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GRUNDSÄTZLICHES/010: "Killerspiele" verbieten? (ZivilCourage)


ZivilCourage Nr. 2 - Mai 2009
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK

"Killerspiele" verbieten?
Eine differenziertere Betrachtung

Von Tina Kemler und Harald Gewehr


Nach dem Amoklauf eines 17-Jährigen im baden-württembergischen Winnenden mit 16 Toten nahm wieder jeder, der sich berufen fühlte, Stellung in der Debatte über das Verbot so genannter gewaltverherrlichender Computerspiele. Müssen PazifistInnen nicht sofort in die Forderung nach einem Verbot dieser brutalen Spiele einstimmen?

Auf den ersten Blick scheint dies plausibel. Hat der Amokläufer Tim K. nicht auch gewaltverherrlichende Computerspiele gespielt? Haben nicht Sachbeschädigung und Gewaltkriminalität von Jugendlichen zugenommen? Ja, alles richtig. Deshalb Verbote fordern? Nein, wir halten dies für überflüssig und falsch.

Es ist belegt, dass sich Computerspiele dafür eignen, reale Tätigkeiten zu trainieren. Mit so genannten Ego-Shootern können Reaktion und Konzentration und sogar das Kontrastempfinden trainiert werden. Eine Erhöhung der Kontrastempfindlichkeit ist beispielsweise nützlich beim Autofahren unter schwierigen Bedingungen, z.B. nachts oder im Nebel. Nicht grundlos arbeitet aber auch das Militär zum Training mit Computerspielen. Bei Soldaten ist eine schnelle Hand-Auge-Koordination hilfreich bei der Ausübung ihrer mörderischen Arbeit.

Als gesichert kann ebenfalls gelten, dass exzessives Computerspiel negative Folgen haben kann: Gerade schnelle und actionreiche Spiele können bei ausgiebigem Spiel zu Konzentrationsschwäche, Schlafstörungen, Angst, Übelkeit und Sucht führen.
(http.//de.wikipedia.org/wiki/Computerspiel)

Bei der Frage jedoch, ob es einen Zusammenhang zwischen Gewaltdarstellungen und Aggressivität gibt, scheiden sich die (wissenschaftlichen) Geister.

Während die einen davon ausgehen dass "längst (...) wissenschaftlich nachgewiesen (ist), dass Mediengewalt und vor allem Killerspiele verheerende Wirkungen insbesondere auf Kinder und Jugendliche haben", so der "Kölner Aufruf gegen Computergewalt", sind andere der Meinung, dass Studien mit diesem Ergebnis "von politischem Opportunismus bestimmt" seien.
(www.nrhz.de/flyer/media/13254/Aufruf_gegen_Computergewalt.pdf; www.heise.de/tp/r4/artikel/29/29958/1.html)

Wir sind keine Wissenschaftler, haben uns jedoch schon geraume Zeit - als betroffene Mutter oder im Rahmen einer Diplomarbeit, aus Interesse und aus Vorsicht gegenüber jeder Art von Zensur - mit dem Thema auseinandergesetzt und sind der Meinung, dass jedwede absolute Aussage zu diesem Thema nur falsch sein kann.

Dass in diesem komplexen System, das sich unser Hirn nennt, "irgendwas" passiert, wenn wir uns mit "irgendetwas" beschäftigen ist klar. Forscher, die in unseren Hirnen lesen können wie in Büchern, gibt es aber - zum Glück - noch nicht.

Kritisch finden wir einige Formulierungen im "Kölner Aufruf gegen Computergewalt". Dessen Intention ist sicher gut, die Richtigkeit mancher Aussagen zweifeln wir aber an. Schon im zweiten Satz wird über Jugendliche und junge Erwachsene behauptet: "Sie demütigen, foltern, verstümmeln, zerstückeln, erschießen und zersägen Menschen an ihren Bildschirmen." Das ist falsch. Ein Element von Spielen beinhaltet gerade, dass während des Spiels nicht das gewöhnliche Leben stattfindet. Wir sind uns sicher, dass auch Computerspieler wissen, dass keine Menschen während des Spiels zu Schaden kommen.

Das in den letzten Wochen wieder oft erwähnte Spiel "Counterstrike" ist ein Gruppenspiel. Letztlich hat es durchaus Ähnlichkeit mit Cowboy- und Indianerspielen, die viele von uns in der Kindheit gespielt haben und bei denen oft Freunde real gefesselt wurden. Ist nicht Spielen eine ungefährliche Art, sich mit der Welt auseinander zu setzen und sie zu ergründen?

