in Marsch gesetzt werden, wie dies vom Völkerrecht ausdrücklich verlangt wird. Sollte freilich ein derartiges Mandat ausbleiben, behalten sich NATO und EU vor, gegebenenfalls eigenmächtig zu handeln.

In einem solchen Fall jedoch entfaltet das Leipziger Urteil seine ganze Brisanz, denn jeder Bundeswehrsoldat, der als Angehöriger der genannten Verbände in einen völkerrechtlich zweifelhaften Militäreinsatz befohlen wird und dies mit seinem Gewissen nicht vereinbaren kann, darf den Gehorsam verweigern. Er muss lediglich seinen Gewissenskonflikt rational nachvollziehbar darlegen und begründen, während seine Vorgesetzten verpflichtet sind, ihm eine das Gewissen schonende Handlungsalternative anzubieten. Konsequenz: die Einsatzbereitschaft der Interventionskorps von NATO und EU wird künftig von den allfälligen Gewissenskonflikten der beteiligten deutschen Soldaten abhängen.


Das Strafrecht ist unzureichend

Besaßen diese Überlegungen zur Gehorsamspflicht des Soldaten im Hinblick auf den ursprünglichen Auftrag der Bundeswehr zur Landes- und Bündnisverteidigung noch vornehmlich abstrakten Charakter, so gewannen sie nach dem Ende des Kalten Krieges mit der Neudefinition und Erweiterung des Verteidigungsauftrages bis in so entfernte Weltregionen wie den Hindukush ungeahnte Brisanz. Plötzlich weigerten sich nämlich einzelne Bundeswehrsoldaten, Befehlen, die sie für unvereinbar mit Grundgesetz- und Völkerrechtsnormen hielten, zu gehorchen. Dies geschah erstmals 1999 während des Luftkrieges gegen Jugoslawien, als Luftwaffenpiloten es ablehnten, an den Angriffshandlungen teilzunehmen, und dann erneut in der zuvor beschriebenen Causa des Majors Pfaff. Die Gründe für die Gehorsamsverweigerung schienen klar und eindeutig:

- Völkerrechtlich betrachtet wurden beide Kriege ohne Mandat des einzig hierfür autorisierten Sicherheitsrates der Vereinten Nationen geführt. Sie waren auch nicht durch das Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung nach Art. 51 der UNO-Charta gedeckt. In beiden Fällen wurde somit gegen das in der UNO-Charta verankerte Gewaltverbot in den internationalen Beziehungen verstoßen. Und beide kriegerischen Interventionen fielen unter die Aggressionsdefinition der UN-Generalversammlung aus dem Jahre 1974.

- Unter verfassungsrechtlichen Aspekten war zu berücksichtigen, dass gemäß Art. 25 GG die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes Bestandteil des Bundesrechtes sind. Daran sind alle Bewohner der Bundesrepublik Deutschland, also auch Bundesregierung und Angehörige der Streitkräfte, unmittelbar gebunden. Darüber hinaus verstoßen alle Maßnahmen, die geeignet sind und mit der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere aber einen Angriffskrieg vorzubereiten, gegen den Art. 26 des Grundgesetzes. Ein derartiges Verbrechen kann nach Paragraph 80 des Strafgesetzbuches mit bis zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe geahndet werden. Gleichfalls Freiheitsstrafe sieht der Paragraph 80a des Strafgesetzbuches bereits für das Aufstacheln zum Angriffskrieg vor.

Der auf den ersten Blick so eindeutige Sachverhalt entpuppt sich aus Sicht der Juristen jedoch als reichlich kompliziert. Der für die Strafverfolgung nämlich zuständige Generalbundesanwalt lehnte die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen die Bundesregierung jeweils mangels eines hinreichend begründeten Anfangsverdachtes ab. Ohne die mitunter rabulistische juristische Argumentationsführung an dieser Stelle detailliert darstellen zu können, läuft die Begründung im Kern darauf hinaus, dass zwar durchaus ein Verfassungsbruch nach Art. 26 GG vorliegen könne, dieser gleichwohl aber nicht vom einschlägigen Tatbestand des Strafgesetzbuches erfasst sei.

Das heißt letztlich, dass der Grundgesetzauftrag des Art. 26 bislang völlig unzureichend umgesetzt wurde. Denn aus dem Wortlaut und der Entstehungsgeschichte des Paragraphen 80 StGB ergibt sich, dass ausschließlich die Vorbereitung, nicht aber das Führen eines Angriffskrieges sowie die Beihilfe dazu unter Strafe stehen. Bemerkenswert ist insbesondere der Hinweis des Generalbundesanwaltes auf den Sonderausschuss zur Strafrechtsform, der 1968 die Strafvorschriften der Paragraphen 80 und 80a StGB erarbeitete.

