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FRAGEN/014: Jürgen Rose - "Die Russen stehen doch nicht mit dem Dolch quer zwischen den Zähnen an der Grenze" (ZivilCourage)


ZivilCourage - Nr. 1 / 2020
Magazin der DFG-VK

Interview
"Die Russen stehen doch nicht mit dem Dolch quer zwischen den Zähnen an der Grenze"

Mit Jürgen Rose von der kritischen SoldatInnengruppe Darmstädter Signal sprach für die ZivilCourage Ernst Rattinger


Im September 1983, also genau zu der Zeit, als die Friedensbewegung ihre Aktionen gegen die sogenannte Nachrüstung der Nato durchführte, beschlossen 20 Offiziere und Unteroffiziere der Bundeswehr bei ihrem ersten Treffen in Darmstadt einen friedenspolitischen Aufruf, das Darmstädter Signal.
Sie wandten sich nicht nur gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen in West- und Osteuropa, sondern forderten eine kleinere, nicht angriffsfähige Bundeswehr und den Abbau aller Massenvernichtungsmittel auf deutschem Boden und weltweit. Für die Soldaten der Bundeswehr sollte das "Leitbild vom Staatsbürger in Uniform" endlich verwirklicht werden.
Bis heute ist das Darmstädter Signal das einzige kritische Sprachrohr aktiver und ehemaliger Bundeswehrangehöriger sowie der Zivilbeschäftigten. Pazifisten sind die Mitglieder dieser Vereinigung zwar nicht, aber viele ihrer Positionen werden in Friedensorganisationen Zustimmung finden: absoluter Vorrang nichtmilitärischer Konfliktbewältigung, Stärkung der UN und der OSZE, strikte Einhaltung des Völkerrechts, weltweiter Abbau der Massenvernichtungsmittel, Abzug der Atomwaffen aus Büchel, Stopp aller Rüstungsexporte.

Jürgen Rose, Jahrgang 1958, war bis zu seiner Pensionierung 2018 Offizier der Bundeswehr, zuletzt im Rang eines Oberstleutnants.


ZivilCourage: Herr Rose, was läuft gut in der Bundeswehr?

Jürgen Rose: Schwierige Frage. Nicht ganz schlecht ist die Tatsache, dass die Beteiligung an völkerrechtswidrigen Kriegen nachgelassen hat. Ich beobachte, dass die Bemühungen von unserer Seite, also der Soldaten des Darmstädter Signals, eine gewisse Auswirkung hatten.

Nachdem ich mich im Jahr 2007 geweigert hatte, den Einsatz von Tornado-Kampfflugzeugen in Afghanistan logistisch zu unterstützen, da erschien etwas später ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung mit dem Titel "Die Angst vor der Massenverweigerung". Der Autor - Hans Rühle, ehemals Chef des Planungsstabs - malt da ein Horrorgemälde von lauter verweigernden Bundeswehrsoldaten, was natürlich völlig überzeichnet war; aber er kommt zu der Einsicht, dass Soldaten ein Gewissen haben dürfen, dass das auch höchstrichterlich verbrieft ist, und dass deswegen sichergestellt werden muss, dass Bundeswehreinsätze auf dem Boden von Recht und Gesetz, das heißt also Grundgesetz und Völkerrecht, stehen.

Meine Beobachtung ist, dass seither die Bundesregierung geradezu akribisch bemüht ist, sich an die rechtlichen Voraussetzungen zu halten, also insbesondere, dass ein Mandat des UN-Sicherheitsrates vorliegt und dass die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts erfüllt sind; das heißt insbesondere, dass die Zustimmung des Bundestags eingeholt wird.

Das ist für mich eine positive Entwicklung bei aller verbleibenden Kritik an der Sinnhaftigkeit und Zweckmäßigkeit von Militäreinsätzen.


ZivilCourage: "Alles gut" also mit dem Militär?

Jürgen Rose: Was nach wie vor ein demokratiepolitischer Skandal allerersten Ranges ist, das ist die Tatsache, dass nach wie vor eine reine Exekutivtruppe in Gestalt des Kommandos Spezialkräfte, kurz KSK, in Calw existiert, die, völlig unzulänglich durch die Öffentlichkeit kontrolliert, bewaffnete Einsätze weltweit durchführt, die wir mit unseren Steuergeldern bezahlen. Und wir tragen letztlich auch das Risiko für diese Gewalt, die da exzessiv ausgeübt wird.