Der Kölner Aufruf behauptet weiter: "Je brutaler die Spiele sind und je mehr Zeit die Kinder damit vergeuden, desto schlechter sind die Schulleistungen." Dies kann durchaus richtig sein. Allerdings suggeriert dieser Satz ein Ursache-Wirkungs-Prinzip, welches sich unseres Erachtens nicht nachweisen lässt. Schon zu allen Zeiten reagierten Menschen auf Überforderungen mit Flucht. Ein Wesen des Spielens ist das Flüchten in eine andere Welt für einen begrenzten Zeitraum.

Wenn es heißt, und wir zitieren hier wieder den so genannten Kölner Aufruf, dass "5-, 15- und 25-Jährige heute Stunden, Tage und Nächte vor Computern und Spielekonsolen" sitzen, fragen wir nach dem Wahrheitsgehalt dieser Aussage und nach deren Intention. Eine Fachstudie des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest ergab, dass 50 Prozent der untersuchten Kinder und Jugendlichen im Alter von 12 bis 19 Jahren ca. 1 bis 3 Stunden pro Tag am Computer sitzen, 20 Prozent weniger und 30 mehr. (JIM-Studie 2007 - Jugend, Information, (Multi-)Media. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger: www.mpfs.de/index.php?id=110)

Auf die Frage, was die Kinder und Jugendlichen am Rechner machen, wenn sie nicht im Internet sind, antworteten 56 Prozent der Mädchen und 51 der Jungen, dass sie für die Schule arbeiten. 50 Prozent der männlichen Jugendlichen gaben an, dass sie sich täglich oder zumindest mehrmals in der Woche auch mit Computerspielen beschäftigen. Für weibliche Nutzerinnen steht dies nach "Texte schreiben" und "Musik zusammenstellen" mit 17 Prozent erst an vierter Stelle.

Befragt nach Themeninteressen, antworten die Jugendlichen geschlechtsunabhängig an erster Stelle mit "Liebe, Freundschaft", gefolgt von Musik, Ausbildung, Beruf und Sport. Erst an fünfter Stelle kommt das Internet, dann Computer und alles, was damit zu tun hat. Irgendwo zwischen "Handy", "Schule" und "Kino", noch hinter den Themen "Gesundheit/Medizin" und in etwa ranggleich mit dem Thema "Umweltschutz", werden Computerspiele genannt.

Insgesamt haben sich also die Interessen der Kinder und Jugendlichen in den letzten Jahren gar nicht so sehr verändert. Sich mit FreundInnen zu treffen und einen regen Austausch zu haben steht immer noch an erster Stelle der Prioritätenliste. Dass dies heute auch neue Medien einschließt wie Handys, Instant-Messenger und Chat ist ein Ausdruck gewachsener Medienkompetenz. Insgesamt ist die Zeit der Computernutzung von Kindern und Jugendlichen immer noch im Steigen begriffen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass eine "Konversion" von Medien stattfindet. Während Fernsehen und Radio zwar noch immer wichtige Informations- und Unterhaltungsquellen sind, wird die Benutzung dieser Geräte aber mehr und mehr durch Computer und das Internet ersetzt. Statt bei MTV werden Clips auf Youtube betrachtet und Lieblingssongs bei den entsprechenden Spartensendern der Internetradios mitgeschnitten.

Aber viele weitere Fragen werden in der Regel überhaupt nicht angesprochen: Was macht kriegerische Computerspiele so attraktiv? Welche Funktionen übernehmen Computerspiele bei Heranwachsenden? Warum steigt die Gewaltkriminalitätsrate bei Jugendlichen, wobei die Kriminalitätsrate von Jugendlichen insgesamt gesunken ist? Wäre Gewaltkriminalität bei Jugendlichen in unserer Gesellschaft geringer, wenn gewaltverherrlichende Computerspiele verboten wären?

Auf all diese Fragen wissen wir keine fundierte Antwort. Das Nachdenken darüber wäre aber wichtiger als vorschnelle Rufe nach Verboten.

"Derzeit laufen Beschlussanträge im Bundestag, die Computerspiele zum 'Kulturgut' erklären wollen. Gelten Gewaltspiele als 'Kunst', kann damit aber der Jugendschutz ausgehebelt werden", heißt es im erwähnten Kölner Aufruf Nein, wieso sollte damit der Jugendschutz ausgehebelt werden? Bücher gelten als Kulturgut, damit wird nicht jedes Buch zur Kunst. Die schöpferische Leistung vieler Computerspiele ist beeindruckend. Schließlich finden sich in Computerspielen viele weitere Kulturgüter wie Schrift, Grafik, Musik usw., die auf neue Art zusammengefügt werden.

Was bei dieser Aussage ebenfalls vergessen wird, ist, dass es gesetzliche Bestimmungen gibt, die Kinder und Jugendliche vor Inhalten schützen sollen, die nicht für sie bestimmt sind. Die polemische Frage sei erlaubt, wer denn über die einzuhaltende Ordnung in Kinder- und Jugendzimmern wacht? Was aber in den "Köpfen und Herzen" der Kinder- und Jugendlichen passiert, scheint oftmals zweitrangig zu sein.