Vor dem politischen Hintergrund damals musste sichergestellt sein, dass "eine Anklage gegen den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika wegen des Vietnamkrieges vor einem deutschen Gericht wegen 'Friedensverrates' ausgeschlossen sein müsse".

In Anbetracht dieser - gelinde ausgedrückt - unbefriedigenden Rechtslage gingen die Gehorsamsverweigerer natürlich ein hohes persönliches Risiko ein. Denn sie bewegten sich mit ihrem Handeln im Spannungsfeld von Gehorsamsverpflichtung, Rechtstreue und Gewissensfreiheit. So ist der Bundeswehrsoldat einerseits nach Paragraph 11 des Soldatengesetzes zum Gehorsam verpflichtet. Ungehorsam, Gehorsamsverweigerung oder leichtfertiges Nichtbefolgen von rechtmäßig und verbindlich erteilten Befehlen zieht die Bestrafung nach dem Wehrstrafgesetz nach sich. Andererseits aber gilt - trotz des sich angesichts der von der höheren Führung ausgegebenen Parolen aufdrängenden Verdachts, bei dem Terminus "Soldat" handle es sich um eine Abkürzung, die ausbuchstabiert bedeutet: "Soll ohne langes Denken alles tun" - noch immer, dass ein Befehl nicht befolgt werden darf, wenn dadurch eine Straftat begangen würde, wie es das Soldatengesetz in dem genannten Paragraph 11 normiert. Darüber hinaus gilt gemäß Paragraph 10 Soldatengesetz, der die Pflichten des Vorgesetzten regelt, dass dieser "Befehle nur zu dienstlichen Zwecken und nur unter Beachtung der Regeln des Völkerrechts, der Gesetze und der Dienstvorschriften erteilen [darf]."

Diese für die deutschen Streitkräfte geltenden nationalen Rechtsnormen erfuhren ihre Bestätigung auch auf internationaler Ebene, nämlich 1994 im Verlaufe des KSZE-Gipfeltreffens in Budapest. Dort wurde der sogenannte "Verhaltenskodex zu politisch-militärischen Aspekten der Sicherheit" unterzeichnet. In den beiden einschlägigen Paragraphen 30 und 31 wird die Rechtsbindung bei Befehlsausübung und -erfüllung sowie die unaufhebbare persönliche Verantwortlichkeit jedes Soldaten definiert. Für den Bundeswehrsoldaten folgt demnach sowohl aus der nationalen als auch aus der internationalen Rechtslage, dass seine Gehorsamspflicht durch das Wehrrecht, Verfassungsrecht und Völkerrecht begrenzt wird.

Unter genau diesem Aspekt war von Beobachtern des Pfaff-Prozesses mit großer Spannung die völkerrechtliche Beurteilung des Irak-Kriegs seitens des Bundesverwaltungsgerichts erwartet worden.

Wer diesbezüglich gehofft hatte, die Richter würden den Irak-Krieg eindeutig als völkerrechts- und verfassungswidrig brandmarken und dem Soldaten Pfaff bescheinigen, er wäre zur Gehorsamsverweigerung gemäß Soldatengesetz (Paragraph 11) und Wehrstrafgesetz (Paragraph 5) verpflichtet gewesen, mag enttäuscht sein. Dazu besteht indes kein Anlass. Denn mit einer solchen Entscheidung hätte das Gericht lediglich die bestehende Rechtslage bestätigt und den Handlungsspielraum von Soldaten zur Gehorsamsverweigerung einzig auf die Fälle eingeschränkt, wo die Völkerrechtswidrigkeit eines Krieges für jedermann eindeutig erkennbar und unumstritten wäre.

Mit der nun getroffenen Entscheidung aber erweitern die Richter den Ermessensspielraum diesbezüglich erheblich, nämlich bereits auf all die Fälle, wo auch nur Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer militärischen Intervention bestehen. Wenn in einem solchen Fall ein Soldat in einen Gewissenskonflikt gerät und diesen ernsthaft und glaubwürdig darlegen kann, braucht er Befehlen nicht zu gehorchen, durch deren Ausführung er in jene Aktionen innerhalb rechtlicher Grauzonen verwickelt würde. Mit dieser Rechtsprechung nimmt das Bundesverwaltungsgericht im Hinblick auf die Legalität bewaffneter Einsätze der Bundeswehr de facto eine Beweislastumkehr vor: Nicht der Soldat muss - gegebenenfalls in einem Gerichtsverfahren - beweisen, dass seine Gehorsamsverweigerung rechtlich geboten war, sondern zuallererst muss die Bundesregierung den von ihr in den Kampf entsandten "Staatsbürgern in Uniform" darlegen, dass der diesen erteilte Auftrag den Normen des Völkerrechts und der Verfassung entspricht.