Erst neulich konnten wir das bei der Hinrichtung von Abu Bakr al-Baghdadi in Syrien beobachten, als amerikanische Henker in Gestalt der Delta Force tätig waren. Das sind Spezialtruppen, die die USA ständig rund um den Globus schicken und die im Auftrag der USA morden und entführen, Anlagen sprengen und sonstige Dinge tun, die allesamt illegal und völkerrechtswidrig sind. Und daran beteiligen sich die sogenannten Verbündeten mit dem britischen SAS, französischen Spezialkräften und eben auch dem KSK.


ZivilCourage: Das KSK ist also ein Teil der Bundeswehr, der ohne jede gesetzliche Kontrolle agiert?

Jürgen Rose: Das wäre überzogen. Es wird ja immer reklamiert und bekräftigt, dass es sich bei der Bundeswehr um eine Parlamentsarmee handelt.

Die Aussagen, die das Bundesverfassungsgericht 1994 getroffen hat, die findet man ja nicht so klar im Grundgesetz. Das heißt, das Verfassungsgericht ist damals seiner Aufgabe gerecht geworden und hat klargestellt, wie militärische Einsätze gestaltet sein müssen. Und das heißt insbesondere, dass das Parlament in öffentlicher Debatte ein Mandat der Bundesregierung diskutiert - und zwar bevor die Truppen losgeschickt werden. Da liegen die Parameter klar fest, also Umfang, Auftrag, Finanzausstattung usw. Das Parlament kann über Details nicht bestimmen und das Mandat nicht verändern, doch am Ende stimmt der Bundestag zu - oder nicht. Und genau das findet beim KSK so nicht statt!

Es gibt keine öffentliche Debatte, es gibt keine Mandatserteilung, weder vor einem Einsatz noch hinterher. Das KSK ist also kein Teil der Parlamentsarmee, es ist eine reine Exekutivtruppe, vielleicht eine Exekutionstruppe mitunter, die durch die Bundeswehrführung in Gestalt der Spitzengeneralität und die Verteidigungsministerin in den Einsatz geschickt wird, und hinterher werden je nach Gusto die sicherheitspolitischen Obleute der Fraktionen informiert - oder eben auch nicht.

Was allerdings passiert, das ist die Bereitstellung der verfügbaren Mittel durch den Bundestag und seine Ausschüsse. Rein theoretisch könnten diese Mittel auch reduziert werden; das passiert aber nicht, und so erfreut sich das KSK bester personeller und finanzieller Bedingungen. Es wird ja auch immer wieder als "Speerspitze der Bundeswehr" bezeichnet.


ZivilCourage: Wie bewerten Sie die Positionen der neuen Verteidigungsministerin - Stichwort 2-Prozent-Ziel der Nato oder Einrichtung eines Sicherheitsrates mit umfassenden Befugnissen?

Jürgen Rose: Hier wird das Grundproblem der deutschen Sicherheitspolitik deutlich, die ja völlig vernetzt und verhakt ist mit der Nato und sich in kompletter Abhängigkeit von ihr befindet.

Das wurde ganz deutlich, als vor Kurzem erst Präsident Macron völlig zu Recht vom "Hirntod der Nato" sprach. Denn wenn es auf diesem Planeten eine Institution gibt, die völlig überflüssig ist, dann ist es diese Nato. Und wenn dann die Bundeskanzlerin eilfertigst versichert "Nein, nein, die Nato ist ganz und gar unersetzlich", dann zeigt das eben, dass Deutschland nach den Vorgaben aus Washington im Gleichschritt marschiert, anstatt - wie Macron das fordert - eine eigenständige Alternative in Europa aufzubauen.

Es zeigt sich eben auch an diesem Beispiel, dass im ganzen Bereich der Sicherheitspolitik die Transatlantiker nach wie vor den Ton angeben. "Natomaniacs" nenne ich die immer. Und in der Nato gibt eben die Schurkensupermacht USA den Ton an, und diese USA betreiben eine durch und durch gewalttätige und militarisierte Außenpolitik. Das vollzieht sich unter verschiedenen Präsidenten in unterschiedlicher Intensität, war aber zuletzt unter Obama besonders schlimm - Stichwort Drohnenkrieg. Friedensnobelpreisträger Obama ist ein Massenmörder, was den Drohneneinsatz betrifft.