Was in Winnenden passiert ist, ist "unfassbar". Niemand, der nicht zutiefst darüber entsetzt wäre. Schnelle Verbote und polemisierende "Experten", die wir seitdem täglich in der Presse zu lesen und im Fernsehen zu sehen bekommen, nützen unserer Ansicht nach gar nichts. Nicht den Freunden und Angehörigen der Opfer und auch nicht Kindern und Jugendlichen, die sich in einer ähnlich ausweglosen Situation sehen wie der Amokläufer Tim K. Es ist für uns schlicht nicht vorstellbar, dass ein Jugendlicher eine solche Tat begeht, ohne einem enormen psychischen Druck ausgesetzt zu sein. Ein Amoklauf mit Selbsttötung ist unserer Meinung nach immer ein letztes Mittel. Mit "Spielen" hat das nicht zu tun.

Wir haben uns für diesen Artikel, wir geben es zu, viel im Internet "herumgetrieben", auch in der so genannten "Gamer-Szene". Auf www.gefuehlskonserve.de schlägt der User "Deef" aus Pirmasens einen offenen Brief an Medien, Politik und Eltern zur "Killerspiel"-Debatte vor, weil er der Meinung ist, dass Fans von Videospielen kaum zu Wort kämen. Er schreibt: "Den Fans von Videospielen geht es wie vielen anderen, die die Debatte, die in der Folge des Massenmords von Winnenden losgetreten wurde, verfolgen: Sie sind fassungslos und verärgert. Fassungslos hinsichtlich dem Leid, welches ein scheinbar ganz normaler Jugendlicher mit der Pistole seines Vaters angerichtet hat. Verärgert darüber, wie nun versucht wird, diese Wahnsinnstat unter anderem damit zu erklären, dass Videospiele Jugendliche zu Killern machten. Neue Medien gelten als suspekt. Das ist nicht nur bei Videospielen oder dem Internet so, sondern galt früher auch fürs Fernsehen, Film, Micky-Maus-Hefte und Büchern. Angeblich hat schon Goethes 'Die Leiden des jungen Werther' reihenweise junge Männer in den Selbstmord getrieben." Und er formuliert weiter: "Bei genauem Hinsehen werden Sie, verehrte Journalisten, feststellen, dass es eine breite Palette an Psychologen, Medienpädagogen und Erziehungswissenschaftlern gibt, die nicht durch die Talkshows tingelt, keine lauten Verbotsschreie von sich gibt, sondern zur Differenzierung auffordert. Die journalistische Sorgfaltspflicht gebietet Ihnen, ihre Recherche vorurteilsfrei und ergebnisoffen zu gestalten und in Konflikten beide Seiten darzustellen."

Diesen Hinweis, gerade an Journalisten halten, wir für absolut legitim und wichtig, prägen diese doch - auch durch ihr angebliches Wissen - einen großen Teil unserer Wahrnehmung.

Wir sind der Meinung, wer den Unterschied zwischen "World of Warcraft" und "Counterstrike" nicht kennt, wer ein Adventure nicht von einem Ego-Shooter unterscheiden kann, darf sich gerne aufregen, sich jedoch nicht als Experte bezeichnen.

Eine unserer Meinung nach gefährliche Tendenz, die großer Aufmerksamkeit bedarf, ist, dass zur Werbung und Rekrutierung für Kriegsdienste und Kriegseinsätze die Computerspieleindustrie, das Militär, Waffenproduzenten und die Waffenlobby zusammenarbeiten. Das sind Skandale, die leider viel zu selten publiziert werden. Wir kritisieren, wenn Spiele ausschließlich gewaltsame und tradierte geschlechtsspezifische Problemlösungsstrategien anbieten und keine Alternativen zulassen.

Schließen wollen wir mit einem Gedanken, den wir auch irgendwo in einem Spielerforum in den Weiten des Worldwide Web gefunden haben und den wir zutiefst teilen: Heute dürfen 17-Jährige gewisse Spiele nicht spielen, was auch gut so ist. Morgen jedoch, werden sie zum Kriegsdienst gezwungen und müssen lernen, wie man Menschen umbringt. Wie verlogen, böse und zutiefst verabscheuenswürdig ist das denn?


Tina Kemler und Harald Gewehr sind aktiv in der DFG-VK-Gruppe Mainz.


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Quelle:
ZivilCourage Nr. 2 - Mai 2009, S. 20 - 21
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK
Herausgeberin: Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen e.V. (DFG-VK e.V.),
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Erscheinungsweise: zweimonatlich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juni 2009