Entscheidende Bedeutung besitzt für den gesetzestreuen und gewissenhaften Soldaten in diesem Kontext die kategorische Feststellung des Bundesverwaltungsgerichts: "Das Grundgesetz normiert ... eine Bindung der Streitkräfte an die Grundrechte, nicht jedoch eine Bindung der Grundrechte an die Entscheidungen und Bedarfslagen der Streitkräfte." Dies gilt nicht nur im Frieden, sondern "[s]elbst im Verteidigungsfall ist die Bindung der Streitkräfte an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) sowie an 'Gesetz und Recht' (Art. 20 Abs. 3 GG) gerade nicht aufgehoben." Folgerichtig besitzt in Konfliktsituationen die nach Art. 4,1 Grundgesetz garantierte Gewissensfreiheit absoluten Vorrang - auch vor der Funktionstüchtigkeit und Einsatzbereitschaft der Bundeswehr -, was dem betroffenen Soldaten die Möglichkeit eröffnet, im gegebenen Fall den Gehorsam zu verweigern.

Hinsichtlich der prozeduralen Kriterien, nach denen im Sinne der "Inneren Führung" generell in Fällen zu verfahren ist, in welchen Soldaten in Gewissenskonflikte geraten sind und sich deshalb weigern, bestimmte Befehle auszuführen, definieren die Richter einen Rechtsanspruch des Bundeswehrsoldaten und der -soldatin auf Herstellung "praktischer Konkordanz" zwischen der Beachtung des unveräußerlichen Grundrechts auf Gewissensfreiheit einerseits und den Erfordernissen des militärischen Dienstbetriebes andererseits. Konkret bedeutete dies, dass die zuständigen Vorgesetzten den Betroffenen eine gewissenschonende Handlungsalternat Dabei muss, so die Richter, "[i]m Anwendungsbereich des Grundrechts der Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) ... angestrebt werden, den aufgetretenen Gewissenskonflikt unter Wahrung konkret feststellbarer berechtigter Belange der Bundeswehr in einer Art und Weise zu mildern und zu lösen, die die normierte 'Unverletzlichkeit' der Freiheit des Gewissens nicht in Frage stellt, sondern gewährleistet."

Ohne die Konzeption der "Inneren Führung" konkret zu erwähnen, aber ganz in deren Geiste, fordert das Gericht "ein konstruktives Mit- und Zusammenwirken beider Seiten" und legt in diesem Zusammenhang die Pflichten der Akteure dar. Bereits im Vorfeld soldatischer Gewissensentscheidungen rsp. -konflikte verorten die Richter die besondere Bedeutung der politischen Bildung, in deren Rahmen nämlich die Soldaten über ihre staatsbürgerlichen und völkerrechtlichen Pflichten und Rechte im Frieden und im Kriege zu unterrichten sind. Denn, so die Richter: "Notwendig ist in einem solchen Konfliktfall eine möglichst vollständige Information des Soldaten über die konflikt-relevanten Tatsachen, vor allem die vom Soldaten befürchteten tatsächlichen Auswirkungen der befohlenen Dienstleistung sowie die Konsequenzen einer Nichtausführung des Befehls für die Streitkräfte oder sonstige Schutzgüter. Dazu gehört ferner insbesondere auch eine möglichst objektive Unterrichtung aller Beteiligten über die maßgebliche Rechtslage. Diese Unterrichtung muss sich - grundrechtskonform - daran orientieren, wie ein gegebenenfalls mit der Frage befasstes rechtsstaatliches Gericht die Sache voraussichtlich beurteilen würde."

Darüber hinaus kann im konkreten Konfliktfall "[v]om jeweiligen Soldaten ... erwartet werden, dass er seine Gewissensnöte seinen zuständigen Vorgesetzten möglichst umgehend und nicht 'zur Unzeit' darlegt sowie auf baldmöglichste faire Klärung der zugrunde liegenden Probleme dringt." Andererseits sind die jeweiligen "militärischen Vorgesetzten gehalten, sich der vom Soldaten geltend gemachten Gewissensentscheidung zu stellen. Sie dürfen diese - schon im Hinblick auf ihre Fürsorgepflicht (Paragraph 10 Abs. 3 SG) - weder negieren noch lächerlich machen oder gar unterdrücken." Zur Herstellung der geforderten "praktischen Konkordanz" zwischen den grundrechtlichen Garantieansprüchen des Soldaten und den militärischen Erfordernissen sind die Vorgesetzten des Soldaten gehalten zu prüfen, ob nach der jeweiligen Sachlage im konkreten Einzelfall von einer Durchsetzung des Befehls einstweilen Abstand genommen und dem Soldaten eine gewissenschonende Handlungsalternative angeboten werden kann (zum Beispiel anderweitige Verwendung, Wegkommandierung, Versetzung o. ä.).