Der gegenwärtige Präsident ist in dieser Hinsicht sehr viel zurückhaltender, auch wenn einem die Art seiner Amtsführung nicht gefallen muss. Andererseits sind unter Trump die Special-Forces-Einsätze noch intensiviert worden. Man muss sich klar machen: Rund um die Uhr sind etwa 8.000 Angehörige der Special Forces weltweit unterwegs, um irgendwelche Aufträge auszuführen, im Jemen, in Somalia, wo auch immer. Ein Stück weit hat sich das Pentagon da völlig verselbständigt, ein US-Präsident, selbst wenn er wollte, kann da nicht so einfach von jetzt auf gleich die Bremse reinhauen in diese Art militarisierter Außenpolitik.


ZivilCourage: Kommen wir zum Darmstädter Signal. Wie ist es dazu gekommen, dass ausgerechnet im derzeitigen politischen Umfeld bereits im Herbst 2018 zu vernehmen war, dass das Darmstädter Signal kurz vor der Auflösung stehe? Brauchen wir nicht gerade jetzt eine kritische Stimme wie die des Darmstädter Signals?

Jürgen Rose: Über die Anfänge des Darmstädter Signals 1983 kann ich nichts sagen, da war ich noch nicht dabei.

Aber schon in den 1990er Jahren war es durchaus so, dass wir in ganz kleinen Zirkeln unsere Tagungen abhalten mussten. Die Idee war die, dass wir unsere Wochenendtagungen über die ganze Republik verteilt an Garnisonsorten abhalten wollten, um die Soldaten vor Ort anzusprechen.

Das hat aber nie wirklich funktioniert, weil an jedem Freitag die Nato-Rallye aus den Kasernen losraste und wir am Ende alleine da waren, weil sich kaum jemand auch noch am Wochenende mit Sicherheitspolitik befassen wollte, dazu noch in einer als linksextremistisch verschrienen Organisation, also linke Spinner in der Bundeswehr. Das Interesse war nahe null, so dass wir schon immer ein Problem hatten, aktive SoldatInnen für unseren Kreis zu gewinnen. Das Problem hat sich in den letzten Jahren dann noch verschärft.


ZivilCourage: Weil die Wehrpflicht ausgesetzt worden ist?

Jürgen Rose: Nicht nur deswegen. Das Problem ist, dass die Bundeswehr früher viel größer war, rund 500.000 Mann in Zeiten des Kalten Krieges, das ist eher der entscheidende Punkt. Wir laufen da gewissermaßen parallel mit der Friedensbewegung in der Zivilgesellschaft.


ZivilCourage: Also wie zum Beispiel die DFG-VK...

Jürgen Rose: Ja, oder wie der Krefelder Appell, von dem redet heute keiner mehr. Immerhin, das Darmstädter Signal, dessen Gründung durch den Krefelder Appell inspiriert wurde, das existiert noch.

Aber der Punkt ist einfach der: Die Leute waren am Anfang der 80er Jahre, als man die Raketen in ihre Vorgärten stellte, einfach alarmiert und persönlich betroffen und viele sagten sich: Da müssen wir allmählich den Hintern hochkriegen. So wie heutzutage die Jugend bei Fridays for Future sagt: Klimakrise, das ist etwas, das uns berührt. Und dann werden die Leute aktiv.

Was das Friedensthema angeht, so ist die Wahrnehmung doch die: Der Kalte Krieg ist vorbei, der allgemeine Frieden ausgebrochen, eine Bedrohung wird nicht mehr registriert. Es gibt auch keine...


ZivilCourage: Russland? Ukraine? Krim?

Jürgen Rose: Aaach! Ja, die Nato zieht das hoch oder produziert das ja durch den Putsch in der Ukraine zum Teil auch noch selber, also sie schafft sich ihre eigenen Bedrohungen, um sie dann nachher ausnutzen zu können.