Pflicht zur Gehorsamsverweigerung

Linientreue juristische Hofschreiber aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung haben nach Verkündung des Bundesverwaltungsgerichtsurteils prompt den Zusammenbruch der militärischen Ordnung an die Wand gemalt und die Funktionstüchtigkeit der Bundeswehr gefährdet gesehen. Gleichwohl kann durch den Leipziger Urteilsspruch die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr für den Fall völkerrechts- und grundgesetzkonformer Einsatzaufträge nie und nimmer beeinträchtigt werden.

Ganz anders stellt sich freilich die Lage dar, wenn politische und militärische Entscheidungsträger die Bundeswehr in völkerrechtlich umstrittene und verfassungsrechtlich prekäre Einsätze befehlen. Allein, in einem solchen Fall soll und darf die Bundeswehr gar nicht funktionieren. Hierin besteht doch gerade die Raison d'etre der vor dem Hintergrund der ultimativen deutschen Katastrophe des Zweiten Weltkrieges und dem desaströsen Versagen der Wehrmachtsführung neugegründeten Bundeswehr: dass durch die kategorische Rechtsbindung der Streitkräfte ein erneuter Missbrauch deutschen Militärs zu illegalen, d. h. völkerrechts- und verfassungswidrigen Zwecken unter allen Umständen ausgeschlossen werden soll.

Deshalb fordert doch die Konzeption der Inneren Führung mit ihrem Leitbild vom Staatsbürger in Uniform genau den Soldatentypus, der zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden versteht und sich im Zweifelsfalle rechtswidrigen Befehlen widersetzt. Gerade deswegen kann sich auch kein Soldat mit dem Verweis auf empfangene Befehle aus der persönlichen Verantwortung für sein Handeln stehlen.

Ein ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr, General Hans Peter von Kirchbach, hatte hierzu 1992 angemerkt: "Die Spannung zwischen Freiheit und Gehorsam besteht in der Bindung an Befehle einerseits, in der Bindung an ein Wertesystem andererseits. Die Spannung besteht in der Bindung und Treuepflicht an den Staat einerseits und dem Wissen, dass staatliches Handeln immer nur das Vorletzte sein kann und dass das an ein höheres Wertesystem gebundene Gewissen eine entscheidende Berufungsinstanz sein muss. Sicher wird der Staat seinen Bürgern normalerweise nicht zumuten, gegen den Rat ihres Gewissens zu handeln. Im Wissen um diese Spannung aber und im Wissen, nicht jedem Anspruch zur Verfügung zu stehen, besteht letztlich der Unterschied zwischen Soldat und Landsknecht."

Zwei Jahre später sprach General Klaus Naumann in seinem Generalinspekteursbrief sogar von der "Pflicht zur Gehorsamsverweigerung", als er zu Protokoll gab: "In unserem Verständnis von Rechtsstaatlichkeit und Ethik stehen dem Gehorsamsanspruch des Dienstherrn das Recht und die Pflicht zur Gehorsamsverweigerung gegenüber, wo eben diese Rechtsstaatlichkeit und Sittlichkeit mit dem militärischen Auftrag nicht mehr in Einklang stehen, der Soldat damit außerhalb der freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung gestellt würde."

Für den in der Bundeswehr so vielbeschworenen Primat der Politik folgt hieraus: Dieser gilt ausschließlich innerhalb der Schranken von (Völker-) Recht und (Grund-)Gesetz - jenseits davon herrscht die Pflicht zur Verweigerung, zumindest aber, nach dem Urteilsspruch von Leipzig, der Primat des Gewissens.


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Dipl-Pädagoge Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen. Der Text ist das Manuskript eines Vortrages bei der Mitgliederversammlung der Zentralstelle KDV am 11. November in Berlin.


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Quelle:
Forum Pazifismus - Zeitschrift für Theorie und Praxis
der Gewaltfreiheit Nr. 11, III/2006, S. 30
Herausgeber: Internationaler Versöhnungsbund - deutscher Zweig,
DFG-VK (Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen) mit der Bertha-von-Suttner-Stiftung der
DFG-VK, Bund für Soziale Verteidigung (BSV) und Werkstatt für
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Februar 2007