Und das merken ja auch die Leute, dass die Russen nicht mit dem Dolch quer zwischen den Zähnen an der deutschen Grenze stehen. Das glaubt ihnen doch keiner, auch wenn die Balten mit ihrer Sicherheitsparanoia die Furcht vor Russland schüren. Putin hat sicher viele Probleme, aber nicht vor, das Baltikum zu besetzen oder in Polen einzufallen, das ist absolut absurd. Und wir in Mitteleuropa sind von all den Krisen noch weiter entfernt. Der Krieg findet in Syrien statt oder noch weiter weg. Und das sehen die Leute und haben keinen Anlass, sich in friedenspolitischen Organisationen zu betätigen, ob das nun die DFG-VK ist oder die paar Leute, die hier in München Aktionen gegen die sogenannte Sicherheitskonferenz durchführen. Das ist immer ein kleines Grüppchen unentwegter Aktivisten, aber die ziehen, salopp gesagt, auch keinen toten Hering vom Teller.


ZivilCourage: Und Sie schaffen das?

Jürgen Rose: Nein, uns als Darmstädter Signal geht es ganz ähnlich. Das ist sozusagen die Friedensdividende negativer Art, die wir da einstreichen, aber das ist auch gut so, denn ich möchte ja nicht die Zustände wieder haben, die in Hochzeiten der nuklearen Abschreckung geherrscht haben.

Wir hatten damals in Mitteleuropa die am dichtesten militarisierte Zone der Welt, aber das ist ja nicht mehr der Fall. Durch den Mangel an unmittelbarer Betroffenheit geht uns der Nachwuchs aus. Und dann muss man sehen, dass durch die massive Verkleinerung der Bundeswehr das Reservoir, aus dem heraus jemand zu uns kommen könnte, auch viel kleiner ist.

Und dann ist diese Bundeswehr eine Freiwilligenarmee, was dazu führt, dass diejenigen, die zur Bundeswehr gehen, schon eine andere Grundüberzeugung mitbringen. Da sind solche, die aus voller Überzeugung zur Bundeswehr gehen, die haben keine Veranlassung, sich dem Darmstädter Signal anzuschließen. Und andere gehen hin, weil sie erwarten, dort eine tolle Berufsausbildung zu bekommen und dabei gutes Geld zu verdienen.

Ein weiterer Grund ist, dass sich Leute der jüngeren Generation kaum in bestehende Strukturen einbinden wollen. Die leben in ihren "asozialen" Netzwerken, sie leben in Matrixorganisationen, machen Projekte und dann ist es auch wieder vorbei. Das findet man überall: bei den Parteien, den Gewerkschaften, NGOs; alle klagen über Nachwuchsprobleme. Man "rottet" sich in Bewegungen zusammen, solange "Action" da ist; und irgendwann läuft sich das tot.


ZivilCourage: Welche Folgerungen hat das Darmstädter Signal nun gezogen?

Jürgen Rose: Unser letzter aktiver Soldat im Vorstand des Signals, Florian Kling, war Offizier auf Zeit, und es war klar, dass er mit seinem Ausscheiden aus dem Dienst sich ganz auf seinen Zivilberuf konzentrieren musste. So entstand die Frage: Wie machen wir dann weiter? Zunächst zeichnete sich keine Lösung ab und es entstand dann die Idee, den Arbeitskreis aufzulösen, weil wir ohne aktive Soldaten gewissermaßen ein Veteranenverein waren. Am Ende des Entscheidungsprozesses wurde dann doch mit großer Mehrheit beschlossen, dass der Arbeitskreis weiterhin Tagungen zu sicherheitspolitischen Themen durchführen wird. Den großen Förderkreis, also unseren eingetragenen Verein, leite künftig ich selbst mit Matthias Engelke als Geschäftsführer. Wir werden also weiterhin unsere Tagungen veranstalten und verstärkt versuchen, aktive SoldatInnen anzusprechen. Bei unserer vorletzten Tagung hat das auch wieder geklappt. Nach gegenwärtiger Planung wird im kommenden Jahr eine unserer Tagungen in der Gegend von Büchel sein, wenn dort wieder Aktionen der Friedensbewegung stattfinden. Also kurz: Das Darmstädter Signal ist wieder in ruhigem Fahrwasser.

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Quelle:
ZivilCourage - das DFG-VK Magazin, Nr. 1 / 2020, S.14-16
Herausgeberin: Deutsche Friedensgesellschaft -
Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen e.V. (DFG-VK)
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Redaktion: ZivilCourage - das DFG-VK-Magazin,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. März 2020

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